Der Tod des Autors als Geburt des Editors


von Uwe Wirth

Dieser Aufsatz ist erschienen in: Text und Kritik, Digitale Literatur, Heft 152, Gastredaktion Roberto Simanowski, 2001, S.54-64.

1. Vorspiel

Im Vorwort zu seinem Buch Hypertext: The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology vertritt George P. Landow die These einer wechselseitigen Bereicherung von Literaturtheorie und Hypertext. Die Literaturtheorie verspreche, so Landow, den Hypertext zu theoretisieren und der Hypertext verspreche, bestimmte Aspekte der Literaturtheorie zu verkörpern und dadurch zu testen (vgl. Landow 1997: 3). Die beiden Problemkreise betreffen dabei das nichtlineare, vernetzte Erzählen, das aufgrund seiner Linkstruktur kein Zentrum und keine festen Grenzen mehr kennt, sowie die Rollen und Funktionen von Autor und Leser. Landows vielversprechende These bestimmt bis heute die Debatte um "Literatur im Netz", bzw. um "Netzliteratur" - auch wenn am Neuen Markt der Hypertexttheorie mittlerweile Ernüchterung eingetreten ist. In ihrem Aufsatz "Lost in hypertext" formuliert Simone Winko theoretische Bedenken: Landows Parallelsetzung berge die Gefahr einer unzuverlässigen Verallgemeinerung. Zum einen, da die "für eine genaue Behandlung des Autor-Themas wichtige Unterscheidung von Medium und Medienprodukt" nicht präzise vorgenommen werde; zum anderen, da "Nicht alles, was in einem Medium technisch möglich ist, (...) zu den tatsächlichen Eigenschaften eines Medienproduktes zählen (muß)" (Winko 1999: 517f.). Stephan Porombka geht noch einen Schritt weiter, wenn er in seinem Essay "literatur@netzkultur.de" grundsätzlich in Zweifel zieht, ob die Netzliteratur überhaupt in der Lage sei, die an sie herangetragenen theoriebeladenen Visionen einzulösen. Digitale Literatur wollte "zwar epochemachend sein", habe aber "niemals Epochemachendes vorgelegt" (Porombka 2000: 60). Eine Bestätigung dieser kritischen Sicht findet sich auch von Seiten "der Praxis". In Thomas Hettches Vorwort der Druckfassung des von ihm herausgegebenen Online-Projekts NULL heißt es:

"Die geläufige Annahme, Literatur im WWW werde die technischen Möglichkeiten medialen Crossovers erproben und nichtlineare Gesamtkunstwerke aus Bildern, Texten und Tönen entstehen lassen, übersah, was Leander Scholz bei einer Veranstaltung von NULL so formulierte: unsere Synapsen sind die besseren Hyperlinks. Literatur setzt im Kopf jedes Lesers sowieso all das in Gang, was man meinte, der Technik gutschreiben zu müssen. Insofern verwundert es nicht, daß die meisten Autoren in und für NULL dasselbe taten wie stets: Erzählen" (Hettche 2000: 9).

Dieser skeptische Gestus gegenüber experimentellen Hypertextprojekten hat "programmatischen" Charakter: Scholzens Bemerkung spiegelt, wie Hettche schreibt, "die grundsätzliche Veränderung der Perspektive auf Netz-Literatur" wider (ebd.), sie ist als Zitat im Rahmen des Herausgebervorworts gleichsam die "Selbstrepräsentation des Konzepts", welche das NULL-Projekt verkörpert. Dasselbe wie stets: Erzählen. Obwohl das formale Konzept des NULL-Projektes ja weitaus diffiziler ist, nämlich der Plan eines Aggregats von losen Blättern -Erzählungen, Gedichten, Trouvaillen aller Art -, die im Rahmen eines chronologischen Zettelkastens veröffentlicht werden.

