Die Sprache der neuen Medien lesen und schreiben?

oder Fragmente einer ‘Language of NO MEDIA’.
Oder was Sie schon immer über neue Medien wissen wollten und wagen sollten, Lev Manovich zu fragen …

von Heiko Idensen


Im Klappentetxt angekündigt als «die erste systematische und rigorose Theorie der Neuen Medien», in Auszügen innnerhalb der Entstehungszeit in den letzten sieben Jahren in etlichen Mailinglist-Postings vorveröffentlicht und diskutiert, auf Kongressen vorgetragen, in Artikeln, Katalogen und Sammelbänden abgedruckt, liegt es seit Ende letzten Jahres zwischen zwei Buchdeckel gepresst vor, begeistert aufgenommen von den Organen der Netzkultur und den Netzbewohnern: amerikanische Rezensenten scheuen sich nicht, vom «dialektischen Materialismus der immaterialistischen Generation» zu schwärmen und es als ein praktisch-theoretisches Handbuch zu empfehlen – vergleichbhar mit der Mao Bibel … . Im deutschsprachigen Raum läuft die Rezeption etwas verspätet an, hier wittert man gleich ein eßbares Gesamtdatenwerk:

«… eine erste Gesamttheorie der digitalen Medien, in die man an vielen Stellen seine Zähne senken kann, um saftige Brocken zu extrahieren und sich und der eigenen Theoriebildung einzuverleiben. Dieses Buch ist ein toller Steinbruch, aus dem sich alle, die sich mit der Ästhetik der digitalen Medien beschäftigen, Bausteine und gute Ideen für weiterführende Gedankengänge holen können …» [1] (Tilman Baumgärtel in telepolis)

Warum lohnt es sich, Lev Manovichs Buch 'The Language of New Media' in der gedruckten Buchversion zu lesen? Überhaupt zu lesen? Ein Buch über die ‘Sprache neuer Medien’?



Rezensiertes Werk: Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge, Massachussetts and London, England: MIT Press 2001.



Prolog: Statt Schreiben und Lesen: «information behavior»

Wenn man das Buch nicht kaufen will, könnte man sich stattdessen den Gesamttext des Buches aus dem Internet downloaden, dazu frühere Versionen und auch Entwürfe für gerade in Arbeit befindliche Artikel und Bücher, updates, visuelles Material …. [2]

Auch diese Rezension ließe sich leicht aus dieser Fülle von im Netz verfügbaren Materialien zusammenbasteln, ohne das Buch überhaupt gelesen haben zu müssen, oder noch besser: jeder Leser könnte seine eigene Version zusammenschreiben …

Will man eine mediengerechte Rezeptionsweise praktizieren und sein eigenes «Informations-Verhalten» [3] dem Gegenstand gemäß verändern:

«Like other concepts of information society such as software, data, and interface, the concept of information behavior can be applied beyond specific information activities of the present, such as our usage of a Palm Pilot, Google or a metro system. It can be extended into a cultural sphere and also projected into the past. For instance, we may think about information behaviors used in reading literature, visiting a museum, surfing TV, or choosing which tracks to download from Napster.»

So könnte es angesagt sein, sich Dziga Vertovs «Mann mit der Kamera» aus dem Jahre 1929 zu besorgen und diesen Film im Hintergrund laufen zu lassen, während man parallel dazu im Netz surft. Stills aus diesem Film schmücken den Prolog «Vertov’s Dataset» [4], der einen visuellen Index zu den wichtigsten Ideen und Themen des Buches darstellt und – zusammen mit dem Schlußkapitel zum digitalen Film – als zentrale thematische Klammer die Kinotheorie medienadäquat als Text-Bild-Essay in Szene setzt.

Die Leserin hätte sich dann zumindest schon einmal eine ideale Rezeptionsumgebung geschaffen, die sich in einer Koexistenz verschiedener Medienströme und Informationsfenster abspielt. Ein solches Multitasking verschiedener Prozesse habe (und jetzt lese ich Manovichs Buch aus …) die noch im 20. Jahrhundert vorherrschende ästhetische Technik der Montage, mittels derer der Zusammenprall verschiedener Realitäten als Schock verarbeitet wird, abgelöst zugunsten einer Kopräsenz verschiedener Realitäten, Realitätsebenen, Interfaces, Programmfenster, in denen eben gerade verschiedene Medientracks erst einmal darauf warten, überhaupt wahrgenommen zu werden:

Es würde also nichts nützen, das Buch zu totalisieren, oder es gar für ein priviligiertes Fenster / Interface für Theorie – insbesonders für Medientheorie zu halten.

