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        Multitasking als Avantgarde oder wer ist 
        der Prozessor? 
     
        
      
      von Johannes Auer 
         
         
         
        Ich frage: wieviel Fenster können auf dem Screen gleichzeitig geöffnet 
        und betrachtet werden bevor die Komposition zu bloßem visuellem 
        Rauschen wird? 
        Lev Manovich sagt: 6 erscheint mir eine gute Zahl.  
         
        Ich öffne das erste, darin Reinhard Döhls "Buch Gertrud". 
        Ich öffne das zweite darin Sylvia Eggers "Piep-Show". Ich 
        öffne das dritte darin Martina Kieningers "Der Schrank. Die 
        Schranke". Ich öffne das vierte, darin Beat Suters "cyberfiction.ch". 
        Ich öffne das fünfte darin Oliver Gassners "tango RGB". 
        Das sechste ist schon geöffnet und leer. 6 scheint eine gute Zahl, 
        sagt Manovich. Gut, sage ich und warte. Gut, sage ich und schaue. Ich 
        sehe das erste. Ich sehe das zweite. Ich sehe das dritte...  
         
        Manovich sagt: Sich überlappende Fenster bilden das Schlüsselelement 
        aller Schnittstellen zwischen Mensch und Computer. Die avantgardistische 
        Strategie der Collage und Montage gehört heute zu den grundlegendsten 
        Operationen im Umgang mit Computerdaten. Die dynamischen Fenster, Pull-down-Menus 
        und HTML-Tabellen erlauben es dem Nutzer, auf einer räumlich begrenzten 
        Bildoberfläche mit einer nahezu unbegrenzten Menge an Daten und Information 
        gleichzeitig zu arbeiten.  
         
        Ich sage nichts und warte. Ich sehe sie nicht und warte. Ich sehe sie 
        nicht und frage: 
        Wo bleibt sie? Wo bleibt meine Collage/Montage?. Ich sehe Sylvia neben 
        Martina, Gertrud neben Tango und Beat neben dem Schrank. Ich sehe nicht 
        Martina mit Gertrud und Tango als Peep-Show und Oliver im Leeren. Ich 
        sehe nicht Schranken in Cyberfiction und Beat in RGB. Ich höre nur 
        "6 ist eine gute Zahl" und zähle weiter eins nach dem anderen. 
         
         
        Lass uns von Multitasking sprechen, sagt Lev. Multitasking ist Collage 
        binär. Software ist Avantgarde. Software ist die programmierte Form 
        der alten avantgardistischen Strategien. Ich sage, ich sehe nur eins nach 
        dem anderen. Ich sage: wer das Collage/Montage nennen will, mag das tun, 
        ich nenne es eins nach dem anderen. 
        Ich suche nach avantgardistischen Strategien.  
         
        Orientierung 1: 
        Multitasking bedeutet, daß mehrere Programme gleichzeitig ausgeführt 
        werden können. Da Rechner in der Regel nur eine CPU haben, werden 
        den Prozessen alternierend Zeitscheiben zugeordnet, auf denen sie das 
        ganze System zur Verfügung haben.  
         
        Orientierung 2: 
        Multitasking ist für das menschliche Gehirn nicht ohne weiteres möglich, 
        wenn damit gemeint ist, dass zwei oder mehr Aufgaben gleichzeitig mit 
        gleicher Aufmerksamkeit und Leistung bewältigt werden, sagt die Forschung. 
        Nur durch Abwechseln der Aufmerksamkeitsfenster in kurzen Zeitabständen 
        könnte ein relativ gleichwertiges Multitasking auch für kognitiv 
        bewusste Abläufe möglich sein.  
         
        Na also sage ich, Computer wie Mensch: eins wie das andere. Eins nach 
        dem anderen. 6 ist eine zu große Zahl, 2 ist eine zu große 
        Zahl. Keine Collage/Montage, eins nach dem anderen, jedes einzeln: Reinhard 
        nach Tango, Cyberfiction nach Piep-Show, Martina nach dem Leeren. 
        Ich suche die Avantgarde.  
         
        Orientierung 3: 
        Avantgarde sind all jene künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, 
        die als Vorhut' in allen Gattungen und diese tendenziell überwindend 
        einen unwiderruflichen Bruch mit der überkommenen Kunst proklamieren 
        und eine radikal neue Kunst zu schaffen suchen, teilweise auch, um damit 
        eine neue Kunst-Leben-Relation mit Auswirkungen für den Alltag zu 
        stiften.  
         
        Orientierung 4 
        Avantgarde ist ein Prozess, der alles vorausgehende und alles parallel-andere 
        negiert. Wäre Multitasking also Avantgarde, würde der aktuell 
        vom Prozessor bearbeitete Prozess, alle anderen Prozesse löschen. 
         