"Zettelkästen speichern Daten, ohne sie unters Regime einer inhaltlichen Ordnung zu bringen, also ohne Zwang zur Systematisierung und Sequentialisierung. (...) was einer Notiz Informationswert verleiht, ist nicht die jeweilige Eintragung, sondern das Verweisungsnetz, in das sie eingefügt ist - also die ´nichtlineare, rekursive, verweisungsreiche Innenstruktur´ des Zettelkastens" (Bolz 1993: 205f.).

Doch nicht nur auf implizitem Wege läßt sich zeigen, daß Hettche nicht frei von Netzphantasien ist. In einer seiner monatlichen Einleitungen, die den während des Jahres 1999 eingegangenen Texten ausgewählter Autoren vorangehen, heißt es, das Netz übersetze unsere "ganze soziale Person und körperliche Existenz in ein Arrangement von Pixeln, Samples und Bits" und werde so "zu unserer Garantie ewigen Lebens, denn mit dieser Übersetzung endet der Unterschied zwischen Original und Kopie". Doch damit nicht genug, denn:

"Der Tod hat sein Recht an uns verloren. Das Netz überführt unsere kontingente Existenz in ein distinktes Faktum wie das Abendmahl Brot und Wein in den göttlichen Körper. Jeder auf dem Counter unserer Homepage registrierte Aufruf des Datensatzes, der wir sind, jedes Ritual von copy and paste geschieht unter der Direktive von Lukas 22,19: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Willkommen bei NULL" (Hettche 2000: 59f.).

Das erinnert - wenn auch unter anderen konnotativen Vorzeichen - an Roland Barthes folgenreiche Netzmetapher, die er in Die Lust am Text entwickelt: der Text als "Gewebe", das "durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge" (Barthes 1986: 94). Barthes Spinnenmetapher ist immer wieder als Programm des Schreibens und Lesens im World Wide Web gedeutet worden, das ja ebenfalls "ständig im Entstehen begriffen" ist und mit Hilfe von Links ein Netz von überpersönlichen Verknüpfungen bildet. Von diesem Bild nimmt nicht nur die Debatte um die "Autorschaft im Netz" ihren Ausgang, sondern auch die um den "Tod des Autors".

Hettches Vision einer digitalen Leibgeberiana als Transsubstantiation des existierenden Leibs in den elektronischen Textkörper ist die Überbietung jener postmodernen Transsubstantiation, welche die "konstruktiven Sekretionen" in subjektzersetzende Verdauungssäfte umwandelt. Die entscheidende Frage bleibt jedoch sowohl bei Hettche als auch bei Barthes offen, nämlich die nach dem Rahmen: Dem Rahmen, in den das Spinnennetz gespannt ist, dem technischen Rahmen, innerhalb dessen sich "das Ritual von copy and paste" vollzieht, dem diskursiven Rahmen, in dem erzählt wird -zusammengefaßt - dem Rahmen, in dem der "Tod des Autors" stattfinden kann.

 

2. Der Tod des Autors und die Geburt des Herausgebers

Folgt man der von Barthes in "La mort de l´auteur" vertretenen These, so ist der metaphorische Tod des Autors die Voraussetzung für die Geburt des Lesers: "la naissance du lecteur doit se payer de la mort de l´Auteur" (Barthes 1984: 67). Die "kohärenzstiftende Funktion des Autors", wie sie ein Jahr später auch Foucault in "Was ist ein Autor?" beschreibt, verliert in dem Maße an Relevanz, in dem der Leser zur einheitsstiftenden Instanz wird: "l´unité d´un texte n´est pas dans son origine, mais dans sa destination" (Barthes 1984: 66). Die einstmals auktoriale Funktion der Einheitsstiftung wandert damit vom Ursprungspunkt, dem Akt der Texterzeugung, zum Zielpunkt, also dem Akt des Lesens. Der Totengräber des Auteur ist jedoch nicht der Lecteur, sondern, der Scripteur. Der "moderne Scriptor" wird nicht mehr, wie der Autor, durch seine Individualität bestimmt, sondern er ist eine überpersönliche "Instanz des Schreibens", die den Text im Vollzug eines "performativen Aktes" hervorbringt. Der Akt des Schreibens ist nicht mehr ein "origineller Akt" des Zeugens, sondern ein zitierendes Zusammenschreiben von Fragmenten. Demgemäß besteht die "Macht des Schriftstellers" lediglich im auswählenden Zerlegen und im arrangierenden Mischen von Textbausteinen - "son seul pouvoir est de mêler les écritures" (Barthes 1984: 65).