Indem wir Manovichs Buch aufschlagen, öffnen wir Fenster in Fenstern, durchqueren wir verschiedene Schichten historischer Medien-, Interface- und Software-Entwicklung.

Der visuelle Index verweist gleichzeitig auf die Medialität des Buch-Körpers und sucht ihn gleichzeitig zu überschreiten:

«Wie aber steht es um die Unbeweglichkeit des Körpers in der Virtuellen Realität, die sie mit der Tradition des Bildschirms verbindet? […]. Überall um uns können wir jetzt die Zeichen einer wachsenden Mobilität und einer Miniaturisierung der Kommunikationsmittel beobachten – Mobiltelefone und Modems, Drucker und Laptops. Vielleicht wird das VR-System eines Tages auf einen Chip reduziert, der in die Retina implantiert und mit dem Netz durch einen drahtlosen Sender verknüpft ist. Von diesem Augenblick werden wir unser Gefängnis mit uns herumtragen - nicht um glücklich Repräsentationen mit Wahrnehmung wie im Kino zu verwechseln, sondern um stets erreichbar, stets verbunden, stets "eingestöpselt" zu sein. Die Retina und der Bildschirm werden miteinander verschmelzen. Dieses futuristische Szenario wird vielleicht niemals Wirklichkeit werden. Gegenwärtig leben wir ganz deutlich in einer Gesellschaft des Bildschirms. Die Bildschirme sind überall: die Bildschirme in den Agenturen der Fluglinien, die der Angestellten, die Daten eingeben, die der Sekretäre, Ingenieure, Ärzte, Piloten etc.; die Bildschirme der ATM-Maschinen, der Supermarktkassen, der Instrumentenanzeigen in den Autos, der Computer. Auch wenn der Bildschirm dynamisch und interaktiv ist sowie in Echtzeit darstellt, bleibt er doch noch immer ein Bildschirm. Interaktivität, Simulation und Telepräsenz - wie seit Jahrhunderten schauen wir noch immer auf eine flache, rechteckige Oberfläche, die sich im Raum unseres Körpers und Handelns als ein Fenster in einen anderen Raum befindet. In welches Zeitalter wir auch immer eintreten werden, so haben wir doch das Zeitalter des Bildschirms noch nicht verlassen.» [5]


Avantgarde als Software?

Also: trotz aller medialen Emergenz: hinter den Textfenstern des Buches läuft immer auch ein Film, spielen sich Suchläufe in Google ab … können wir die Sprache der neuen Medien überhaupt lesen?

Als Hauptdrehmoment in der Herausarbeitung kunsthistorischer Begründungen der im Buch entfalteten Idee einer «Avantgarde als Software» [6] fungieren immer wieder Beispiele aus avantgardistischer Filmkunst (Eisenstein, Greenaway, Godard, Rybcynski) – ohne dabei allerdings oberflächlichen Analogiebildungen und Metaphern visueller Kulturtechniken zu verfallen.

«So gehört etwa die avantgardistische Strategie der Collage als ’Cut and paste’, Ausschneiden und Einfügen, heute zu den grundlegendsten Operationen im Umgang mit Computerdaten. [...] Die dynamischen Fenster, Pull-down-Menus und HTML-Tabellen erlauben es dem Nutzer, auf einer räumlich begrenzten Bildoberfläche mit einer nahezu unbegrenzten Menge an Daten und Information gleichzeitig zu arbeiten. Diese Strategie wurde bereits 1926 von Lissitzky eingesetzt, der in seinem Ausstellungsdesign für die internationale Kunstausstellung in Dresden bewegliche Rahmen verwendete.» [7]

In einer radikalen Schnitttechnik gelingt es Manovich, diese avantgardistischen Teckniken, mühelos auf die Operationen auf den Oberflächen der Hypermedien zu übertragen:

«Durch die Einführung der Computer-Software ist es heute nicht mehr notwendig, den Erstellungsprozeß eines beliebigen Medienobjektes immer wieder bei Null zu beginnen. Die Computerkultur bietet eine sehr effizientere Methode: Hier werden Medienobjekte im allgemeinen aus bereits erstellten Elementen kreiert, etwa aus Icons, Texturen, Videoclips, 3D-Modellen, ganzen Animationssequenzen, gebrauchsfertigen virtuellen Zeichen, Javascript-Code-Elementen oder Director-Lingo-Scripts.

Die wildesten atomistischen Phantasien von Kandinski, Rodtschenko, Lissitzky, Eisenstein und anderen 'Atomisten’ der zwanziger Jahre werden wahr, wenn Computerbenutzer beispielsweise mit einer Webseite interagieren, durch einen virtuellen Raum navigieren oder ein digitales Bild untersuchen.» [8]

Totalitäre Interaktion?

