Vagabundierede Literatur
Teil. 3 - digitales Schreiben und die Jagd auf den Leser


von Dirk Schröder

    Multimedia bedeutet für den Autor auch eine viel stärkere Rücksichtnahme auf den Konsumenten. Ich kann ihn nicht wie ein Kind an die Hand nehmen und durch die Geschichte schleifen. Ich muss ihn schon beim Schreiben ständig mitdenken, wie würde er sich verhalten, wie empfinden. Vielleicht klickt er etwas ganz anderes an, als ich gedacht habe...
    Ingolf Bannemann

Das Gespräch in den Drähten

1.
In einer Innenmauer des Gefängnisses befindet sich ein kleines Loch. Die Gefangenen in den Zellen links und rechts davon sind stumm und können diese Gelegenheit zum Gespräch nicht nutzen. Aber sie besitzen Papier und Stift. Sie unterhalten sich mittels kleiner Briefe, sprechen nicht, schreiben. Noch nie haben sie sich gesehen. Da es zudem aufwendig ist, die Zettel durch das Loch zu schieben, fassen sie sich kurz.

    Das entspricht in etwa der typischen Emailkommunikation - bei drei Abweichungen:

  • Die Emailkorrespondenten müssen nicht kommunizieren
  • Sie dürfen ihre Zelle verlassen
  • Es können mehr als zwei Personen teilnehmen

Wer sich so unterhält, wird den Buchstaben nicht als Ebenbild eines Lautes verstehen. Die Schriftsprache ist die einzige Sprache. Der Zwang zur Kürze und die Unmöglichkeit der körperlichen Begegnung tun ein Übriges: neue Zeichen werden eingeführt, die umfangreichere Ausführungen ersetzen, andere, die körpersprachliche Signale substituieren :-), Abkürzungen häufen sich und die Atmosphäre des Gesprächs stempelt Orthographie und Grammatik zur Marginalie (ein Tadel wäre lächerlich).

Wer so liest, liest auch anderes so: die Aushänge der Gefängnisleitung womöglich. Oder die Werbeseiten der Online-Buchhandlungen. Die Aushänge immerhin sollte man lesen.

2.

Geschrieben wird mit dem Computer. Das ist normal - schon längst haben Mac oder PC die Schreibmaschine des Schriftstellers verdrängt. Wer fragt, ob die Schreibmaschine die Literatur verändert hat, sollte sich an einen Korrekturleser wenden. Wurden 'Manuskripte' zu Anfang noch wieder und wieder abgetippt, so setzte sich bald Tipp-Ex als universelles Korrekturmittel durch - bis schließlich der Tippfehler einfach stehen bleiben durfte. Der Computer brachte das Vertrauen in die Allmacht automatischer Rechtschreibprüfung und das Ende jeglicher Zweitniederschrift. Wir sind damit in eine Praxis des 'spontanen Schreibens' eingetreten, der jeder Satz ein Textbaustein ist und per se vollendet. Die Sätze, Absätze, Kapitel werden anhand von Bauplänen in 'Gliederungsansichten' zu Werken zusammengefügt, deren Dauer die des Leseaktes nur noch selten übersteigt - keineswegs im Herzen, vielmehr in einer Maschine, deren Regeln ein in soweit taugliches Abbild unserer Welt liefern, wie sie diese selbst prägen.

Im Internet kommt weiteres hinzu:

Gebrauchsanleitungen und Rauschen. Gerade der große Vorteil des Internet, die Verbindung beliebiger Rechnerplattformen, erzwingt eine permanente Nebenkommunikation über Kompatiblitäts- und Übertragungsfragen - das ist auf der Ebene der Maschinen so und findet sich in den übermittelten Texten wieder. Das Rauschen besteht hier keineswegs aus redundanter Information schlechthin, vielmehr aus für den einzelnen Benutzer redundanter Information - was für den Postmeister wichtig ist, ist dem Empfänger völlig egal.

3.