Dieser Gedanke begegnet uns - wenn auch in weiterentwickelter Form - in "Signatur Ereignis Kontext", wo Derrida das "zitierende Aufpfropfen" als Rekontextualisierungsbewegung beschreibt, bei der ein Zeichen aus seiner syntagmatischen Verkettung "herausgelöst" und in eine andere Kette "eingeschrieben" wird (Derrida 1976: 136). Die aufpropfende Texterzeugung wiederum findet ihre direkte Entsprechung in den Funktionen "cut" und "paste", bzw. "Ausschneiden" und "Einfügen" unserer Textverarbeitungsprogramme. Auch wenn unter dem Begriff "Text" "kein abgeschlossener Schriftkorpus" mehr zu verstehen ist, wie Derrida in "Überleben" schreibt, "kein mittels eines Buchs oder mittels seiner Ränder eingefaßter Gehalt, sondern ein differentielles Netz, ein Gewebe von Spuren, die endlos auf anderes verweisen (...)" (Derrida 1994: 129), so gilt dennoch: "Damit man Zugang zu einem Text gewinnen kann, muß dieser einen Rand haben" (ebd.). Die Frage nach den Rändern des Textes, die einen Rahmen etablieren, betrifft Vorwort, Nachwort, Titel und Fußnote.

Norbert Bolz weist in Am Ende der Gutenberggalaxis auf den strukturellen Zusammenhang von Fußnote und Hypertext hin. Der Hypertext sei "eine generalisierte Fußnote" heißt es dort, er bilde "ein Netzwerk aus Fußnoten zu Fußnoten". Dieses Netzwerk lasse sich aber, so Bolz, "in Print-Medien nicht mehr sinnvoll darstellen" (Bolz 1993: 222). Diese Grenze der Darstellbarkeit ist die Demarkationslinie zwischen "Literatur im Netz" und "Netzliteratur". Der Link als elektronische Fußnote impliziert zum einen eine nichtlineare Form des Schreibens, zum anderen einen aktiven Leser, der sich bei jedem Link entscheiden muß, ob er dem angebotenen Pfad folgt oder nicht. Die Dynamik von Links läßt sich, darauf hat Jay Bolter (vgl. Bolter 1997: 44f.) hingewiesen, mit jener Form von diskursiver Abschweifung vergleichen, die Sternes "Tristram Shandy" proklamiert:

"(...) die Maschinerie meines Werkes", schreibt Shandy, ist "eine Spezies für sich; es werden zwei entgegengesetzte Bewegungen darin eingeführt und wieder vereinigt, die man für unvereinbar hielt: In einem Wort, mein Werk ist digressiv und progressiv - und das zur gleichen Zeit" (Sterne 1985: 83).

Hypertexte sind ihrem Prinzip nach "radikalisierter Shandyismus". Die digressive Abschweifung ist dabei nicht nur eine Strategie des Autors, sondern kennzeichnet die Grundhaltung des Lesers, der zum "peripathetischen Lesen" aufgefordert ist. Die Digression, verstanden als "diskursiver Spaziergang" ist, wie Derrida betont, eine Form der Dissemination, eine Bewegung der Aufpfropfung, welche die Ränder des Textes etabliert und erweitert: Als Vorwort vor dem Vorwort, als Kommentar des Kommentars - man denke an Swifts A Tale of a Tub, an Rousseaus Vorworte zur Nouvelle Héloise oder an Jean Pauls "Appendix des Appendix".