         
        Na prima sage ich. Nicht eins nach dem anderen, sondern eins statt dem 
        anderen. RGB übermalt Sylvia, Gertrud stellt den Tango ab, das Leere 
        löscht Oliver und Beat zerhaut den Schrank. Nein, nein sage ich, 
        so geht das nicht. Ich sehe sie. Ich sehe die Fenster. Ich sehe das erste. 
        Ich sehe das zweite. Ich sehe cyberfiction.ch und daneben die Piep-Show. 
        Ich sehe den Tango und im nächsten das Leere. Ich zähle eins 
        bis sechs, ich zähle nacheinander. Wer das Löschen nennen will, 
        mag das tun. Ich nenne es weiter "eins nach dem anderen". Eins 
        bis sechs. 
        Ich zähle auf die Avantgarde.  
         
        Orientierung 5 
        Internetkunst reaktiviert alte Avantgardekonzepte. 
        Im Netz erblüht das Konzept als Konzept der Avantgarde und auch die 
        soziale Plastik erlebt in Spielzeugkriegen eine Maximalrenaissance, wird 
        sogar als Metapher für das Netzes propagiert. Überhaupt scheint 
        das Internet gar keine Zukunftstechnologie zu sein, sondern eine Zeitmaschine 
        in die Vergangenheit. Die goldenen 20er im letzten Jahrtausend nicht erlebt, 
        '68 verpennt? Kaum summt das Modem, schon ist der Bildschirmvisionär 
        bar jeder Postmoderne, ist utopisch, jung und zielgerichtet und möchte 
        demonstrativ die ganze Welt zu ihrem Besten vergewaltigen.  
         
        Orientierung 6 
        Multitasking als Avantgarde ist keine Collage/Montage. Entscheidend ist 
        nicht, dass scheinbar parallele Prozesse gleichzeitig wahrgenommen, collagiert/montiert 
        werden. Entscheidend ist, dass jeder Prozeß in seinen Zeitfenster 
        absolut abläuft, alles beansprucht, alles andere ausschließt. 
        Er will das ganze System, die volle Prozessorkraft, ist total, solange 
        es seine Zeit ist. Berechnet der Prozessor das nächste Fenster, stellt 
        er sich tot, fällt in Starre, rührt sich nicht. Bis seine Zeit 
        erneut kommt. Dann ist er wieder alles.  
         
        Na also, sage ich. Ich verstehe, sage ich. Multitasking ist nicht Avantgarde 
        als Montage/Collage. Multitasking ist ein Fenster nach dem anderen. Und 
        eins total nach dem anderen ist Avantgarde. Eins nach dem anderen ist 
        alles. Ist eins on focus sind die anderen on blur. Seh' ich Oliver im 
        Fenster, ist alles RGB. Seh' ich Reinhard, wird alles Gertrud. Seh' ich 
        Martina, ist alles Schrank. Beat wird völlig Cyberfiction und leer 
        ist total leer.  
         
        Ich sage: eins total nach dem anderen ist Avantgarde. Ich sage: alle sind 
        gleichzeitig auf dem Screen. Ich sage: alle sind gleichzeitig auf dem 
        Screen und eins total nach dem anderen ist Avantgarde. Wer das Collage/Montage 
        nennen will mag das tun, ich nenne es: alle sind gleichzeitig auf dem 
        Screen und eins total nach dem anderen ist Avantgarde. Ich nenne es Multitasking 
        als Avantgarde.  
         
        Lev sagt: 6 ist eine gute Zahl. Lev sagt: Sechs ist Avantgarde.  
         
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        Verbrauchte Quellen:  
         
        Lev Manovich: Generation Flash. 
        http://www.manovich.net/DOCS/generation_flash.doc 
         
         
        Lev Manovich: Avant-garde as Software 
        http://www.manovich.net/docs/avantgarde_as_software.doc 
         
         
        Heiko Idensen: Die Sprache der neuen Medien lesen und schreiben? 
        http://www.netzliteratur.net/idensen/idensen_manovich.htm 
         
         
        Florian Rötzer: Mythos Multitasking? 
        http://www.heise.de/tp/deutsch/special/auf/9188/1.html 
         
         
        Eigenschaften - Multitasking 
        http://helpdesk.rus.uni-stuttgart.de/~rusheron/unix/eigenschaften/multitasking.html 
         
         
        Achim Geisenhanslüke: Geschichte und Theorie der Avantgarde 
        http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/geisenha.html 
         
         
        Johannes Auer: 7 Thesen zur Netzliteratur 
        http://www.netzliteratur.net/thesen.htm 
         
         
        Sylvia Egger interviewt Johannes Auer 
        perspektive 
        - hefte fuer zeitgenoessische literatur, No. 43/44, 2002  
         
         
        Die Fenster 
        (in der Reihenfolge ihres Öffnens)  
         
        Das Leere  
         
        Reinhard Doehl: Das Buch Gertrud 
        http://auer.netzliteratur.net/gertrud/gertrud.htm 
         
         
        Sylvia Egger: Piep-Show 
        http://www.serner.de/piep/start.html 
         
         
        Martina Kieninger: Der Schrank. Die Schranke 
        http://www.textgalerie.de/mk/schrank/s1.htm 
         
         
        Beat Suter: cyberfiction.ch 
        http://www.cyberfiction.ch 
         
         
        Oliver Gassner: tango rgb 
        http://www.oliver-gassner.de/textratouren/tango/index.html 
         
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