Bei der Entwicklung einer Poetik der Navigation etwa werden im weiteren Verlauf des Buches dann auch Computerspiele, interaktive Installationen, CD-Roms, Software-Interfaces, Websites, VR-Environments etc. explizit untersucht.

Die spannenden Ausführungen zur Logik von Datenbanken [9] bieten ein theoretisches Gegengewicht zu anwendungsorientierten Okkupationen von Multi- und Hypermedia als reines Design von Benutzerschnittstellen an:

In Lev Manovichs Posting in Rhizome «On Totalitarian Interactivity» [10], 1996 werden ideologiekritisch Unterschiede markiert zwischen einer ‘östlichen’ Sichtweise (Interaktivität als Form totalitärer Manipulation) und der bekannten ‘westlichen’ Überschätzung interaktiver Operationen (als Vehikel zur allgemeinen Durchsetzung von Gleichheit und Demokratie).

Erzählungen werden abgelöst durch Verzeichnisse, Indexierungen und Netzwerke von Verweisen, die jetzt die neuen kulturellen Formen bilden. In der Sprache der neuen Medien werden Geschichten nicht mehr auf herkömmliche Art und Weise erzählt: es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine Dramatisierungen und linearen Sequenzialisierungen – Hypernarrationen stellen lediglich Sammlungen einzelner disparater Elemente dar … Die Arbeit von Medienkünstlern und Designern bestehe nun darin, verschiedene Interfaces zu Datenbanken zu konstruieren – die Rezeptionsarbeit der User dagegen darin, ‘transversale Durchquerungen durch ebensolche Datenbanken’ (S. 227) zu vollziehen, Korrelationen herzustellen zwischen verschiedenen Medientracks, zwischen Sinnen und Medienströmen:

Lev Manovich führt hier eine wichtige Unterscheidung ein: offene Interaktionenen modifizieren oder generieren Medienelemente oder deren Verzweigungsstrukturen, während geschlossene Interaktionen lediglich ein passives Navigieren innerhalb vorgegebener fixierter Strukturen und Pfade zulassen. [11]

Solche nichtlinearen Sequenzialisierungen von Bildschirmen als eine Sprache zu (re)konstruieren – unter Rückgriff auf die Sprache des Films – ist der Verdienst von Lev Manovich: er entwickelt dabei ein Vokabular («interaktive Narration», «navigierbare kulturelle Räume», «kulturelle Interfaces», «Datenbank als symbolische Form»), mit dem die Operationen auf den Oberflächen der neuen Medien als eine neue Kulturtechnik begriffen, benutzt, reflektiert und vor allem kritisiert werden können.

Spielen?

Aber wir haben schon wieder viel zu viel gelesen. Wir sollten lieber spielen, um der Sprache der neuen Medien auf die Spur zu kommen!

Es bietet sich der Freud-Lissitzky Navigator an, der verspricht, eine «Software Erzählung» zu sein, eine «theoretische oder fiktionale Erzählung über Software» [12], mit dem Ziel, die Mythen von Computerspielen zu rekonstruieren, eine imaginäre Software zu entwerfen, mit der man einerseits durch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts navigieren und dabei gleichzeitig verschiedene historische Medienoberflächen in einer Art Zeitreise benutzen kann:

Verschiedene Interfaces bieten sich dem Nutzer an: http://www.manovich.net/FLN/index.html

Ein Navigatorfenster eröffnet den Blick auf verschiedenen narrative Levels:

Zeitebenen von 1900 bis zum Jahre 1997 und Örtlichkeiten (Budapest, Berlin, Moskau, Los Angeles …):

Sigmund Freud trifft auf den russischen Avantgarde Designer El Lissitzky, sie entwickeln die Vision einer Architektur-Simulation von Freuds Theorie. Ausgehend von dem Modell eines Hauses versuchen sie die Prozesse von Verdichtung und Verdrängung mittels mobiler beweglicher Wände zu realisieren. … Ungefähr zur selben Zeit reist auch Sergei Eisenstein durch Wien und trifft die beiden. Sofort ändert er seine Pläne:

Anstatt einer Verfilmung des Kapitals realisiert er ein erstes Preview der Traumdeutung als Fahrt durch das imaginäre Haus des Unbewußten. Moholy-Nagy baut dazu das Modell. Am Bauhaus hört Eisenstein eine Vorlesung des amerikanischen Ingenieurs Edwin Link über das Design von Flugsimulatoren. Eisenstein übernimmt sofort das visuelle Setting. Dadurch wird er nach Hollywood eingeladen … Während sich das politische Klima verschlechtert, Lissitzky nach Russland zurückkehren muß, gehen die verschiedenen Aufzeichnungen zum Navigator verloren … und wie viele andere Projekte von Eisenstein bleibt auch der Freud-Lissitzky Navigator unrealisiert. … 1997 schließlich versuchen professionelle Spiele-Entwickler basierend auf Doom, eine kommerzielle Version für die Sony Playstation zu entwickeln, klauen den Code des Prototypen .. aber auch diese Entwicklung verläuft im Sande … [13]

Ein Klick auf ein Photoshop-Symbol bringt verschiedene Rekonstruktionen des Interfaces vom Freud-Lissitzky Navigator zur Ansicht. Ansonsten bleibt dieses Projekt von Manovich wohl ähnlich unabgeschlossen wie es sich schon in der Geschichte angedeutet hat. Immerhin findet sich auch eine direkt im Netz spielbare Shockwave-Version. [14]

Als Mikro-Kernel ist letztlich in diesem Projekt die Methode Manovichs realisiert, ausgehend von der Geschichte der kulturellen Interface-Entwicklung her die aktuellen Werkzeuge, Tools, Oberflächen und Betriebssysteme zu re-historisieren und mit kulturellen Bezügen aufzuladen:

Er konstruiert so etwas wie eine Software-Erzählung / eine Interface-Erzählung, in der die Art und Weise des Erzählens selbst auch mit das Thema ist und in der sich verschiedene Entwicklungslinien der «Navigation der Welt» kreuzen: vertikale (Freud) und horizontale Linien (Lissitzky), Wiener Psychoanalyse meets russische Avantgarde, bis hin zu Vorboten eines virtuellen 3D-Browsers …

Avantgarde als Software also nicht als ein einfacher Kurz-Schluß, sondern:

«Avantgarde wird Software. Ich möchte diesen Satz auf zweierlei Weise verstanden wissen. Einserseits kodifiziert und übernimmt die Softwaree die Techniken der alten Avantgarde. Und andererseits bilden die neuen Softwaretechniken des Umgangs mit Medien die neue Avantgarde der Meta-Mediengesellschaft.» [15]

Navigierbarer Raum

Manovich läßt Myst gegen Doom antreten. Ein unmögliches Duell:

«In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich die Spiele erheblich. Doom verläuft sehr schnell, Myst langsam. In Doom rennt der Spieler durch lange Korridore und versucht, jedes Level so schnell wie möglich durchzuarbeiten, um dann zum nächsten zu gelangen. In Myst bewegt sich der Spieler buchstäblich {186} Schritt für Schritt, er konstruiert die Erzählung. Doom wimmelt von Dämonen, die an jeder Ecke angriffsbereit lauern; Myst ist dagegen vollkomen leer. Die Welt von Doom ist der Computerspiel-Konvention verpflichtet, nach welcher ein Spiel aus einigen Dutzend Ebenen besteht. Obwohl Myst ebenfalls vier verschiedene Welten enthält, ähnelt jedoch jede davon eher einem geschlossenen Kosmos als einem traditionellen Computerspiel-Level. Während die gewöhnlichen Ebenen strukturell und visuell nicht sehr voneinander abweichen, sind die Welten des Myst-Spiels sehr unterschiedlich.

Ein weiterer Unterschied liegt in der Orientierungsästhetik. In der Doom-Welt, in der alles in rechteckige Räume aufgeteilt ist, läuft der Spieler in geraden Linien und dreht sich plötzlich um 90 Grad nach rechts oder links, um in einen neuen Korridor zu gelangen. In Myst ist die Orientierung viel freier. Der Spieler, oder genauer der Besucher, erkundet langsam die Umgebung. Er schaut sich vielleicht eine Weile um, wandert eventuell im Kreis herum, immer wieder auf denselben Punkt zurückkehrend, als vollführe er einen aufwendigen Tanz.

Trotz aller Unterschiede der Kosmogonie, des Spielwesens, des grundsätzlichen Rechenmodells, haben die Spiele eine wesentliche Eigenschaft gemeinsam: beide sind Reisen im Raum. Das Navigieren des dreidimensionalen Raums ist ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Element des ganzen Spiels.

Doom und Myst geben dem Benutzer einen Raum, den er durchquere muß und den er ausmißt, indem er sich darin bewegt. Jedes Spiel fängt damit an, daß es ihn irgendwo in diesen Raum hineinfallen läßt. Bis er zum Ende der Spiel-Erzählung gelangt, muß er so viel wie möglich von diesem Raum besuchen [...].