Doch erst wenn man die Digression auf Bushs Idee eines Memory Extender bezieht, wird sie der Hypertextualität wie wir sie heute kennen vergleichbar. Bushs Memex Archivmaschine sollte in Analogie zum menschlichen Hirn funktionieren, "snapping from one item instantly to the next that is suggested by association of thoughts" (Bush 1975: 34). Das dergestalt entstehende "web of trails" ist ein Netz von Verweisen und Anmerkungen, die der jeweilige Benutzer zwischen den gesammelten und gespeicherten Texten, Bildern und Landkarten herstellen kann. Die Möglichkeit, nicht nur die Daten, sondern auch die individuellen Verknüpfungen zu archivieren, machen den Memory Extender zu einer neuen Form von Enzyklopädie, deren "associative trails" auf den individuellen "trails of interest" ihrer jeweiligen Benutzer basieren: das heißt: selbst die subjektiven Digressionen werden archivierbar. Eben hierin unterscheiden sich Hyperlink und Synapse: die "trails of interest (...) do not fade" (Bush 1975: 35).

Koppelt man Bushs Idee eines assoziativ-digressiven Memory Extender mit Barthes Idee vom Leser als zusammenlesenden Einheitsstifter, so kommt man in Schwierigkeiten, denn die Digression ist als Abschweifung eine Form der Zerstreuung. Zerstreuung aber impliziert Inkohärenz. Die Funktion des Lesers als Einheitsstifter am Zielpunkt gerät damit ins Wanken. Dies liegt zum einen am Begriff der Einheitstiftung selbst, zum anderen aber daran, daß die "mischende Macht" des Schriftstellers bei Barthes, ebenso wie das Herstellen und Archivieren von assoziativen Verknüpfungen bei Bush das lineare Verhältnis von Schreiben und Lesen umkehren. Der Scripteur als Zusammenschreiber muß immer schon Lecteur gewesen sein, um seine Funktion, "de mêler les écritures", ausführen zu können. Die Instanz, welche die Funktion des Scripteur und des Lecteur verbindet, ist der Editeur, der als erster Leser und zweiter Autor das Geschriebene anderer zusammenliest und zusammenschreibt. Dergestalt wird die Frage nach dem Autor in die Frage nach dem Herausgeber und nach dem Herausgeberrahmen transformiert. Damit wird die literaturwissenschaftlich und medientheoretisch hoch relevante Frage nach den Rahmungstechniken und -strategien thematisiert. Das editoriale framing ist mehr als ein paratextuelles Spiel. Es ist ein Verfahren, den Rand - und mit ihm die diskursiven und die technischen Rahmenbedingungen - zu thematisieren.

Unter literaturwissenschaftlichen Vorzeichen betrachtet, leitet sich die editoriale Rahmungstechnik aus der Tradition des Briefromans bzw. der Manuskript- und Archivfiktion her, wobei der Editor die Funktion Autor im Sinne der Adoptivvaterschaft vollzieht. Er ist nicht der natürliche, originäre Erzeuger, sondern nimmt sich eines Findlings an. Im Rahmen dieses jurisitisch-diskursiven Dipositivs gibt der Herausgeber nicht nur das zusammengesammelte Material als Werk heraus, sondern er gibt dem Werk seinen Namen, wie das Vorwort zu Rousseaus Nouvelle Héloise zeigt:

"Wiewohl ich hier bloß des Herausgebers Namen führe, habe ich doch selbst mit an diesem Buch gearbeitet und mache daraus kein Geheimnis. Habe ich es darum ganz verfertigt, und ist der ganze Briefwechsel erdichtet? Weltleute! Was liegt Euch daran? Für Euch ist er gewiß Erdichtung. Jeder rechtschaffene Mann muß sich zu den Büchern, die er herausgibt bekennen. Ich nenne mich also auf dieser Sammlung Titelblatt; nicht, um sie mir anzueignen, sondern um dafür einzustehen" (Rousseau: 1988: 5).

