von Uwe Wirth
Ich möchte im folgenden einige Überlegungen zur poetischen Dynamik
des Online-Chats anstellen und diese mit der des Briefs und des Telefongesprächs
vergleichen. Dabei werde ich mich auf drei Punkte konzentrieren: Interaktion,
Transmission und Edition.
1. Die Interaktion betrifft das mediale und zeitliche Verhältnis
von Frage und Antwort im Brief, im Telefongespräch und im Chat.
2. Die Transmission bezieht sich auf die Form der Übertragung
und der Archivierung von Briefen, Telefongesprächen und Online-Chats.
3. Die Edition thematisiert die Rahmenbildung, also das "performative
Editing", durch das Briefe, Telefongespräche und Chats als Sprachereignisse
dokumentiert bzw. inszeniert werden.
Beginnen wir mit ein paar Gemeinplätzen: Das Internet ist - Brechts
Radiotheorie läßt grüßen - nicht mehr nur ein
distributives, sondern ein interaktives Medium. Es radikalisiert damit
ein Konzept, welches das Radio als Wunschkonzert - "Bei Anruf Musik"
- bzw. als "call-in-Sendung" praktiziert. Das Medium der Interaktion
ist hier, wie beim Internet, die telefonische Verbindung. Das Internet
verbindet dabei die Eigenschaft der "call-in-Sendung" beim Rundfunk
- einer ruft an, alle hören mit mit der Eigenschaft des privaten
Telefongesprächs - einer ruft an, einer hört zu. Dadurch wird
der Internetnutzer in den Stand versetzt, Sendestation nicht nur für
beliebige Einzelpersonen, sondern auch für beliebig dimensionierte
"News-Groups" zu sein. Der "online-chat" bewegt sich irgendwo zwischen
diesen beiden Möglichkeiten - unter telefonischen Aspekten betrachtet,
ist er eine Art von Konferenzschaltung, ein Rundruf, bei der der Zeitpunkt
der Konferenz festgelegt sein muß, die Anzahl der Teilnehmer,
also der "Sender" und "Empfänger" dagegen unbestimmt bleiben kann.
Doch auch mit Blick auf herkömmliche Radiokonzepte besteht eine
Analogie: Der Zeitpunkt des Chattens wird wie ein Radio-Programm festgelegt,
damit die Teilnehmer "erreichbar" sind.
Zu fragen wäre nun, worin die "neue Form" der Interaktivität
liegen könnte, die das Internet ermöglicht. Sei es als Möglichkeit,
emails zu senden und zu empfangen, sei es als Teilnahme an "kollaborativen
Mitschreibprojekten" oder an "online-chats".
Brief und Erreichbarkeit: Chat und Brief
Die dialogische Struktur von emails, ebenso wie die
poetische Struktur von Mitschreibprojekten, ist nichts Neues. Der Briefroman
des 18. Jahrhunderts, ebenso wie "Der Roman der 12" zu Anfang unseres
Jahrhunderts, belegen dies. Das Neue an emails, kollaborativen Mitschreibprojekten
und "online-chats" liegt, so meine These, in der Technik der Übertragung,
insbesondere in der zunehmenden Übertragungsgeschwindigkeit. Dadurch
wird der Online-Chat zu einer dem Telefonieren analogen Form, die eine
interaktive, zeitlich unverzögerte Fernschriftlichkeit ermöglicht.
Während der Aspekt der Übertragungsgeschwindigkeit den Blick
auf das Telefon lenkt, verweist der Ausdruck "Fernschriftlichkeit" auf
den Brief.
Die Inszenierung des Chats, so wie wir sie in dem Projekt SM-Services
von Gisela Müller oder in Susanne Berkenhegers und Martina Kieningers
Performance "Mudeln wir uns through" beim Symposium "InterSzene"
erlebt haben, besitzt eine Qualität, die zu einer Radikalisierung
der Ästhetik des Briefromans führt. In Richardsons berühmten
Briefroman "Clarissa" (1747) heißt es im Postscript des "Editors
to the Reader", die veröffentlichten Briefe seien "supposed to
be written by the Parties concerned, as the circumstances related,
passed" (v), und zwar mit dem Ziel, "ein Bild der menschlichen Natur
zu malen". Was die Briefromanästhetik des 18. Jahrhundert postulierte,
nämlich, daß der Brief "written to the moment" sei, das
gilt - wenn auch in anderer Hinsicht - für das Chatten im Netz.