Wer in die Welt des Internet eintaucht um zu bleiben, dessen Sprache verändert sich. Nicht allein seine Sprache: zugleich die Erzählweisen, die Rhetorik des Schreibens usw.

Literatur für Netizens

1.

In 'Was ist Internet-Literatur' schreibt Claudia Klinger: "Internetliteratur ist von und für Netizens geschrieben, bzw. computiert, also von und für Leute, die die spezifischen Formen des Cyber-Life wahrnehmen und thematisieren, bzw. zum Ausdruck bringen."

Das heißt: wer für das Internet schreibt, schreibt schon in der Sprache des Internet. Das heißt auch: Kritik und Literaturwissenschaften haben kaum einen Zugang zu Internet-Literatur, es sei denn sie werden von "Bewohnern" des Netzes betrieben. Die Sekundanten scheitern schon an der Technik, wie etwa im häufigen Missverständnis von HTML als Programmiersprache - was zu einer gänzlich unbrauchbaren Auffassung digitalen Schreibens verführt. Die Autoren scheitern am zu homogenen Publikum. Vielleicht haben sie gar kein Publikum?

2.

Böswillig könnte man sagen: wenn die Verdrängung des zigfach neu geschriebenen Manuskripts durch reißbrettartige Textmontagen mit literarischer Qualität zu tun hat, dann sollte der Leser für den eingesparten Aufwand der Autoren durch anderes entschädigt werden. Wenn der Techno-Nebentext nervt, dann muss er fruchtbar gemacht werden.

Wir kennen hierzu zwei Wege:

den Hypertext, der kraft seiner Klick-&-Pull-Struktur die Linearität der Lektüre in dem Maße aufhebt, in dem die Linearität des Schreibens bereits aufgehoben ist und der den Leser zur Ko-Autorenschaft zwingt, indem der sich den Text eigenhändig zusammenstellt. - 'Das Publikum wird selbst zum Autor' - so ähnlich lauteten die Schlachtrufe. Es ging darum, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Der Leser ist schuld.

Und die multimediale Erweiterung des Textes, sei es in der Weise der visuellen Poesie, sei es in der des Comics.

Wo eines nicht zureicht, darf problemlos beides zugleich eingesetzt werden. Dazu kommen die Möglichkeiten texterzeugender Software, die die Bausteine vor den Augen des Lesers kombiniert, womöglich nach eigenem Gutdünken (random text generator).

Der Beifall des Publikums bleibt aus. Weder kann das Herumklicken in Texthalden wirklich befriedigen, noch erreichen die Animationsmätzchen der Literaten das Niveau eines gewöhnlichen Videospiels.

Auch reine Maschinentexte sind nur gelegentlich witzig, nach einigen Hundert tritt spätestens die verdiente Ermüdung ein. Heute werden selbst traditionsreiche Spielformen der Poesie ins Off befördert, etwa die Anagramme, denen jedweder Reiz abhanden kommt, seit sie von Dutzenden von Robots ausgespuckt werden.

Der literarische Marktplatz

1.

Das alles lässt sich mit einem Schuss eklektizistischem Überbau noch für die Seminare retten - dem Autor digitaler Literatur stellen sich andere Aufgaben. Primär die, den Leser - überhaupt einen - zu gewinnen. Die Sehnsucht nach Beachtung stellt ihre eigenen Spielregeln auf, denen die Texte, oft unreflektiert, zunehmend gehorchen. Schreibverfahren und Ausdrucksweisen entstehen, die sich eher in eine Rhetorik, denn in eine Poetik des Netzschreibens fügen und darin zwar keine Ideale aufzeigen, dafür die Bedingungen offenlegen.

2.