Unter medientheoretischen Vorzeichen zielt die Frage nach dem Herausgeber sowohl auf die technischen Rahmenbedingungen als auch auf die Inszenierungsmöglichkeiten der Funktion Autor. Dies betrifft das Repertoire der zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten, den Akt des Herausgebens auszuführen und aufzuführen. Angefangen mit den Techniken des Druckens und Verlegens von Büchern für das Massenpublikum des 18. Jahrhunderts, bis hin zu den Editingprogrammen für Text und Bild, welche das Herstellen von Hypertexten ermöglichen. Jeder Webmaster ist ein Herausgeber, der das editoriale Recht hat, auf der von ihm verwalteten Homepage korrigierend und arrangierend einzugreifen und dadurch einen editorialen Rahmen zu etablieren. Diese editoriale Rolle fällt auch den Initiatoren von offenen kollaborativen Mitschreibprojekten wie "Beim Bäcker" oder geschlossenen Projekten wie "NULL" zu.

3. Das editoriale Framing im Kontext von Netzliteratur und Hypertextinszenierung

Das Grundproblem des editorialen framings läßt sich anhand des Mitschreibprojekt "Beim Bäcker" auf Claudia Klingers Homepage veranschaulichen. Das Projekt begann 1996 mit einer kurzen Szene von Carola Heine, die in einem Bäckerladen spielt. Eine junge Frau kauft Brot, sie sieht eine Mutter mit ihren drei niedlichen Kindern, dies löst in ihr den Wunsch nach eigenen Kinder aus, da sieht sie einen muskulösen und attraktiv verschwitzten jungen Mann: "Seine Erbanlagen sind sicher ausgezeichnet, bei diesen dichten braunen Haaren und den feurigen dunklen Augen, er wäre eine wahre Investition". Die Beschreibung eines erotischen Moments, wie wir ihn jeden Monat in der Brigitte oder der Cosmo lesen können. Doch wie geht die Geschichte weiter? Zwei Jahre lang "lebte" "Beim Bäcker" - 37 Folgen wurden von 23 AutorInnen geschrieben. Ruft man heute die Homepage von Claudia Klinger auf, so finden sich, bevor man auf die Startseite von "Beim Bäcker" gelangt, die folgenden paratextuellen Zeilen, die zugleich Vor- und Nachwort sind:

"Die Geschichte "Beim Bäcker" ist beendet ? allen Autorinnen und Autoren ein herzliches Danke! Roberto Simanowski hat in seinem netzliterarischen Cyberzine "Dichtung Digital" eine wunderbar ausführliche Rezension geschrieben, die einen guten Schlußpunkt abgibt. 6.5.2000. Claudia Klinger".

Hier kann man den entsprechenden Link zu Simanowskis Seite anklicken, auf der sich neben der Rezension auch ein Interview mit Claudia Klinger über "Beim Bäcker" findet. Untersuchen wir die Rahmungstechnik und "testen" wir - ganz im Sinne Landows - unsere literaturtheoretischen Überlegungen zum "editorialen Framing", so können wir folgendes feststellen:
1. Durch den Satz "Die Geschichte ´Beim Bäcker´ ist beendet" übernimmt Klinger editoriale Rahmungsfunktion. Klinger ist als Administratorin und "Besitzerin" der Homepage in der Rolle der Haus- und Adoptivmutter.
2. Der Verweis auf die Rezension als "guten Schlußpunkt" bzw. auf das Interview zwischen Simanowski und Klinger ist eine editoriale Rahmungsstrategie, wie sie - mit parodistischer Absicht -bereits in Jean Pauls Vorrede zu E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücke in Callots Manier praktiziert wird:

"Diese Vorrede zu dem nachfolgenden Buche, um welche ich ersucht worden, kleid' ich vielleicht mit Vorteil in eine Rezension ein, besonders, da die eigenen Vorreden der Verfasser ordentlicherweise nichts sind, als offene Selberrezensionen" (Jean Paul, in Hoffmann 1963a: 55).

Das Urteil der Rezension etabliert den "Rand des Textes", indem es die rezeptionsästhetische Außenwirkung des Textes als Lektüreerlebnis des Rezensenten an den Anfang stellt. Eine ganz ähnliche Rahmungsstrategie verfolgt übrigens auch Rousseau im "Seconde Préface":

"Hier haben Sie Ihr Manuskript wieder. Ich habe es ganz gelesen", beginnt der berühmte Dialog zwischen N. und R. R.: "Ich will ein ausdrückliches Urteil" - N.: "Das wage ich nicht" (Rousseau 1988: 8).