Im Kontext brieflicher Kommunikation kann "written to the moment"
zweierlei bedeuten: Entweder, der Schreiber fordert den künftigen
Leser auf, sich in seine, des Schreibers, Situation zurückzuversetzen,
also den Moment des Schreibens zu vergegenwärtigen - oder umgekehrt,
der Schreiber versetzt sich in die Situation des Empfängers,
in den Moment des Lesens. Letzteres entspricht der antiken Tradition
des Briefschreibens, bei der sich die Intention des Schreibers "erst
beim Lesen des Briefes durch den Empfänger verwirklicht" (Vosskamp
1971: 84). Dagegen bringt die "moderne" Briefpoetik des 18. Jahrhunderts
den Moment des Schreibens, genauer: der Empfindung beim Schreiben,
ins Spiel. Der empfindsame Briefroman läßt den Brief zu
einem Porträt der intimen Gefühlslage des Schreiber werden,
er inszeniert die Briefkommunikation als Physiognomie der Seele und
als "eine freye Nachahmung des guten Gesprächs", wie es bei Gellert
heißt, bzw. als "Rede eines Abwesenden, von denjenigen Angelegenheiten,
die ihm am Herzen liegen" (Gottsched, zit. nach Vosskamp 1971: 83).
Der Brief hat also sowohl indexikalisch-symptomatischen als auch dialogischen
Charakter.
Die Aufgabe des Briefs - insbesondere im Kontext des Briefromans
- besteht darin, die Mitteilbarkeit von Empfindungen beim Schreiben
zu demonstrieren. Mitteilbarkeit impliziert Erreichbarkeit. Zum einen
die Erreichbarkeit der eigenen Empfindungen, damit diese aufgespürt
und ausgedrückt werden können. Zum anderen die Erreichbarkeit
des anderen, damit dieser die Mitteilungen über die eigenen Empfindungen
empfängt und verstehend "nachempfindet". Dieses Problem der "Erreichbarkeit"
und der Herstellung einer "Verbindung" ist - das wissen alle, die
mit Handys, Anrufbeantwortern und ausgefallenen Uni-Servern leben
müssen - das eigentliche "Wunder der Telekommunikation". Das
telekommunikative "spoken to the moment", bzw. das gechattete "written
to the moment" ist immer auch Indiz dafür, daß der Moment
der Verbindung stattgefunden hat. Es geht also nicht mehr nur um die
Message, sondern auch um die Übertragungswege - Stichwort "magische
Kanäle" - bzw. um die Übertragungsgeschwindigkeit der Message.
Dabei ist das Problem telekommunikativer Übertragbarkeit verknüpft
mit dem zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit changierenden
Charakter des Telefonats, bzw. der Aufzeichnung des Telefonats durch
den Anrufbeantworter.
Telefon und Anrufbeantworter
Rüdiger Campe zufolge leitet das Telefonat "vom
mündlichen zum schriftlichen Verkehr über" (Campe 1986: 69ff.),
es hält "die Mitte zwischen dem Rendez-vous und dem Liebesbrief"
(ebd.), wobei die "sekundäre Mündlichkeit" der Stimme am Telefon
"weder (primär) mündlich noch schriftlich" ist (ebd.). Allerdings
fehlt dem Telefonat gegenüber der Schrift "die zurückbleibende
Spur, das Dokument" (ebd.). Erst der Anrufbeantworter verleiht der aufgezeichneten
Mündlichkeit den gleichen Spurcharakter wie die Schrift. Da nicht
mehr nur die schriftliche Fixierung im Brief, sondern auch die phonographische
Aufzeichnung der "flüchtigen gesprochenen Rede" möglich wird,
kann man mit Hilfe des Anrufbeantworters "mündliche Briefe" senden.
Der Anrufbeantworter verleiht dem mündlichen Anruf Schriftcharakter,
indem er ihn aufzeichnet, speichert und wieder abrufbar macht. Wie der
Brief besitzt der Anrufbeantworter eine indexikalische und eine dialogische
Funktion. Indexikalisch, weil er anzeigt, daß jemand angerufen
hat. Dialogisch, weil die zeitliche Trennung von Ansage und Anruftext,
glaubt man Nickel und Seuter, für den "Dialogcharakter des Gesamttexts"
keine Rolle spielt (Nickl und Seutter 1995: 266). Wie beim Brief bleibt
jedoch unklar, in welcher Hinsicht die hinterlassene Nachricht "spoken
to the moment" ist. Handelt es sich um den Moment des Abhörens
der Nachricht oder um den des Aufsprechens? Die Rhetorik der Anrufbeantworterkommunikation
verknüpft beide Momente und wirkt sich zugleich auf die Rhetorik
des elektronisch übertragbaren Briefeschreibens aus - eine typische
email ähnelt stilistisch betrachtet, nur selten dem empfindsamen
Brief des 18. Jahrhunderts, als vielmehr der Anrufbeantworter-Nachricht.