Die Konkurrenz der Texte wird besonders in den Creative Writing-Newsgroups deutlich. Die Beiträge werden hier für einige Zeit zur öffentlichen Kritik ausgestellt - teilweise mehrere Dutzend pro Tag. Die Leser wählen nach Sympathie für den Autor, Gattung, Textumfang und Titel. Hierbei werden merklich Prosa-Postings bekannter Absender, die ca. 40 - 60 Textzeilen nicht übersteigen, und Kommentar-Postings, deren Titel auf das Newsgroupgeschehen selbst verweisen, bevorzugt. Die größte Chance gelesen zu werden hat also die zehnzeilige Publikumsbeschimpfung eines 'alten Hasen'.

Ähnlich sieht es in den nichtöffentlichen Mailinglisten aus - mit dem Unterschied, dass hier Mails von Neulingen interessierter aufgenommen werden.

Gelegentlich bricht in diesen Foren ein sogenannter Flame-War aus, eine Art verbaler Krieg, bei dem beide Seiten Anhänger finden, die ihren Streit unterstützen und weiterführen. Solche Flame-Wars verschrecken weniger Besucher als sie gewinnen. Wie im Alltagsleben erringt schmutzige Wäsche mehr Aufmerksamkeit als Eiapopeia.

Sex & Crime hingegen ziehen im Netz kaum. Die Allgegenwart der einschlägigen Anbieter drückt jede Neugier auf Pornographisches gen Null, während Kriminalgeschichten häufig keine Zeit haben, sich zu entfalten und wirkliche Spannung zu erzeugen. Zudem schmökert man im Internet quasi im öffentlichen Raum. Alle Verbindungsdaten werden gespeichert und der Polizei verfügbar gehalten. Während sich ein Buch mit wohligem Schauder im dunklen Kämmerlein genießen lässt, droht dem Internetnutzer ein ganz realer Besuch bewaffneter Ordnungshüter.

3.

In Mailinglisten und Newsgroups werden aufgrund des hohen Publikationstempos (wer schneller tippt, kommt öfter zu Wort) selten vorsätzliche Strategien zur Herstellung von Aufmerksamkeit eingesetzt - anders im WWW: Webseiten werden vielfach mit großem Aufwand gestaltet und dienen nicht selten kommerziellen Zwecken. Doch gewerbliche wie literarische Webangebote beschränken sich in der Regel auf die stets gleichen Verfahren der Popularitätssteigerung: ansprechendes Design, Versprechen von Gratisdownloads, Eintrag in möglichst viele Suchmaschinen, Bewerbung in Emails, Newsgroups und Gästebüchern anderer Websites. 'Populär' zu schreiben lehnen die meisten deutschsprachigen Onlineautoren ebenso ab, wie ihre Kollegen in der Buchwelt.

Die bunte Welt des World Wide Web

1.

Die Sprache des WWW ist SGML (Standard Generalized Markup Language), eine Seitenbeschreibungs-Metasprache, die bestimmt, wie Strukturen sowie Inhalte digitaler Dokumente definiert werden. Dies geschieht mit XML (Extensible Markup Language) oder der älteren und verbreiteteren HTML (Hypertext Markup Language). Die Aufgabe dieser Seitenbeschreibungssprachen ähnelt entfernt den Formatvorlagen der Textverarbeitungssoftware. Sie ermöglichen, Texte zu formatieren, zu hierarchisieren, beliebige Objekte einzubinden und Verweise auf weitere Seiten oder ausführbare Programme einzufügen. Im Unterschied zu XML gestattet es HTML nicht, eigene Dokumentauszeichnungen zu entwickeln, das Repertoire steht fest. HTML-Seiten werden keinesfalls programmiert, sie werden gestaltet - und zwar mit einfachsten Mitteln. Weder Typographie noch die meisten anderen bekannten DTP-Techniken sind möglich. Erst die Erweiterung DHTML, die in der Praxis bislang keinen browserübergreifenden Standard bietet, verspricht mehr.

2.