Während bei Rousseau die Frage im Mittelpunkt steht, ob der Briefwechsel "echt" oder "erdichtet" ist, geht es bei Klinger um die Frage des "echten Endes". Der editoriale Rahmendiskurs wird so zum Ort, die Rahmungstechnik zu reflektieren. In ihrer Antwort auf Simanowskis Rezension vom 15. Februar 2000 schreibt Klinger:

"Ich habe öfter schon daran gedacht, selbst ein Ende zu schreiben - fühlte mich dazu als Moderatorin in der Pflicht. Denn, wie Roberto schreibt:
>Das Ende öffentlich auszurufen, ist die Aufgabe des letzten Autors. Da der Text keinem gehört, kann keiner wirklich diese Aufgabe übernehmen. Kein Autor kann sich 'anmaßen', diesen Text "zu beenden" - bzw. wenn er es täte, wäre der nächste keineswegs in der Pflicht, dieses Ende zu akzeptieren. Und ein Ende, das nicht "echt" ist, bzw. nur eine Meinungsäußerung, ist eben kein Ende.
Also ich, als Moderatorin, weil ich den Text ALS MITSCHREIBPROJEKT arrangiert habe? Zwar schrieb ich weder den ersten noch irgend einen Teil des "Bäcker", doch nach dem zweiten Part gab ich der Sache eine eigene Website - also war ich für das Anlaufen verantwortlich und muß es auch beenden. Dachte ich mir immer, konnte aber nicht, - NICHT ALS AUTORIN. Weil es mich tatsächlich inhaltlich nie gereizt hat, mich auf einen der Texte oder gar mehrere einzulassen (...). Einfach "The End" darunterschreiben, schien mir auch nicht angemessen. Nun befreit mich Roberto aus diesem Dilemma - auf solch eine wundervolle Weise! Ich werde etwas in der Art dieser E-Mail als letzen Part darunter setzen und dann zur Rezension linken". http://www.dichtung-digital.de/2000/Simanowksi/15-Feb/kommentar.htm)

Genau das ist es denn auch, was Klinger am 6.Mai 2000 auf der Startseite zu "Beim Bäcker" tun wird. Dabei scheint mir bemerkenswert zu sein, daß die eigentliche Rahmungstechnik im Setzen eines Links besteht, also in der assoziativen Bezugnahme auf den Lesekommentar Simanowskis, den Klinger ihrerseits in Form einer Email kommentiert. Der Link überbrückt jene Lücke, die das fehlende Ende im Mitschreibprojekt hinterlassen hat.

Das Beispiel des Mitschreibprojektes verdeutlicht einige Konsequenzen, die der Verlust des einheitsstiftenden Buch- und Werkcharakters hat. Der Herausgeber bzw., die Herausgeberin übernimmt die Funktion des ersten "Zusammenlesers" und des "letzten Autors". Hierbei geht es im wesentlichen um die editoriale Macht, das Projekt zu beginnen und zu beenden. Die Kohärenz des Textes wird dabei jedoch nicht mehr als inhaltliche Kohärenz hergestellt, sondern nur noch durch das Etablieren eines formalen Rahmens und dem Setzen von Links auf einen Lesekommentar, wodurch zugleich der vordere und der hintere "äußere Rand" des Textes etabliert wird. Für Winko ist "das Setzen von links eine neue Möglichkeit der Manifestation von Autorintention in Hypertexten" und übernimmt "die Funktion der Kohärenzbildung in linearen Texten" (Winko 1999: 533). Während Winko - vor dem Hintergrund der These von der Rückkehr des Autors - den Schluß einer Verdopplung des Autorbegriffs zieht - einmal der Autor als Verfasser, zum anderen der Autor als Verknüpfer scheint mir die These einer Verdopplung der Herausgeberfunktion weitaus plausibler zu sein. Beim Verfassen von Texten wird der Scripteur erst durch sein eigenes editoriales Framing zum Auteur, wenn nicht sogar die Figur eines fingierten Editeur die Rahmungsfunktion übernimmt. Beim Verknüpfen von Texten durch das Herstellen von Links füllt dagegen ein hypertextueller Editeur die Lücken auf und vollzieht seine Macht zum Mischen, welche die Macht zum Kommentieren mit einschließt, indem er den Befehl zum "Setzen eines Links" gibt: <href ="www.dichtung-digital.de">link<href>.

