Vagabundierede Literatur
Gibt es Internetliteratur? Eine Einführung für Anfänger. Teil 2.


von Dirk Schröder


Die 'private Homepage' und Kunst am Bau

"Aufsteh'n, Frühstück, Fax," tönte es betont zackig und unfreiwillig komisch noch vor ein paar Jahren. Nun ist es vorbei mit dieser Gemütlichkeit.
Das Internet hat gesiegt und Telekomchef Ron Sommer träumt schon von der MultiMediBox im Keller jeder Familie. Online-Shopping und Telearbeitsplatz stehen parat, derweil noch einige Spinner ihrem Exhibitionismus auf privaten Homepages frönen. Die Zeit der jugendlichen Netzspiele ist vorbei, Telecommerce kommt. Online-Volltext-Recherche in jedem Buch? Auch die Verleger freuen sich - kostet Euro einsfünfzig.

Andere reden von Internetliteratur und meinen jeder das seine. Dem kalten Geschäftsnetz Paroli bieten oder dessen Humanisierung durch Kunst am Bau oder das trotzige Bestehen auf Besitzrechten der Gründergeneration.

Dabei ist das Netz voll von Kunst. Was dem einen die Geranien am Balkon, sind dem anderen seine Seiten im Internet. Was aber vor kurzem noch als Kontakt mit Nischenthema, die Star Trek Fans aller Länder vereinigen sich, begonnen hat, ist zur künstlerischen Tätigkeit geronnen. Die private Homepage unterscheidet vor allem eins von den bunten Werbeseiten der Konzerne: sie bilden Netzwerke. Was vorher dem Einzelnen auszudrücken möglich war, etwa indem er zeichnete oder reimte, war stets eng umgrenzt. Nun geht es in die Totale. Mehr als die Erwähnung der Anbetung, etwa von BMW-Motorrädern, ist deren Einbeziehung ins eigene Netzwerk. Zusammen mit Bildern von Hund und Kind, einem Urlaubsfilm, Porno und Infos für Kaninchenzüchter sind es die Links, die anklickbaren Verweise, die eine Seite prägen. Warum nicht Reifen von Pirelli und Autos von VW nebeneinander? Jede Website bildet ein eigenes Subnetz im großen Gewebe. Über das Thema der Seiten kommt man mit Gleichgesinnten ins Gespräch, heckt Gemeinsames aus, bildet neue Projekte und neue Netze. Das hat so vor den Zeiten des Internet nicht stattgefunden. "Die Architektur der virtuellen Realität ausgedacht als ein Zusammenwachsen von Träumen."

Die persönlichen Seiten im Netz werden beinahe selbst zu Personen. Und doch sind sie nur ein Teil des Netzes. eMail, Debatten in Newsgroups, die Nutzung entfernter Computer via Telnet und die weiteren Dienste des Internet werden separat genutzt. Noch trennt die Technik. Aber zunehmend verflüchtigen sich die Themen - wie auch die Menschen hinter den Kommunikaten substanzloser werden. Das Homepagewesen ist zur Breitenkunst geworden, kennt seine eigenen Regeln und beginnt in den Weiten des Netzes zu versickern, nur noch ein Teil der virtuellen Gesamtpersönlichkeit zu werden.

Die Erlebnisumgebung ist dabei stets die Gleiche: der Monitor des Computers, die Tastatur, die Maus, das Mikrofon. Sitzt am anderen Ende der Leitung ein Roboter?

Was bedeutet da eine Literaturhomepage? Was heißt Literatur im Internet? Auf den ersten Blick keine schwere Frage. Was sich drucken lässt, passt auch ins Internet. Dass sich Hobbyschreiber in Newsgroups treffen, Jungautoren ihre Texte in eZines veröffentlichen, gestandene Schriftsteller, wie etwa Joseph von Westfalen mit Netzpublikationen experimentieren, ist nichts Überraschendes. Eine besondere Internetliteratur entsteht dabei allerdings kaum. Auch am Telefon rezitiert werden Sapphos Verse nicht zur Telefonliteratur. Internetliteratur muss mehr sein als per eMail verschickte Gedichte. Oder anderes.