In Doom und Myst [...] sind die Erzählung und die Zeit selbst als Bewegung durch einen 3-D-Raum, als ein Fortschreiten durch Räume, Ebenen, Worte zu {187} verstehen.» [16]

Entscheidend für Manovich ist jetzt, daß der computergenerierte 3-dimensionale Raum, obwohl er linearperspektivisch dargestellt ist, keineswegs hierarchisch organisiert ist, sondern daß die virtuellen Welten geradezu eine Vielzahl von Welten enthalten, die «aus Aggregaten verschiedener Objekte bestehen, die keine Beziehung zueinander haben.» (S. 193) Solche dynamischen Aggregatszustände lösen jegliche Totalität der Raumkonzeption radikal auf zugunsten einer Vielzahl möglicher Perspektiven, bei der jede Ebene, jeder Level aus einzelnen Element-Zusammenballungen besteht: «sie ist eine Ansammlung von Räumen, Korridoren, und Arenen, die die Designer zusammengestellt haben» (Navigable Space, S. 194), wobei eine fundamentale Beziehung zwischen den verwendeten Software-Werkzeugen und den Medienelementen besteht.

Kulturtheoretiker, Programmierer und Anwender: eine Kampffront!

Hier kommen erfreulicherweise Manovichs Mehrfachkompetenzen zum Tragen: eben Theoretiker und Praktiker zu sein, Kulturtheoretiker und Programmierer, Anwender entsprechender Softwarepakete. Dadurch kann er auf verschiedenen Ebenen für transversale Durchquerungen sorgen:

Er kann die «Avantgarde als Software» anwenden, kann Photoshop-Filter als philosophische Operationen lesen [17], oder den Aufbau im Editing-Fenster des Autorenprogramms Macromedia Director im Kontext der Entwicklung der Filmsprache vom Avantgardefilm über den Experimentalfilm bis hin zum Digitalen Film betrachten.

Solche Theorie/Praxis-Oszillationen gehören zu den Stärken der Echtzeit-Theorie-Versuche [18] Lev Manovichs, wenn sie auch gelegentlich etwas ’flach’ geraten: etwa die Begründung der «flachen Struktur des World Wide Web» aus der »amerikanischen Ideologie der Demokratie mit ihrer panischen Angst vor Hierarchien» oder der Begründung der enthierarchisierten Räumlichkeit in Virtuellen Räumen durch die «Abwesenheit einer einheitlichen Perspektive in der amerikanischen Kultur» (Navigable Space, S. 194)

Aber vielleicht sollte man solche ’Querverweise’ wiederum nicht zu wörtlich nehmen, sondern einfach sehen, wie man damit arbeiten kann!

Trotzdem leisten solche Bezugnahmen Unschätzbares für einen kulturellen digitalen Diskurs, indem überhaupt erst einmal Bezüge hergestelt werden zwischen kulturellen Paradigmen und Software-Optionen, sowohl auf Seiten der Produzenten als auch auf Seiten der Rezipienten, was dann letztlich in den in meinen Augen sehr produktiven Begriff der «kulturellen Software» mündet.

Kulturelle Software

In diesem Kontext wird dann auch der navigierbare Raum weder, wie in von Kulturtheoretikern bevorzugten Denkmodellen, als Ende einer historischen Epoche überinterpretiert, noch einfach, wie häufig ahistorisch von den Apologeten der Neuen Medien hypostasiert, einfach als Anfang einer vollkommen neuen Entwicklung dargestellt, sondern als ein kulturelles Interface analysiert, das, intermedial und interdisziplinär mittels bestimmter Softwareoperationen avantgardistische künstlerische Raumkonzepte umsetzt:

«Theoretisch wie praktisch bedeutet der navigable space eine neue Herausforderung. Statt nur die Topologie, die Geometrie und die Logik eines feststehenden Ortes zu bedenken, sollten wir den neuen Funktionsmodus des Raumes in der Computerkultur genau beachten: nicht als Fläche, sondern als eine vom Subjekt erfahrene Flugbahn.» (Navigable Space, S. 205)

Hier schlägt Manovich einfach neue Fährten in die ausgetretenen Pfade der Medientheorie! [19]

Er bietet auch durchaus verschiedene Lesarten/ Levels an: etwa die aktive Raumerkundung in den virtuellen Räumen der Computerspiele einerseits in seiner kulturellen Funktion als eine Selbstentdeckung und Charakterbildung in der Traditionslinie amerikanischer Erzählweisen [20] oder als eine Programmierung des «mobiliserten virtuellen Blickes» (Navigable Space, S. 199), eine Wahrnehmungsform die vom Flaneur, vom Panorama, der Fotographie und dem filmischen Blick abgeleitet wird. Aus der Perspektive der Interface-Entwicklung also vom Kamera-Auge, von der Datenbank des Stadtlebens und den digitalen Interface-Funktionen gleichzeitig!