De facto legt HTML heute noch fest, welche Gestaltungsmöglichkeiten den Webautoren offen stehen. Die sind trotz allem verführerisch. Wer im WWW Belletristik publizieren will, merkt schnell, dass hier Grafiken oder Klänge mühelos hinzuzufügen wären. Sofort verfällt man der Idee, eine Beschränkung auf die Schriftsprache könne nie und nimmer webangemessen sein. Wozu? In Büchern lassen sich Bilder abdrucken, Bühnentexte ließen sich singen usw. - ohne dass dies allenthalben genutzt würde ('In der Beschränkung...'). Zudem bestraft das Netz den Seitenbauer sofort, der zuviel Animation einsetzt, sei es, weil die Browsersoftware der Besucher zu den eingesetzten Formaten nicht kompatibel ist, sei es, weil die durch Grafiken oder gar Videos verursachten Ladezeiten dazu führen, dass niemand die tollen Bilder je sieht. Manche 'Webmaster' schließen einen Teil der 'Surfer' sogar absichtlich aus, wie z.B. beim Cyberzine "Verstärker", das in die HTML-Dateien Fehler eingebaut hat, die von Netscape-Browsern toleriert werden, in Microsofts Internet-Explorern jedoch für leere Seiten sorgen. (Es herrscht zwischen einigen fanatischen Nutzern bestimmter Software eine Art 'heiliger Krieg.')

3.

In den ersten Jahren des WWW haben viele Künstler versucht, alles, was die Browserwelt an Mitteln bietet, auszuschöpfen. Statt respektvoller Annäherung blühte der Hightech-Overkill, der nicht bloß zu Lasten des Gehalts ging, sondern sich obendrein rasch erschöpfte. Fast täglich kommen fabrikneue multimediale Verfahren hinzu, so dass außer für Fortbildung keine Zeit mehr bleibt.

Nach Mitteln sucht die Literatur allemal. Aber nicht Schreibmaschine und Griffel sind die Mittel der Literatur, sondern narrative Techniken. Webautoren texten keineswegs mit Mitteln des Web, bloß unter dessen Bedingungen - (sie müssen die Bedienungsanleitung der Schreibmaschine verstehen) -, sie schreiben im Web, weil das ihr Erlebnisraum ist, sie schreiben fürs Web, weil es dort rezipiert wird - ja sogar der Leser muss nun eine Bedienungsanleitung verstehen.

Welche Gefahren von der Verführungskraft der "Mittel des Internet" ausgehen, zeigt die Entwicklung des Internet-Literaturwettbewerbs von ZEIT und IBM. Um neue, bisher unbekannte Weisen des Umgangs mit HTML nicht von vornherein auszuschließen, wurde zur dritten Ausschreibung in diesem Jahr das Wörtchen Literatur nebst jeglichem Konzept gleich vollständig gestrichen. Ein besonders krasses Beispiel, da gerade die eindeutige Literatur-Ausrichtung dieser für die deutsche Netzliteraturszene in den letzten Jahren zentralen Veranstaltung, insbesondere die dem 'Klicki-Bunti' tapfer entgegenstehenden Juryentscheidungen der 'Gärung eine Richtung' zu geben vermocht hatten.

4.

Zwar werden dem Web seit einiger Zeit kommunikative Techniken wie Chat-Kanäle und Online-Foren (WWW-Boards) eingepflanzt - seinem Wesen nach bleibt es im Vergleich zu anderen Internetdiensten ein 'totes Medium', ein Ort der Plakate. So wird die eingangs erwähnte Ko-Autorenschaft des Lesers eher überschätzt Eine Textauswahl, die jeder sich aus Schnipseln selbst zusammenstellt, erscheint durchaus immer wieder anders, von Interaktivität zu reden geht indes zu weit. Die Lesesituation gleicht eher einer Straßenbahnfahrt, während der man diverse Werbebotschaften am Wegesrand entziffert oder ignoriert. Die Wahl, als Detektiv den Spuren der Verweise zu folgen oder als Dandy zwischen den Splittern zu flanieren, stellt sich dem Leser überhaupt nicht - Sinn stiften könnte er überall.