Wie die private Homepage durch ihr Netzwerk bestimmt wird, durch die ihr zugrundeliegende Idee der Collage - und nicht etwa durch ihr Design, dass sich Seite für Seite auch auf Papier realisieren ließe (wobei die Anforderungen des Ausdrucks natürlich andere sind), so ist Netzliteratur - das Internet gilt als DAS Netz - geprägt durch ihre Lebendigkeit im Netz, durch ihre Vernetzung eben, und sie ist in weiten Teilen literarische Collage.

Schreiben im Internet

Ein Gedicht ist auch im Internet leicht als solches zu erkennen. Aber wie liest sich Netzliteratur? Woran kann deren Qualität erkannt werden? Wer gezielt nach Netzliteratur sucht, sieht bald, dass er drei verschiedene Richtungen einschlagen kann.

Spiele

Die erste hat sich längst ausgeklinkt und tritt als (ehemals textbasiertes) Online-Rollenspiel auf. Was vor 20 Jahren noch in dürftigen Heftchen mit Fantasy-Content in den Comicläden lag, die klassische Heldenreise etwa mit Auswahlmöglichkeit ("Nimmst du den Kampf mit dem Drachen auf > weiter auf Seite 72. Fliehst du zu Schiff > weiter auf Seite 102."), ist längst zum globalen Abenteuer- und Begegnungsraum geworden, inklusive der Möglichkeit, die Regeln zu verändern. Eine Sonderstellung nehmen die MUD-Welten ein, von den Teilnehmern oft aufwendig selbst gestaltete virtuelle Abenteuerspielplätze, die ganz ohne Videoanimation auskommen: alles wird in Texten benannt und beschrieben bis hin zur Abschilderung ganzer Gebäudeeinrichtungen. Auch die eigene Rolle, den "character", muss man selbst im Gehalt füllen. Manche MUDs werden von mehreren tausend Mitspielern aus aller Welt besucht, so dass die Textwelten einen beeindruckenden Umfang erreichen können. Um Literatur geht es im MUD erklärterweise nicht.

Hypertext

Die zweite gibt sich ganz als Literatur, vermeidet aber tunlichst das Wörtchen Internet. Das ist die digitale Literatur, die hauptsächlich in Gestalt der Hyperfiction auftritt. Hyperfiction meint mit Hilfe von Hypertext-Autorensystemen erstellte Literatur. Was ist Hypertext? Hierzu ein kleiner historischer Exkurs:

Im Jahre 1945 ersann der amerikanische Ingenieur Vannevar Bush eine Maschine namens Memex. Sie sollte auf Myriaden von Microfiches den Buchbestand der Menschheit enthalten. Auf den Bestand dieser Filmbibliothek - ein Kasten mit in die Deckplatte eingelassenen Vergrößerungsfenstern - sollte nicht nur nach Katalogen zugegriffen werden können, sondern die Dokumente selbst sollten thematisch miteinander verknüpft werden, so dass nach und nach aus der Wissensdatenbank ein einziges Weltdokument würde.

Die Memex ist nie gebaut worden, aber die Ideen aus Bushs Aufsatz "As We May Think", der die assoziative Vernetzung von Informationen analog zur Arbeitsweise des menschlichen Gehirns in eher phantastischer Weise beschrieb, erwiesen sich als tragfähig. Die digitale Speicherung und Bearbeitung von Dokumenten mittels Computeranlagen, die Busch noch nicht zur Verfügung gestanden hatten, ermöglicht tatsächlich das Bilden von Textnetzwerken, die die Grenzen geschlossener Werke aufheben. Einige Jahre nach Bushs Vorstoß beginnt Douglas Englebart mit der Entwicklung des "more general framework", einer Art digitaler Memex, die eine Bearbeitung der enthaltenen Dokumente erlaubt, die Bedienung vereinfacht und eine Verbindung mit anderen Computern zulässt. Eine der nützlichen Erfindungen Englebarts ist heute jedem Computerbenutzer vertraut: die Maus, die den Klick auf Verweise im Monitor erst möglich machte.