Während die Webdesignerin Claudia Klinger in ihrem hingelinkten Nachwortkommentar, in erster Linie das Problem der thematischen Inkonsistenz der eingesandten Beiträge bemerkt, weist der Schriftsteller Thomas Hettche im Vorwortkommentar zu NULL insbesondere auf die technischen Apekte seiner Herausgebertätigkeit hin

"Jana Hensel, Herausgeberin der Literaturzeitschrift EDIT, hatte sich bereit erklärt, mit mir gemeinsam die Redaktion von NULL zu übernehmen, was hieß, die Texte, die per Mail ankamen, zu redigieren und in die HTML-Formulare einzusetzen, Links anzubringen und Formatierungen, den Index zu aktualisieren und die ´Sternenkarte´ - das Inhaltsverzeichnis von NULL - immer wieder durch neue Sterne und Sternbilder zu ergänzen" (Hettche 2000: 6).

Neben der Verlinkung als Rahmungsfunktion tritt hier das Format als gleichberechtigter Einheitsstifter auf. Das Einsetzen in HTML-Formulare, das Anbringen von Formatierungen wird zur eigentlichen, rahmenstiftenden Aufgabe des Herausgebers, dessen Tätigkeit nun selber "im Rahmen" bestimmter Editingprogramme stattzufinden hat. Das Editingprogramm mit seinen "Copy and Paste"- und seinen "Suche und Ersetze"-Funktionen ist nun tatsächlich eine überpersönliche Schreib- und Lesemaschine, die Barthes Vision eines "quelqu´un qui tient rassemblées dans un même champ toutes les traces dont est constitué l´écrit" (Barthes 1984: 66f.) wahr macht. Computerprogramme lesen und schreiben, "ohne daß ihnen noch ein Autor-Subjekt zugeordnet werden könnte" (Bolz 1993: 223). Obwohl das Programm ohne einheitsstiftendes Ich funktioniert hat es als "programmierter Rahmen" einheitsstifende Funktion. Der letzte Autor ist der Programmierer. Der Anwender ist dagegen ein Scripteur, dessen Schreibakte unter den technischen Rahmenbedingungen eines editeur automatique stattfinden.

In welchem Maße der Autor unter "Hypertextbedingungen" Programmierer und Editor zu sein hat, läßt sich am Beispiel von Susanne Berkenhegers "Hilfe" veranschaulichen. "Hilfe" ist ein poetisches Projekt, welches das Windowsprinzip und den Browserrahmen zum Darstellungsverfahren einer Hypertext-Performance macht. Beim Aufrufen der Startseite liest man:

"Herzlich willkommen an Bord! Bitte schließen Sie alle Fenster auf Ihrem Monitor -außer dem großen schwarzen im Hintergrund und einem weißen, welches sich gleich öffnen wird. Sonst fallen Sie raus!"

An die Stelle des Vorworts tritt eine Warnmeldung, die sich auf die technischen Rahmenbedingungen bezieht. Nach dem Klicken des "OK" erscheint tatsächlich ein kleiner Browserrahmen, der neben dem Namen Susanne Berkenheger und den Titel "Hilfe" zeigt. Der Titel ist als Link zugleich das Portal zu jenem Hypertext, der, wie es erläuternd heißt, sobald man in die Gegend eines roten Fragezeichens gelangt, das ebenfalls auf dem großen schwarzen Hintergrund erscheint, "kein Ende sucht und keines braucht. Weiter wachsen wird er voraussichtlich ab September 1999 auf meiner Homepage http://www.wargla.de"