Lebendigkeit gewinnt ein Webauftritt daraus, dass er für eine Person steht, die Maske eines Individuums gibt. Das vorprogrammierte Scheitern reiner Produktwerbung erklärt sich aus diesem Zusammenhang. So interagieren Websites untereinander wie Schauspieler ohne Regie - sie verhalten sich zueinander - und was sich nicht verhält, existiert nicht. Wie im Usenet sind über Webseiten ausgetragene Flame-Wars stets eine Attraktion.

Die Mittel der Webkunst sind nicht Software und Seitendesign, es sind Zitat und Montage. Claudia Klinger beispielsweise montiert Auszüge aus Netzdokumenten, die das Eindringen der Kompatiblitätsdiskurse in den Geist des Gesprächs aufweisen, Olia Lialina arbeitet mit den 'Bildern im Kopf' und setzt diese Klischee gewordenen Zitate in befremdlicher Weise gegeneinander.

Hyper und Text

1.

"Hypertext als Utopie ... des Lesens: unterstützt die Lektüre als aktive Tätigkeit des Aufnehmens, Vernetzens, Markierens, Speicherns19." Einerseits. Andererseits bleibt die Frage nach dem Lesegenuss. Der Sachtext weiß durch seinen Nutzwert zu überzeugen; ihm steht die gewinnende Gliederung bei, die Verfahren sind bekannt. Online-Fiction wird nicht zur Lektüre erworben, sie wird immer bloß getestet. Sie ist Kunstwerk und Werbetext in eigener Sache zugleich, ihre Präsentation ist Verpackung - der Leser packt aus.

Das Hypertextwerk erscheint als 3D-Figur und bleibt doch die radikalste Verwirklichung zweidimensionalen Schreibens - der Computer-Monitor als Schreib- und Leseoberfläche. Ein Schachtel, darin eine oder mehrere weitere Schachteln, darin ... Der Text bleibt außen, die Embleme kehren nicht als Waren wieder, sie wiederholen sich, verweisen aufeinander, potenzieren die Erwartung und lösen sie wieder auf.

Die Konzeption des Textnetzes ist nur ein Aspekt, der andere ist das Schreiben selbst. Es steht unter dem Diktat des Marketing, nicht anders als die Erzählung am Lagerfeuer.

2.

Viele der einfachen Wahrheiten über den lesefreundlichen Umgang mit Hypertexten lehrte das erste allgemein verbreitete Hypertext-Autorensystem, Apples HyperCard, - häufig durch technische Unzulänglichkeiten. z.B. war es mit dem frühen Hypercard nicht möglich, Seiten zu erstellen, die größer waren als der sichtbare Bereich des Monitors. HyperCard-erfahrene Webautoren texten anders als die, die mit HTML begonnen haben. Bei beiden stehen Fragen der Verknüpfungsstruktur im Mittelpunkt der Textentwürfe - welche Textbausteine werden wo und wie angelinkt. Den HTML-Autoren fehlt dabei jedoch manchmal das Basiswissen um die Textgestaltung. Das fällt zuerst amerikanischen PR-Strategen und Werbeagenturen auf.

Tritt fest auf, mach's Maul auf, hör bald auf.

1.

Jakob Nielsen erklärt in seiner Webkolumne 'Alertbox' eine der Spielregeln, sie mag als Beispiel genügen.
"How Users Read on the Web - They don't.
Die Leute lesen Webseiten selten Wort für Wort, stattdessen 'scannen' sie die Seite, picken sich hier und da ein einzelnes Wort oder einen Satz heraus...

Daraus lässt sich schließen, dass Webseiten 'scannable text' benutzen sollten, d.h.:

  • hervorgehobene Schlüsselworte
  • anschauliche Zwischentitel
  • Listen mit Aufzählungszeichen
  • nicht mehr als eine Idee pro Absatz
  • Argumentationsfolge in Form einer umgekehrten Pyramide
  • mindestens halbierter Textumfang"

'scannable text' ist ein alter Hut - das Lutherwort sagt es schon, die Bildzeitung führt es täglich vor, ein Werbeplakat, an dem man vorüberradelt, wenn es gut gemacht ist, ebenfalls. Dass das Web kein Ort für lange Texte ist, ist eine Binsenweisheit - eine falsche. Lediglich die einzelne Seite muss überschaubar gehalten werden, schier ohne Ende können weitere hinzugefügt werden.