Etwa 1965 benutzt Ted Nelson, ein amerikanischer Informatiker, der heute in Japan lebt, zum ersten Mal den Begriff "Hypertext". In jeden beliebigen digitalen Text sollen Hyperlinks eingefügt werden können, anklickbare Verweise, die die verknüpften Dokumente gleich auf den Bildschirm holen. Nelsons stark von Bush beeinflusste Software Xanadu ("Literary Machines") wird erst in den achtziger Jahren realisiert. Aber bereits 1967 schuf Andrew van Dam den ersten Hypertexteditor FRESS, 1968 stellt Douglas Englebart einen weiteren vor. Jedoch erst mit dem HyperCard-Programm von Apple wurde 1987 Hypertext allgemein verfügbar. Über das Hilfetextsystem der Benutzeroberfläche Windows zog er schließlich auch in die PC-Welt ein.

Obwohl der weltweite Datenaustausch über Computernetze bereits von Englebart angedacht worden war, verschmolzen Hypertext und Internet erst im 1989 von Tim Berners-Lee erfunden WorldWideWeb, das seit 1993 'für alle' zugänglich ist. Berners-Lees Idee eines Webs (Gewebe) online editierbarer Hypertextdokumente ist allerdings bis heute nicht verwirklicht. Das WWW ist daher letztlich zwar ein einziger Hypertext, jedoch noch weit vom holistischen Weltdokument entfernt.

Lange vor dem Einzug des Hypertextes ins Internet entstand die erste Hypertextliteratur. Was zur Erstellung interaktiver Lernsoftware ('Toolbook', s.u.) und zur Einbindung klickbarer Fußnoten tauglich war, zog auch schöngeistige Autoren in seinen Bann. Ausgehend vom experimentellen Roman des frühen 20. Jahrhunderts und ähnlich den Zettelkasten-Arbeiten Arno Schmidts ließ sich in Hypertext-Belletristik die lineare Erzählstruktur aufheben. Neben HyperCard kam bald eigens entwickelte Hyperfiction-Software auf den Markt, so die bis heute erhältlichen Programme Toolbook und Storyspace, die, ähnlich der im WWW verwendeten Seitenbeschreibungssprache HTML, die Verknüpfung von Textstellen und Dokumenten erlauben, zugleich aber eine Strukturübersicht des ganzen Werkes bieten.

Die Texte werden aus kleineren, in "Nodes", Knoten, direkt verbundenen Einheiten, 'Lexia', zusammengesetzt, deren Reihenfolge der Leser in Grenzen selbst bestimmt. Dabei entstehen zwei verschiedene Arten literarischer Texte.

Zum einen rotierbare Montagen, wie etwa Raymond Queneaus "Hunderttausend Milliarden Gedichte", ein aus zehn Sonetten bestehendes Werk, in dem jede Alexandriner-Zeile gegen eine beliebige andere, an gleicher Stelle stehende, ausgetauscht werden kann, zum anderen die sogenannte Treefiction, entlang einer Baumstruktur angelegte Erzählungen, in denen der Leser selbst den Fortgang der Geschichte auswählen kann, indem er fortwährend Entscheidungen trifft - "Kehrt Tim ins Waisenhaus zurück / oder / folgt er den beiden Fremden?" Der Autor weiß, dass seine Leser keine Reihenfolge vorfinden und gestaltet den klickbaren Erlebnisraum, durch den die Lesereise gehen darf, letztlich nicht unähnlich den digitalen Fantasy-Rollenspielen.