Einmal angeklickt, gerät der Bildschirm in Bewegung. Kleine Browserfenster erscheinen, in denen eine Figur namens "Jo" offensichtlich seinen/ihren Job kündigt. Dazwischen, auf der großen "Leinwand", eine kurze Beschreibungen - "Ein Flugzeug blinzelte ... mit den Jalousien" - die darauf schließen lassen, daß man einer Szene in einem Flugzeug beiwohnt. Dieser kleine Prolog endet in einem tableau hypertextuelle, bei dem innerhalb des Browserrahmens fünf kleine schwarze Fenster auf weißem Grund erscheinen, die, sobald sie angeklickt werden, zu farbigen Feldern werden, die kurze Ausrufe mit Link enthalten: "Oh, ein Gipfel", "Und schau, das Meer", "Nichts als Regenwald", etc. Am unteren Rand - in der Fußzeile - befindet sich eine Situationsbeschreibung, die zwischen Kommentar und Regieanweisung changiert:

"die Passagiere hatten Durst. Jo mußte sie bedienen. Das war der Job. "Urlaub, endlich Urlaub", schnaufte ein Dicker, daneben seine Frau: "Wir fliegen über Ozeane, Regenwälder, Gipfelkreuze - und bekommen nichts zu sehen?" (...) Jo sollte Ihnen die Jalousien öffnen, tat's."

Klickt man auf "Gipfel" gerät der Bildschirm erneut in Bewegung: eine JavaScript Application läuft ab. "Die Passagiere warfen Jo aus dem Fenster" und nach dem Aufprall liegt Jo "in eisiger Nacht. In die hinein riefen vier Personen, wie sie hießen: Bin Max, ich Pia, das Ed, hier steht Lea, und wer bist Du?" heißt es in der Fußzeile. Die kleinen Browserfenstern des Flugzeuginnern sind nun mit Namen versehen. Klickt man auf das rote Feld des mit "Max" bezeichneten Fensters, so erscheint im kleinen Fenster die Aufforderung "Hände Hoch!" Die Gedanken, Assoziationen und Digressionen von "Max" liegen außerhalb des Rahmens, und erscheinen in roter Schrift auf schwarzem Hintergrund:

<!... Ist sie reich die Frau, die vom Himmel fiel? Ich seh doch recht, Sie ist ein Mädchen. Hoffentlich Ja. Wenn Sie mir ihr Geld geben würde. Ich erzähle ihr was von Räubern. Fiesen Räubern. Ich werde prächtige Geschäfte machen //>.

Dasselbe geschieht mit den Fenstern "Pia", "Ed" und "Lea", jedes Fenster und damit jede Figur hat ihren Namen im "Tag" und ihre Farbe im Feld. Das Browserprogramm dient nicht mehr nur zum Herstellen hypertextueller Verlinkung. Es ist als "Browserrahmen im Browserrahmen" zunächst ikonische Repräsentation von Flugzeugfenstern und dann eine symbolische Repräsentation der dramatis personae. Der Browser wird als Rahmenprogramm zu einem konstitutiven Bestandteil des editorialen Rahmendiskurses. Das editoriale Framing diskursiver Vorworte ist hier an eine Funktion des Rahmenprogramms übergegangen. Dieser Programm-Editor vollzieht die Transsubstantiation von der Programmebene zur Benutzeroberfläche und verwandelt das trockene Brot der Befehlsfolge "<html> <head> <title> <meta keyword> </head> <body>" in den digitalen Auferstehungsleib eines Netzauftritts. Insofern hält der editeur automatique als Rahmenprogramm die Formeln bereit, mit der die digitale Transsubstantiation in jedem Akt des performativen Editings vollzogen wird.

Die Frage nach dem Autor, die als Frage nach dem Herausgeber reformuliert wurde, ist damit zur Frage nach dem editeur automatique konvertiert worden, der die Rahmenbedingungen des Schreibens vorgibt, welche nur noch durch eine auktoriale Umprogrammierung verändert werden können. Willkommen an Bord!



Literaturhinweise:

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Original-URL: http://www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/wirthautoreditor.htm