Language of NO-Media: post-mediale Ästhetiken

Manovich gelingt somit in der Breite seiner Themen erstmalig eine umfassende reichhaltig von kulturellen Traditionslinien aufgeladene Darstellung sowohl der narrativen als auch der Interface-Paradigmen digitaler Medien.

Eine Theorie, mit der sich gut arbeiten läßt und die vielfache Einstiege und Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. [21]

Der hier entwickelte und auf vielfache Beispiele aus verschiedensten Disziplinen angewendete Begriff der ‘neuen Medien’ markiert entscheidende medienhistorische Paradigmenwechsel: den Übergang von der Benutzung des Computers als eines Werkzeugs in den 80er Jahren zum ‘Computer als Medium’ in den 90er Jahren bis hin zu den gegenwärtigen vernetzen Hybridmedien, die unterschiedlichste Gebrauchsweisen provozieren bzw. ermöglichen im Spannungsfeld von User-Manipulation, -Kontrolle und neuen offenen Produktions- und Rezeptionsweisen.

Methodisch betreibt Lev Manovich in Anlehnung an die Netzkritik eine Art ‘digitalen Materialismus’: aus seinen Erfahrungen in der Anwendung diverser Multimedia-Editoren heraus entwickelt er Analysemethoden, die die formalen Konstruktionen der verschiedensten Medienobjekte ebenso berücksichtigen wie die Interaktionsweisen mit den Usern: eine ‘Echtzeit-Theorie’ [22|, eine Ästhetik von Software und Medienobjekten inklusive kritischer Auseinandersetzung mit den digitalen Diskursen, die die Medien umgeben …

Also: das aufgeschlagene Buch immer neben dem Monitor liegen lassen und zwischen den Zeiten des Surfens, Spielens und Arbeitens am Computer immer wieder lesen, Verweisen folgen, weiterdenken …

Eine neue Richtung/ Perspektive in Lev Manovichs Forschungen besteht in Versuchen, sich ganz und gar vom Konzept des Mediums zu lösen zugunsten neuer Konzepte, die eher aus der Computer und Netzkultur herrühren.

Wie die neuen Medien die Subjektivitäten von Usern erweitern, spiegeln, verwerten und verwerfen ... wie in der postmodernen, fast schon ‘nach-medialen’ Informationsgesellschaft Wahrnehmungen, Erfahrungen und Arbeitsvorgänge in hypermedialen Räumen produziert, wie Informationen prozessiert und in realtime kommuniziert werden, wie alle Medien zu ‘sozialer Software’ werden … davon handelt das neue Forschungs- und Publikationsprojekt Lev Manovichs: INFO-AESTHETICS, das im Netz schon in Fragmenten und Entwürfen zu lesen ist, bevor es überhaupt geschrieben worden ist. [23]


Fußnoten

[1] Tilman Baumgärtel: Ein Steinbruch für gute Ideen, telepolis, 04.02.2002 <http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/11701/1.html> (18.03.02)

[2] <http://www.manovich.net> (18.03.02) Ergänzende Hinweise habe ich zusammengestellt unter <http://www.hyperdis.de/manovich> (18.03.02): Links zu (teils auch deutschsprachigen) Teilveröffentlichungen sowie zu einer Fülle von Interviews und Rezensionen, eine Hotlist von Projekten, die im Buch analysiert werden, eine Auswahl von Zitaten – und eben auch der (versteckte und auf Manovichs Homepage nicht weiter refezenzierte) Link zur pdf-Datei des Gesamttextes, die allerdings nicht seitenidentisch mit der Buchausgabe ist …

[3] «Information behavior» ist der Begriff, mit dem Manovich in seiner Arbeit «Postmedia aestetics», die der «Language of New Media» folgt, das hybride Verhalten von Nutzern in Informations-Netzwerken beschreibt. <http://www.manovich.net/DOCS/Post_media_aesthetics1.doc> (18.03.02) Die Verfechter von Freier Software und Open-Content-Linzenzen werden sich sicherlich wundern, daß Manovich die Texte auf seiner Homepage ausgerechnet im proprietären Format von Microsoft-Word TM zum Download anbietet!