Eines der bekanntesten Beispiele ist "Afternoon, a story" von Michael Joyce aus dem Jahr 1987, das wie viele andere nahe am Montage- oder Metaroman bleibt. Heute findet man einiges an Hyperfiction im WWW, vieles aber wird nur auf CD vertrieben, teils der Datenmenge wegen, teils damit der Autor zu seinem Honorar kommt.

Hyperfiction ist also vor allem digitale Literatur, die auch - aber nicht nur - über das Internet verbreitet werden kann - und damit nicht eigentlich Internetliteratur. Mit dem Zusammenwachsen von Hypertext und Internet hat die über eine bereits ansehnliche Tradition verfügende Hyperfiction allerdings gute Chancen, sich in Richtung echter Internetliteratur zu entwickeln.

Webfiction

Der dritte Weg führt zur sogenannten Webfiction, der Erzählkunst des WWW, über deren Wesen bislang keine Einigkeit herrscht. Diese soll nun die wahre Internetliteratur werden. Dabei fällt zweierlei auf: zum einen die Beschränkung auf die Mittel des Webs, zum anderen die Virtualität dieser Gattung.

Die WWW-Orientierung liegt nahe. eMail z.B. scheint nicht viel mehr zu leisten als die schnelle Datenübertragung, während das WWW die Einbindung von Bildern, Tönen und kleinen Programmen gestattet. Auch entstammen viele der in Sachen deutscher Webfiction Engagierten der Homepageszene - während es mit amerikanischen Hyperfiction-Kreisen kaum zu Berührungen kommt (was aber aus dem Hochmut deutscher 'Kulturschaffender' gegenüber den amerikanischen 'Lohnschreibern' resultieren kann).

Schwerer wiegt, dass sich überzeugende Webfiction bis heute kaum finden lässt. Dies liegt zwar auch am Blick des Suchenden, der nur erkennen kann, was er schon kennt, als Kunst etwa ausmacht, was auch außerhalb des Netzes anerkannt ist, vor allem aber in der Versuchung, entweder die Literatur oder das Netzige preiszugeben. Quell dieser Versuchung ist künstlerisch die Flüchtigkeit der Netzereignisse und handwerklich das Wuchern der Werkzeuge.

Interfiction

Würden wir statt von Internetliteratur gleich von Datenfernübertragungs- oder Telekommunikations-Literatur sprechen - manches wäre klarer. Gerade die Stärke des Internet, Menschen über alle Grenzen hinweg jederzeit verbinden zu können, täuscht darüber, dass es Ideen eben nicht dauerhaft verbindet. Die Kraft der Montage wohnt im Augenblick des Zusammenpralls - auch wenn das Ergebnis für Äonen aufbewahrt werden könnte. Künstlerisch gibt das Netz das Happening - nicht das dauerhafte Werk. Der Organisator des Internet-Literaturwettbewerbs von ZEIT und IBM, hiervon später mehr, Michael Charlier, fasste diese Bedingung in den Begriff "KommuniAktion" - leicht wird daraus "Kommuni-Aktionskunst." Auch die bisher wichtigsten Schriften des Netzkünstlers und Theoretikers Heiko Idensen, die aus medienkritischer Perspektive eine Verbindung von Hyperfiction und kollaborativen Schreibverfahren postulieren, weisen in diese Richtung. Der Titel des katalogähnlichen Essays "Die Poesie soll von allen gemacht werden" hat es bereits zum Schlagwort gebracht. Idensen propagiert aber gerade das Happening nicht, sondern eher eine durchaus mit der Potenz zur Dauer versehene interdisziplinäre und offene Kunst.