Überhaupt bekommt das Problem der Erreichbarkeit durch den Anrufbeantworter
eine neue, eine technische Dimension. Das Manko der Nichterreichbarkeit
- bekanntermaßen die größte Todsünde der Telekommunikation
- wird durch die Verbindung mit der answering machine ausgeglichen.
Der Anrufbeantworter ersetzt also den momentan nicht einlösbaren
Anspruch auf Erreichbarkeit durch die Verbindung mit einem Aufzeichnungsautomaten.
Dabei fungiert der Anrufbeantworter nicht nur als vorgeschaltetes
Sekretariat seines Besitzers, sondern er ist auch der Sekretär
des Anrufenden. Er zeichnet auf, was ihm vom Anrufer diktiert wird.
Er ist somit der Diener zweier Herren: Des Anrufers, dessen Nachricht
er verschriftlicht und dadurch wiederholbar macht und des Empfängers,
der den Moment bestimmt, an dem er die Nachricht "abruft".
Betrachtet man den Anrufbeantworter wie den Briefroman als performativen
Rahmen, so läßt sich feststellen, daß die aufgezeichneten
Nachrichten nicht nur der Charakterisierung dessen dienen, der sie
aufgesprochen hat, sondern - als Ensemble betrachtet - auch ein Porträt
des Empfängers liefern. Dann nämlich, wenn der Anrufbeantworter
"auf die Bühne gestellt" wird. Eben dies ist das Anfangsbild
von Martin Crimps Theaterszenen "Angriffe auf Anne": Auf leerer Bühne
wird ein Anrufbeantworter abgespielt. Die darauf gespeicherten Nachrichten
vermitteln dem Zuschauer und Zuhörer ein rätselhaftes Bild
der angerufenen Protagonistin:
"´Montag 11 Uhr 51´
piep
... Oh. Hallo? Hier ist Mama..."
"´Montag 13 Uhr 05´
piep
.... Anne? Hallo? Hier ist Mama. (Pause) Deine Postkarte ist da
(Pause) Sieht ja sehr schön aus. (Pause) Und das Foto. Bist
das wirklich du? (Pause) Prima, daß du schon Freunde gefunden
hast und alles. (Pause) Es ist nur so, Anne, daß wir dir leider
kein Geld schicken können. Ich habe mit Papa gesprochen, und
er sagt, nein, auf gar keinen Fall. (Pause) (im Hintergrund hört
man die Stimme eines Mannes: ´Keinen Pfennig mehr. Daß
du ihr das klipp und klar sagst." Mama antwortet: ´Ich sag´s
ihr ja, ich sag´s ihr ja.´ Dann wieder in den Hörer:)
Es tut mir wirklich leid, Anne, Liebling, aber wir können das
doch nicht bis in alle Ewigkeit tun. (Wieder die Stimme des Mannes:
´Wenn du´s ihr nicht sagst, rede ich verdammt noch mal
mit ihr.´) Hör zu, Liebling, ich muß auflegen. Papa
läßt dich ganz lieb grüßen. Ja? Gott schütze
dich."
"´Montag 13 Uhr 06´
piep
Hallo, hier ist Sally von Coopers. Wollt Ihnen nur kurz Bescheid
sagen, daß das Fahrzeug jetzt im Ausstellungsraum steht. Sie
können es abholen. Danke"
"´Montag 13 Uhr 32´
piep
Wir wissen, wo du wohnst, du dreckige Schlampe. Du bist so gut wie
tot. Was du verdammt noch mal getan hast. (Pause) Du wirst dir noch
wünschen, du wärest nie geboren worden."
Die widersprüchliche Vielfalt der Nachrichten für Anne
wird, als Ganzes gesehen, zu einer Spur, einem symptomatischen Zeichen,
das uns hilft, eine Vorstellung von dieser Person zu entwickeln, die
so kurz hintereinander bemuttert, benachrichtigt und bedroht wird.
Der Anrufbeantworter als Rahmen dieses Ensembles übernimmt eine
Funktion, die im Briefroman der fiktive Herausgeber innehatte - nämlich
die Funktion eines "editeur automatique". Keine andere Funktion hat
übrigens die digitale Mailbox. Auch sie speichert Nachrichten,
sei es in Schriftform, oder sei es als digitalisierte Sounddatei.