[4] Komplett zu finden unter: http://www.manovich.net/LNM/figures_prologue/prologue.html

[5] S. 114-115; deutsche Übersetzung in: Lev Manovich,: Eine Archäologie des Computerbildschirms, in: Kunstforum 132, Januar 1996, S.124-135, hier: S. 135.

[6] «In short, the avant-garde becomes software. This statement should be understood in two ways. On the one hand, software codifies and naturalizes the techniques of the old avant-garde. On the other hand, software's new techniques of working with media represent the new avant-garde of the meta-media society.» Lev Manovich: Avantgarde as software: <http://www.manovich.net/docs/avantgarde_as_software.doc> (18.03.02)

[7] Vgl. Anmerkung 6. Deutsche Übersetzung in: Lev Manovich: Avantgarde als Software, in: Stephen Kovats (Hg.): Ost-West Internet. Media Revolution, Frankfurt/New York, 1999, S. 32-47, hier: S. 35)

[8] Lev Manovich: Avantgarde als Software, in: Stephen Kovats (Hg.): Ost-West Internet. Media Revolution, Frankfurt/New York, 1999, S. 32-47, hier: S. 38

[9] Vgl. «Database as symbolic form», 1998: http://www.manovich.net/docs/database.rtf

[10] Lev Manovich: On Totalitarian Interactivity, 1996 (ursprünglich ein posting in der Rhizome-Mailing-List): <http://www.manovich.net/text/totalitarian.html> (18.03.02), deutsche Übersetzung in telepolis: Über die totalitäre Interaktivität (Lev Manovich, 25.10.1996) Beobachtungen vom Feindes des Volkes <http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/2063/1.html> (18.03.02)

[11] Vgl. das Konzept der Interpassivität. So ist auch der schillernde Begriff der Interaktion kulturgeschichtlich im Spannungsfeld technologischer Mensch-Maschine Interface-Entwicklungen und sozialer Kulturpraktiken, die auch zwischenmenschliche Handlungs- und Verhaltensmuster einschließen, zu entzaubern: Interaktion ist eben nicht zu reduzieren auf die vordergründige Useraktivität des Mausklickens, den technologischen Akt des Auslösens unterschiedlichster Programmparameter innerhalb eines kybernetischen Regelkreislaufes, sondern muß als eine hybride kulturelle Praxis – innerhalb komplexer gesellschaftlicher und technologischer Netzwerke – neu bestimmt werden. Als Vorläufer solcher ,kultureller Interaktionsweisen', die sich in den 60er Jahren herausbilden, während gleichzeitg technologisch Direktmanipulationen von Daten durch Benutzereingaben auf Computer-Oberflächen entwickelt werden, können gelten: partizipative künstlerische Environments, Closed-Circuit Video-Installationen, kinetische Objekte als auch Fluxus-Aktionen, Performances und Happenings sowie Straßentheater-Experimente. Die Einbeziehung der Rezipienten reicht dabei von schlichten reaktiven Feedback-Schleifen bis hin zur unmittelbaren Einflußnahme und Beteiligung in die künstlerischen Prozesse. Genau diese Öffnung ist es, die entscheidende Kontaktflächen zwischen internen Zeichencodes (von Kunstwerken, Texten, Benutzeroberflächen) und den daran anschließenden externen Reaktionsweisen eröffnet. Interaktionsprozesse ermöglichen ein weites Feld partizipativer und dialogischer mimetischer Strategien zwischen Künstler und Rezipient bzw. zwischen Programm und Anwender: Vgl. auch: Dinkla, Söke, Pioniere Interaktiver Kunst, Ostfildern, 1997, die sich in ihrer materialreichen Studie sehr an die Strukturen von Festivals und Preisverleihungen zur Computerkunst orientiert, und Hünnekens, Anette, Der bewegte Betrachter: Theorien interaktiver Medienkunst, Köln, 1997, die eine breite Palette künstlerischer Beteiligungskonzepte entfaltet. In Idensen, Heiko, «logIn! connect! interact! Von der Medienkunst zur Netzkunst», in: kritische berichte 1/1998, Frankfurt am Main 1998, S. 73-84 versuche ich einen Anschluß herzustellen zwischen frühen telematischen Partizipationsprojekten und aktueller Netzkunst. Abgründige Bedingungen der Teilnahme an virtuellen Gemeinschaften in Bezug auf die ,symbolischen Identität' von Usern im Cyberspace zeigt Slavoj Zizek auf: «Aktuelle Theorien zur Ideologie und Kunst stellen das befremdliche Phänomen der Interpassivität in den Mittelpunkt: Interaktivität ist das genaue Gegenteil dieses Phänomens [...]. Interaktivität wird dann zur Manipulation menschlicher Leidenschaften und meint das Handeln eines anderen, virtuellen Subjektes, das an meiner Stelle agiert.» (Zizek Slavoj: Cyberspace: Von der Möglichkeit, die Phantasmen zu durchqueren, in: Sigrid Schade; Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 104-121, hier: S. 104) Zizek führt dann verschiedene Beispiele für Interpassivität an: Lachen aus der Konserve bei TV-Shows, das eigene (übertriebe) Lachen über einen geschmacklosen Witz, das Zusammenleben mit dem Tamagotchi, vom Künstler bezahlte Claqueure, die analytische Behandlung, ein Videorecorder, der für den User einen Film anschaut, Klageweiber, die für den Klagenden weinen oder trauern, die tibetanische Gebetsmühle ... und verspricht, aus solchen »unheimlichen Situationen, in denen ich aktiv bin, während ich auf den anderen die unerträgliche Passivität meines Seins übertrage, das künstlerische Potential der neuen digitalen Medien» abzuleiten. Vgl. auch: Slovoj Zizek: Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität, in: Pfaller, Robert (Hg.): Interpassivität. Studien über deligiertes Genießen, Wien/New York 2000, S. 13-32