Jan Ulrich Hasecke wies darauf hin, dass 'scannable text' hier als informationstheoretischer und nicht als ästhetischer oder literarischer Begriff auftritt. Das ist richtig, er trifft nicht den Aufriss der Werke, sondern die Bedingungen ihrer Publikation.

Die Lage ähnelt der der Fernsehfilmproduzenten, die sich auf Werbeunterbrechungen einrichten müssen. Alle paar Minuten ein Schnitt, den das Zuschauerinteresse überdauern muss. Der Leser von Online-Fictions entscheidet nicht nur nach jeder Webseite, wohin er jetzt klickt, sondern auch, ob er das überhaupt tut.

2.

Beinahe alle erfolgreichen Werke der gegenwärtigen Webliteratur halten solche Regeln ein, mehr oder weniger, haben ihre Schreibe den Lesegewohnheiten der Internetsurfer angepasst. Erfolgreich heißt hier: gelesen. Sogar Mark Amerikas Mammutprojekt Grammatron bietet meist nur ein paar Sätze pro Bildschirm und verzweigt jeweils von der Wirkung zur Ursache.

Wie sieht das praktisch aus? Eine kleine Bearbeitung nach Hartmut Schmökels Übersetzung des Gilgamesch-Epos:

Original:

Der Jäger hörte auf des Vaters Rat,
Zu Gilgamesch macht' er sich auf den Weg
Und hielt erst an, als er in Uruk war.
Dort eilte er zu Gilgamesch und sprach:
"Ein Mann ist von den Bergen hergekommen,
Der Mächtigste im Lande, voller Kraft,
Und Anus Feste gleichet seine Stärke!
Beständig streift er durch das Berggefild,
Gleich den Gazellen nährt er sich von Gras,
Und stetig trägt sein Fuß ihn hin zur Tränke!
Ich wagte nicht, vor Furcht, mich ihm zu nahen.
Die Gruben, die ich aushob, warf er zu,
Die Netze, die ich stellte, riss er weg,
Das Wild der Steppe ließ er mir entfliehn
Und hindert mich am Jagen im Gefild!"

Dem Jäger gab zur Antwort Gilgamesch:
"Geh Jäger, hol dir eine Tempeldirne!
Wenn er das Wildgetier zur Tränke führt,
Soll sie sich ausziehn und sich nackt ihm bieten.
Erblickt er sie, so wird er sich ihr nahn.
Von da an aber wird das Wildgetier,
Das in der Steppe aufwuchs, vor ihm fliehn.

Da ging der Jäger mit der Tempeldirne
...

'scannable text'

Anklickbare Verweise (Links) sind jeweils unterstrichen, Hervorhebungen fett.

 

    Der Jäger eilt zu Gilgamesch und spricht: <zur Vorgeschichte>

  • Ein Mann kam aus den Bergen, mächtiger als Du
  • Verbrüdert mit den Tieren <zur Vorgeschichte 1>
  • Behindert er die Jagd <zur Vorgeschichte 2>

    Und Gilgamesch entschied <zur Fortsetzung A>

Fortsetzung A

    Und Gilgamesch entschied

  • Geh Jäger, hol dir eine Tempeldirne! <zu externer Information>
  • Wenn er das Wildgetier zur Tränke führt,
    Soll sie sich ausziehn und sich nackt ihm bieten. <zur Fortsetzung B>

Fortsetzung B

    Erblickt er sie, so wird er sich ihr nahn.