Jürgen Fauth, Herausgeber des Online Literaturmagazins "Der brennende Busch" weist hingegen den telekommunikativen Aspekt des Literaturtreibens im Netz als konstituierend zurück: "Netz-Literatur ist vor allem Literatur, und Marshall McLuhan zum Trotz ist das Medium manchmal nur das Medium, und die Message bleibt dieselbe. Geschichten erzählen jedenfalls kann man beim Bier, in Büchern, am Telefon und jetzt eben auch am Computer. Das ist gar nicht so furchtbar revolutionär, wie viele glauben." Hier schwingt allerdings die Sorge um die Qualität einer Literatur mit, die sich im Durchexerzieren neuer Kommunikationstechniken erschöpft. Schon Walter Benjamin hatte ja gewarnt: "Inhalt und Form sind im Kunstwerk eins: Gehalt. - In Dokumenten herrscht durchaus der Stoff."

Multimedia

Der Idee des künstlerischen Gesamtdokuments stehen die Bestrebungen vieler Netzautoren gegenüber, das eindeutig identifizierbare Werk zu erhalten, auch wenn sich dieses permanent verändern und weiterentwickeln sollte. So zum Beispiel der Künstler Reinhard Döhl, der nicht nur den Teilerhalt geschlossener Werke propagiert, sondern - eine Seltenheit - hierzu überzeugende Belege schafft. Er tritt für die auch bei Idensen anklingende Verbindung der Künste zu einer neuen und eigenständigen Kunst elektronischer Medien ein, dies jedoch eher vom Rezeptionserlebnis als vom Kunstakt her gedacht: "Daß in Zukunft das Internet zunehmend auch Verbindungsmöglichkeiten von Text, Bild und Ton in immer komplexerer Form ermöglicht, ist für uns nur eine Frage der Zeit, wie wir überzeugt sind, daß das künstlerische Experimentieren mit und zu den Spielregeln und -möglichkeiten des Internets zu einer neuen ästhetischen Kultur führen könnte, die die Ästhetik des Films, des Radios, des Fernsehens fortschreiben wird: oral culture - print culture - electronic culture - internet culture."

Deutlich tritt bei Döhl die Aufhebung der Literatur im digitalen Gesamtkunstwerk in den Vordergrund: "Diese Forderung einer unpersönlichen Poesie, dieser Prospekt eines infolge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schaffenden sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft formulieren - so meine erste These - zentrale ästhetische Vorgaben für die Künste des 20. Jahrhunderts, die sich - so meine zweite These und mein Thema - durch eine Tendenz zum Dialog der Künstler und Künste, zu einer dialogischen Kunst auszeichnen." Die Frage, inwiefern der Dialog der Künstler über das einzelne Werk hinaus Kunst qualitativ verändert, eine der zentralen Fragen des Netzliteraturdiskurses, bleibt bei Döhl merkwürdig offen - obwohl er bemüht ist, in diese Richtung zu argumentieren: "Der Schritt von einer derart dialogischen zu einer kollektiven Kunst, d.h. zu gemeinsam erarbeiteten Kunstwerken ist nicht sehr groß und wird kurze Zeit später von den Dadaisten vollzogen in der Tradition experimentellen automatischen Schreibens."

Während einerseits die Techniken der Hyperfiction um die Verfahren des Creative Writing mit dem Ziel vernetzten Schreibens und Lesens erweitert werden - oft mit dem Ziel der Aufhebung dieser Autor-Leser-Differenz (Interfiction) -, bietet das Montagemedium WWW auf der anderen Seite die multimediale Verschmelzung der Kunstformen an. Dies geschieht mehr oder weniger zwangsläufig unter dem Druck des Machbaren. Die "Nur-Text"-Seite im Netz wird schon heute oft als langweilig empfunden. Das interdisziplinäre Webkunstwerk kann nicht mehr von einem Autoren allein geschaffen werden. Dichter, Programmierer, Musiker und Designer erstellen im Team aufwendige Kompositionen, die keineswegs danach trachten, etwa als Literatur erkannt zu werden. Dieser Ansatz führt sowohl über rein typographische Verfahren als auch über die Setzkastenspiele des Barock weit hinaus. Die Trennung von Künstlern und Rezipienten bleibt hier jedoch erhalten - während die Gedankenabenteuer der Literatur der audiovisuellen Impression weichen. Oft lassen sich diese Werke "offline", ohne Internetzugang, genießen und z.B. auf CD vertreiben.