Im Gegensatz zum Brief, der auf dem Papier des Senders geschrieben
wird und im Gegensatz zur Nachricht auf Anrufbeantworter, die auf
der akustischen Tafel des Empfängers aufgezeichnet wird, bedarf
die digitale Mail eines Speicherplatzes, der sich "zwischen" Sender
und Empfänger befindet, zu dem aber beide via Telefon, Modem
und Mailprogramm Zugang haben, d.h. eine Verbindung herstellen können.
Der Unterschied zwischen Mailbox und herkömmlichem Anrufbeantworter
besteht also darin, daß sich der Ort des Speicherns der Nachricht
nicht mehr beim Empfänger, sondern beim Server befindet, zu dem
jeder jederzeit eine telekommunikative Verbindung herstellen kann.
Ab dem "moment of connection", dem Moment der Verbindungsherstellung,
sind wir "online". Und damit bin ich beim Online-Chat.
Chat und Anrufbeantworter
Der Online-Chat ist gewissermaßen die Heilung
jener Krankheit, mit der der Anrufbeantworter das "lebendige Telefongespräch"
infiziert hat: Während der Anrufbeantworter den Anspruch der Telekommunikation
auf unmittelbare Erreichbarkeit pervertiert, indem er die übertragene
Stimme speichert, den lebendigen Dialog des Gesprächs verschriftlicht
und in den halben Dialog der Briefkommunikation verwandelt, ermöglicht
der Online-Chat einen quasi-mündlichen Dialog im Medium der Schrift.
Beschrieb ich den Anrufbeantworter als "mündlichen Brief", so ist
der Online-Chat ein "schriftliches Telefonat". Dank schneller Übertragungswege
erlaubt der Chat eine nicht mehr zeitversetzte "Fernschriftlichkeit".
Dies wurde bei Susanne Berkenhegers Performance "Mudeln wir uns through"
in Romainmoitier deutlich, bei dem sich mehrere Chatter zu einem improvisierten
Rollenspiel verabredet hatten. Jeder Teilnehmer schrieb unter Pseudonym,
innerhalb eines festgelegten fiktiven Rahmens. Bei diesem fernschriftlichen
Telefonat wird die Homepage zur Bühne. Das "written to the moment"
ähnelt nicht mehr der Poetik des Briefromans, dem es um die Momentaufnahme
der Gefühlslage des Schreibers geht, sondern das "written to
the moment" betrifft den Akt des Schreibens selbst, genauer, die Schreibbereitschaft
der Chatter. Der ästhetische Reiz des Online-Chats als Performance
liegt in den Beschleunigungseffekten, die durch eine unverzögerte
fernschriftliche Übertragung hervorgerufen werden.
Im ersten Moment erscheint eine Schrift-Nachricht auf dem Bildschirm,
im nächsten Moment wird sie gelesen, im übernächsten
Moment beantwortet. Der Chat inszeniert einen diskursiven Schlagabtausch,
wobei der ästhetische Reiz nicht durch den propositionalen Gehalt
der Nachricht, sondern durch das Ereignis ihrer Übertragung bestimmt
wird. Ähnlich dem "Kanonenfieber", das Goethe anläßlich
der Kanonade von Valmy beschrieb, bei dem das Pfeifen der sich herannahenden
Kugeln die zuhörenden Soldaten - und am meisten natürlich
Goethe selbst - in einen merkwürdigen Rausch versetzte, gibt
es heute, wie mir scheint, so etwas wie das "Modemfieber". In Erwartung
von Botschaften, die sich unhörbar pfeifend mit großer
Geschwindigkeit herannahen, röten sich die Chatter-Bäckchen.
Rums! "Sie haben Post!" Oh!! Das Modemfieber ist gleichsam die Metapher
für die Gefahren schneller Erreichbarkeit. Während das Kanonenfieber
sein jähes Ende findet, sobald einen tatsächlich einmal
eine Kugel erreicht hat, liegt die Gefahr des Chats darin, daß
einem auf die Schnelle keine schlagfertige, originelle Antwort einfällt.
Der Chat ist insofern eine Inszenierung der Gefahren fernschriftlicher
Erreichbarkeit.
Falls das Ausdenken einer schlagfertigen Antwort zu lange dauert,
wird aus dem schriftlichen Telefonat des Chattens eine Anrufbeantworterkommunikation,
bei der die Botschaften zeitverzögert, als "halbe Dialoge" gesendet
werden. Die Short Messages sind ein Beispiel für diese fließenden
Übergänge. Bliebe zu fragen: was passiert, wenn man SMS-Nachrichten
auf die Bühne stellt? Eben hierin besteht kurz gesagt Giesela
Müllers Projekt "SMServices".