  • Von da an aber wird das Wildgetier,
    Das in der Steppe aufwuchs, vor ihm fliehn.<zur Vorgeschichte>

Da ging der Jäger mit der Tempeldirne < zur Fortsetzung>

Das Zwölftafelwerk erzählt bereits knapp, präzise und kräftig - und ist damit für eine Übertragung in 'Bildschirmtext' hervorragend geeignet. Die gerade zu Anfang des Werkes häufigen wörtlichen Wiederholungen sind als verwandtes Stilmittel gleichermaßen in der Webaufbereitung einsetzbar (s. Fortsetzung A).

3.

Die hypertextuelle Poetik des einzelnen Werkes konstituiert, welche Möglichkeiten dem Leser eingeräumt werden, das Ganze zu überblicken. Denkbar sind der Einstieg über ein umfassendes Inhaltsverzeichnis (Sitemap), das freie Navigieren im Text (durchaus dem Erforschen fremder Kontinente vergleichbar), ein streng hierarchischer Aufbau (mit oder ohne Verzweigungen nach Art der Treefiction) und/oder die Vorgabe eines einzigen Weges durch den somit wieder linearen Text, wie in den sogenannten Refresh-Texten.

4.

Überlegungen wie die zum 'scannable text' stoßen auf starke Vorbehalte, etwa den Vorwurf populistischen Schreibens. Aber das Buhlen um Aufmerksamkeit degradiert nicht alle Kunst zum Kunsthandwerk. Im Gegenteil: "Man könnte Kunst auf diese Weise definieren. Ihr Zweck besteht genau darin, Aufmerksamkeit herzustellen. Das ist alles, was notwendig ist, wenn etwas Kunst sein will. Schönheit oder moralische Belehrungen sind nicht erforderlich, wohl aber erfolgreiche Strategien zur Gewinnung der Aufmerksamkeit."

Sie legen andererseits ein Anknüpfen an etablierten Ausdrucksweisen nahe: "Internetliteratur ist lyrischer Natur ... wegen der notwendigen Kürze... Literatur im Internet muss also dicht sein."

Da capo, Exkurs und Schluss

1.

Es ist eine aufregende Entdeckung, dass das ganze Netzleben vielleicht ausschließlich in dem grauen Kasten neben mir stattfindet - nur: was soll ich dem denn erzählen? Auch Eliza wird mit der Zeit langweilig.

2.

Literatur im Internet hat nichts mit Datentechnik zu schaffen. Sie entsteht nicht im Computer, sie entsteht im Kopf, in der Erfahrung, in der Begegnung. Sie wird nicht von Maschinen gelesen. Sie wird nicht von Maschinen geschrieben - jedenfalls nicht 'als Literatur.'

3.

Das Internet ist ganz einfach und es ist jetzt. Es gibt Literatur im Internet und es gibt Literatur, die speziell fürs Internet geschrieben wurde. Doch nicht alle digitale Literatur hat mit dem Internet zu tun, mancher Tradition umfasst schon Jahrzehnte. Etliche Autoren schreiben fürs Web und für den Druck. Eine wechselseitige Beeinflussung ist absehbar. Doch "es wird auch in Zukunft so sein, dass nur ein kleiner Teil der Leute, die sich "Literaten" nennen, Dinge von Bestand herstellen kann; genauso wie es Bücher gibt, die niemand liest, wird es WWW-Seiten geben, die keiner anschauen mag."

Die Suche nach der Internetliteratur ist beendet. Das Wort ist untauglich. Den ganzen Umfang des zudem rasant wachsenden Internet in einem Begriff dem der Literatur zur Seite zu stellen, trägt nicht. Unmöglich, mehr als einen ersten Überblick zu geben - das wäre, als wolle man 'auf Schreibmaschinen getippte Literatur' zusammenfassend behandeln. Was bleibt, ist Beispiele zu geben für das, was wirklich existiert - eine aufregende Aufgabe, da doch der Leser nur vorfindet, was er sich ausgesucht hat. Folgt.

 

dirk schröder, konstanz 1998
Original für IMPRESSUM, Essen.