und mehr

Auch 'herkömmliche' Arbeiten der Visuellen Poesie oder des Maschinentextes finden sich im WWW - ebenso wie kollaborative Schreibprojekte, die auf den Einsatz von Hypertext im Textinneren verzichten, so das von Jan Ulrich Hasecke initiierte "Generationenprojekt", das Erinnerungen von Schriftstellern zu jedem Jahr seit Kriegsende sammelt. Oder Mischformen, die sich oft selbst gar nicht als Internetliteratur, sondern gleich als Webart verstehen, so. z.B. Olia Lialinas "My boyfriend came back from the war", worin beinahe eine Geschichte erzählt wird, hauptsächlich aber eine im Zerfall in immer mehr Frames sich auflösende Bildschirmfläche sich in einen (Bild-, nur zufällig auch: Wort­) Raum verwandelt. Am Ende bleiben die leeren Rahmen und ein Link zur Emailadresse der Künstlerin - die Botschaft des Homepagers schlechthin.

Ein klar umgrenztes Bild liefert der Begriff Internetliteratur somit nicht, zumal sich im Buchregal noch ganz anderes unter dem Titel Internetliteratur findet: in Erzählungen, Gedichten und Romanen werden Erfahrungen des "virtual life" verarbeitet - also die Loslösung von "real life"-Alltagskontakten zugunsten der Zufallsbegegnung in Chatkanälen, der Beteiligung an den Diskussionsforen des Usenet und die Gruppenbildung in den verschiedenen Homepageszenen. Wer sich Tag für Tag mit unbekannten und wesentlich körperlosen Menschen auseinandersetzt, flirtet oder streitet, während der Gebührenzähler der Telekom tickt, erzählt aus einer Welt, die nicht nur vielen anderen gänzlich unvertraut ist, sondern die vor wenigen Jahren noch gar nicht existierte. Und noch eine Überlegung: das späte 19. Jahrhundert bescherte uns eine Flut von Briefromanen, die vor allem ein strategisches Problem der Erzählperspektive entspannten. Auch hier ist ein Anknüpfen mit den Erfahrungen der eMail und Newsgroup-Kommunikation denkbar, mit einer größeren Zahl von Protagonisten und stark beschleunigtem Erzähltempo.

Der Internet-Literaturwettbewerb

Als 1996 die Wochenzeitung DIE ZEIT und der Computerriese IBM zum ersten Mal einen Internet-Literaturwettbewerb ausschrieben, begann die Suche nach der echten Netzliteratur. Zuerst zaghaft: die Jury 1996 kokettierte noch mit Ahnungslosigkeit in Sachen EDV und setzte auf Kriterien, die zwar Experimentelles ausdrücklich begrüßten, doch letztlich am Gewohnten hingen. 1997 fand der Wettbewerb ein zweites Mal statt und wollte sich näher am Webtypischen halten. Aus technischen Gründen ('um die Beiträge vor den Unzulänglichkeiten des Netzes zu schützen') blieben aber externe Vernetzungen und kommunikative Elemente weiterhin ausgeschlossen. Die nachfolgende Diskussion zeigte, dass sich die mit hohen Erwartungen befrachteten innovativen netzliterarischen Werke nicht finden ließen. In der bereits 1996 gegründeten Mailingliste 'Netzliteratur' wurde der Unterschied zwischen Multimedia, Hyperfiction oder bloß internetpublizierter Literatur und tatsächlicher, eben internetspezifischer, Literatur schließlich so scharf herausgearbeitet, dass außer der nicht räumlich, sondern zeitlich begrenzten Aktion wenig übrig blieb.