[12] Freud-Lissitzky Navigator: FAQ: <http://visarts.ucsd.edu/~manovich/FLN/faq.html> (18.03.02)

[13] Paraphrasierende Zusammenfassungen nach den verschiedenen narrativen Levels von H.I.: <http://visarts.ucsd.edu/~manovich/FLN> (18.03.02)

[14] <http://visarts.ucsd.edu/~manovich/FLN/luke/intro-splash.html> (18.03.02) prgrammiert von Luke Matjas.

[15] Lev Manovich: Avantgarde als Software, in: Stephen Kovats (Hg.): Ost-West Internet. Media Revolution, Frankfurt/New York, 1999, S. 32-47, hier: S. 47

[16] Manovich. Lev: Navigable Space. Raumerfahrung als kulturelle Form, in: Beller, Hans, u.a.: Onscreen / Offscreen. Grenzen Übergänge und Wandel des filmischen Raumes, Stuttgart, 2000, S. 185-207, hier: S. 185-187. (Alle Seitenzahlen in Klammern in diesem Absatz beziehen sich auf diese Quelle und nicht wie im Rest des Artikels auf «Language of New Media»!)

[17] Vgl. Romantizismus, Adorno und Photoshop-Filter: von der Kreation zur Selektion. (Lev Manovich, 20.04.1996) Zur Ästhetik des Cyberspace <http://www.heise.de/tp/deutsch/special/sam/6002/5.html> (18.03.02)

[18] Lev Manovich: Denken jenseits von Information, telepolis, 06.10.1997: <http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/sa/3114/1.html>

[19] Man denke nur an die Auseinandersetzung zwischen den Hardware-Fetischisten kittlerscher Provenienz, den Software-Okkultultismus der Computer-Kunst-Avantgarde, beachte aber auch die aufkeimenden Querschläger wie Hartmut Winkler, die dann gleichwohl zwischen die Fronten der konkurrierenden Schulen geraten. Vgl. Der Computer – Medium oder Rechner? Geert Lovink und Hartmut Winkler, telepolis,15.06.1996: <http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/buch/2038/1.html> (18.03.02)

[20] … d.h. einer aktiven Navigation analog zu den Pionieren des 19. Jahrhunderts in ’Terra incognita’ mit den Optionen Eroberung, Zivilisierung und kolonialistische Unterwerfung / Zähmung des Wilden (Navigable Space, S. 198)

[21] Auch in der Rezeption zwischnet sich schon eine breite Palette ab: von den Interface-Gestaltern – etwa aus der Perspektive eines erfahrenen Praktikers, Enno Hyttrek, 08.01.2002: <http://www.multimedia.de/artikel/58_1.php> (18.03.02) bis hin zu Post-Modern Culture: Review by William Warner, 2002 <http://www.manovich.net/LNM/review_Warner.doc>. Deutsche Übersetzung in telepolis: William B. Warner: Zur Sprache der neuen Medien. Lev Manovich macht sich auf zur Überwindung des Medienparadigmas (vom 22.12.2001): <http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/11378/1.html> (18.03.02)

[22] Vgl. die übersetzten Artikel in telepolis, hauptsächlich aus den Jahren 1996 und 1997.

[23] http://www.manovich.net/IA/ Vgl. auch Lev Manovich: Post-media Aesthetics: <http://www.manovich.net/texts_00.htm> (13.03.2002).