Hier die Beschreibung:
"SMServices ist ein Spiel um mobile Texte, um die Inspiration des
Momentes und überraschend überspringende Funk(w)e(lle)n.
SMServices ist ein Spiel um Großstadt-Nomaden im Zeitalter der
Erreichbarkeits-Sklaverei. Text on Demand, Künstler an der digitalen
Leine: Vier Wochen lang lassen sich zahlreiche Autoren und Autorinnen
auf die unmittelbare Rückkopplung mit ihren Lesern ein. In festgelegten
Zeitabschnitten können Ausstellungsbesucher der Rathausgalerie
in München Textemacher ihrer Wahl über die Schnittstelle
einer Webpage am Mobiltelefon kontaktieren und deren literarische
Kreativität initiieren. Leser werden zu Musen und das Handy überträgt
den Kuss. Der Autor, die Autorin dankt es mit einem als Short Message
versandten Text. Short Prosa, Mobile Writing, Kurzgedichte von höchstens
160 Zeichen Länge. (...) Hier auf der Webpage werden die Texte
dann automatisch nach Absender geordnet abgelegt. In der Abfolge und
im möglichen Zusammenspiel der Texte ergibt sich so ein literarischer
Zustands- und Bewegungsbericht, in dem Besucher surfen und schmökern
können".
Eine dieser "Autoren on Demand" firmiert unter dem Pseudonym "Schlampe".
Hier einige ihrer Antworten auf zuvor eingegangene KurzMusenKüsse:
[28.06. 19:11]
das blaue Wunder von Tschibo, die enthüllungen von Fatima
(www.vatican.va); der verkauf geht weiter
[28.06. 18:45]
i wish you would write me a long long letter
[28.06. 18:33]
quatsch, poesie! wozu sie taugt kannst du dir selber einen reim
drauf machen
[28.06. 18:24]
Schund sind die Blättchen die wir Kreativlinge so gerne
wenden.
[28.06. 18:15]
GUERTELROSE wirst du vergeblich suchen, ich poesie in deiner
message auch!
Dieses Projekt verbindet auf eigentümliche Weise die Eigenschaften
von Brief-, Anrufbeantworter- und Chatkommunikation. Wie bei einem
Briefroman wird hier nur ein halber Dialog dargestellt, nämlich
die Reaktionen der Autoren. Zugleich weist das editoriale Setting
von "SMServices" den Autoren die Funktion von "poetischen Anrufbeantwortern"
zu, die jedoch nicht jederzeit verfügbar sind, sondern nur zwischen
14 und 16 Uhr Schreibbereitschaft haben. "SMServices" dient dabei
nicht nur der Inszenierung der Gefahren der Erreichbarkeit, sondern
zeichnet auch ein Bild der diskursiven Konsequenzen, die der Zwang
zur Kürze hat. Die auf 160 Zeichen begrenzten Übertragungsmöglichkeiten
des SMS-Formats sind die Rückkopplung, die die oben erwähnte
Beschleunigung der Übertragung auf Form und Inhalt der gesendeten
Nachricht hat.
Der Begriff der Interaktion findet hier nicht mehr nur auf das Verhältnis
von Frage und Antwort Anwendung, sondern auch auf das Verhältnis
von Nachricht und Übertragungsformat. Es geht nicht mehr nur
um die schnelle, schlagfertige Antwort, sondern auch darum, eine Antwort
im diskursiven Zwangskorsett des SMS-Formats zu liefern. Eben hierin
liegt der poetische Mehrwert von "SMServices": es faßt Interaktion
nicht mehr primär als Dialog, sondern als sadomasochistische
Technik auf. Die in der Projektbeschreibung von "SMServices" erwähnte
"Erreichbarkeits-Sklaverei" wird sozusagen durch die "strenge Wäsche"
des Übertragungsformats überboten.
Literatur:
Campe, Rüdiger: "Pronto"! Telefone und Telefonstimmen. In: Diskursanalysen
I. Medien, hg. v. Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber,
Opladen 1986.
Crimp, Martin: Angriffe auf Anne. 17 Szenerien für das Theater.
In: Placespotting, Reinbek 1998.
Nickl, Markus/Seutter, Konstanze: Technik als Kommunikationspartner.
In: Muttersprache 1995, S. 258-273.
Vosskamp, Wilhelm: Dialogische Vergegenwärtigung beim Lersen und
Schreiben. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche
Vierteljahresschrift 45, 1971, S. 80-116.
Vortrag: Forum "Ästhetik digitaler Literatur", 20./21.
Oktober 2000, Kassel