Außer dem Wettbewerb selbst: der scheint an sich Internetliteratur. Das Gesamtereignis nebst allen Disputen und Festen gibt den Stoff für einen spannenden Roman, den man nicht aufschreiben kann, der aber längst (kollaborativ) aufgeschrieben, vertont und bebildert worden ist, doch nie in Druck gehen kann.

Keiner hat gewonnen. "Zu sehr schienen ihr" (der Jury) "die technischen Mittel noch über die Textqualität zu dominieren."

Noch einmal: kein Konsens

Ist Internetliteratur technische Literatur? Soweit sie ihr Selbstverständnis aus den im Augenblick verfügbaren Ressourcen bezieht, bestimmt. Dann ist sie auch ohne Zukunft, denn die rasante Entwicklung der Informationskanäle wird das heutige Internet schon bald durch anderes, besseres ersetzen, das dann wiederum seine eigenen Künste hervorbrächte. Näher kommt man ihr, wenn man das Internet nicht als Sammelsurium informationstechnologischer Instrumente begreift, sondern als Symptom und Vehikel eines Wandels - dem hätte sich auch die Literatur zu stellen. Der telekommunikativen Herausforderung, dem Ecce Internet, ist künstlerisch ohnehin wenig abzugewinnen. "Schöpfungsfähigkeit ist stets relativ, und heute, ..., kann eine produktive Aktion nur auf die Entwicklung menschlicher Zivilisation bezogen werden, und nur im Hinblick auf die Herausarbeitung der Idee und des Seins des Menschen kann die progressive technische Realität sinnvoll genannt werden" schrieben Max Bense und Elisabeth Walther 1963 in einer Kurzvorstellung ihrer Zeitschrift 'Augenblick'.

Und Netzliteratur als Widerstand? Vielleicht. Aber kaum als politische Opposition. Trotz aller Innovation ist das Internet der herrschenden konservativen Ideologie fest verbunden. Weder gilt es, eine bewährte Ordnung zu bewahren, noch eine verhasste umzustürzen. Bedroht aber ist - auch das steht dem Anschein entgegen, dem Versprechen der unendlichen Freiheit von Information und Begegnung - das Erleben der eigenen Identität; bedroht ist die Muße und damit die Besinnung, wenn durch das Netz die etablierten Schranken zwischen Arbeit und Privatleben, zwischen Öffentlichkeit und Intimsphäre angegriffen werden. Das Internet zielt auf eine Revolution des Alltags, nicht der Künste. Morgen erwartet uns nicht der magische Roman am Draht, sondern der Telearbeitsplatz und das interaktive Fernsehen. Darin gibt es keinen Freiraum für Spielerisches, das Spiel ist längst Ware geworden, aber die Chance zu einer vielleicht rettenden Kreativität, der alles zum Stoff wird, wenn auch nichts zum Wert. "Ob Hypertexte den Beginn einer postmodernen / postsymbolischen kulturellen Praxis einleiten oder lediglich einen Gebrauch produktiver Bilder und Texte als neue Form des Warenaustauschs (interaktive Werbung etc.), hängt nicht von den Geräten, nicht von revolutionärer Software oder experimentierenden Medienkünstlern ab, sondern von den Schaltplänen sozialer, kultureller, technologischer und mentaler Produktionsweisen. Hyper-Text-Operationen als ästhetisches Handeln mit verknüpfbaren Ideen-Objekten - als Projektionen einer kollektiv arbeitenden und frei zirkulierenden Einbildungskraft, die auch soziale Gestaltungen vornimmt: Alles kann mit allem verbunden werden!"

Und kaum sind die Diskussionen um den Internet-Literaturwettbewerb zur Ruhe gekommen, startet schon der 'New York University Press Prize for Hyperfiction'.

Underground-Literatur ist das alles jedenfalls nicht.

 

Teil 3.

dirk schröder, konstanz 1998
Original für IMPRESSUM, Essen.