Explorativer Workshop
Zeit und Raum in interaktiven Kinder- und Jugendmedien

Bericht von Karin Wenz

Vom 23.-25. November 2001 fand in Zürich ein Workshop zu Zeit und Raum in interaktiven Kinder- und Jugendmedien statt, der von Dr. phil. Verena Ruschtmann Schweizerischen Jugendbuch Institut (SJI) und dem Lehrstuhl von Prof. Dr. Michael Böhler (Deutsches Seminar der Universität Zürich) organisiert wurde. Dieser Workshop sollte die Begegnung verschiedener Kreise, die sich theoretisch und praktisch mit dem Medium "Computerspiel" auseinandersetzen, ermöglichen.
Anlass des Workshops war ein neues Forschungsprojekt des SJI, das von Mela Kocher und Judith Mathez aufgebaut wird, die beide über interaktive Kinder- und Jugendmedien bei Michael Böhler promovieren. In seiner Begrüßung fragte Michael Böhler, ob die Begriffe, die wir für die Neuen Medien verwenden, noch angemessen sind oder ob sie möglicherweise sogar erst in und durch die Neuen Medien ihre Bedeutung entfalten. Dies gilt laut Böhler besonders für den Begriff "Spiel", der bisher vor allem metaphorisch gebraucht wurde, im Computerspiel aber seine "eigentlichen" Bedeutungen einlöst (cf. den Beitrag von Michael Böhler und Mela Kocher in Computerphilologie).

Die Thesen des Forschungsprojekts wurden von Mela Kocher zusammenfassend präsentiert: Einige spezifische Gattungen des Computerspiels präsentieren sich als narrative Medien. Daher ist Genettes Erzähltheorie mit seiner Unterscheidung in Geschichte, Erzählung und Narration anwendbar. Ein Problem der Computerspiele liegt in der Kombination linearer Erzählstrukturen mit den nonlinearen Spielstrukturen. Das Misslingen einer Integration ist ein typisches Phänomen in älteren Spielen, in denen Erzählelemente und Veränderungen in der Spielstruktur noch nicht aufeinander bezogen werden können, do dass sich die Erzählstrukturen immer in gleicher Weise präsentieren, unabhängig vom Fortschritt des Spiels. Es stellt sich die Frage, ob die Verknüpfung von Technik und Darstellung stärker in den Vordergrund rückt, als dies bei Printmedien der Fall ist. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass Phänomene der Technizität natürlich genauso bei Printmedien wirksam sind, wir diese nur nicht mehr als strukturell wahrgenommen werden und so letztlich das Interface verschwindet.

Nach dieser Einführung des Themas folgten die Beiträge der Gäste, die sich in drei Themenblöcke gliedern ließen: Der erste Themenblock schloss eng an das Positionspapier des Forschungsprojektes an, das den TeilnehmerInnen vor der Tagung zugeschickt worden war. Hier wurden die Themen Spiel und Narration vor allem in Relation zu Zeit erörtert. Im zweiten Themenblock standen Raumkonzepte im Zentrum, die an einzelnen Computerspielen vorgestellt wurden. Der dritte Themenblock befasste sich mit Interaktivität und pädagogischen Fragen zu interaktiven Kinder- und Jugendmedien.

Der 1. Themenblock begann mit einem Vortrag von Traudl Bünger (Köln) zu "Genettes Modus der Ordnung - zentrales Strukturproblem kinderliterarischer Szenarien auf CD-Rom?" Traudl Bünger stellte eine empirische Untersuchung von Kinder- und Jugendliteratur und ihren Adaptionen in Computerspielen vor. In diesen - ebenso wie in Computerspielen generell - entsteht das Problem der Verknüpfung von linearer Erzählung und ihrem logischen Aufbau einerseits und dem willkürlichen Episodenarrangement im Spiel. Es stellt sich allerdings die Frage, ob in einem solchen Vergleich nicht zu leicht die Genre-Erwartung von Printliteratur auf Computerspiel übertragen wird und medienspezifische Phänomene unberücksichtigt bleiben.

In "Zugang zu Computerspielen und Position zu Raum- und Zeitstrukturen" stellte Kai Thomsen (Düsseldorf) mit seinem Hintergrund als Spieledesigner und Theoretiker die Frage, was Raum in Computerspielen bedeutet. Für ihn ist Raum eine ganze Spielwelt, und wesentlich ist für diese die Unterscheidung zwischen statischer oder dynamischer Ausgestaltung. Die Raumgestaltung ist seiner Meinung nach auch das wesentliche Kriterium zur Klassifizierung von Spielen, da die klassischen Genres sich mehr und mehr zu Mischformen verbinden. Er stellte die Frage, ob ein Computerspiel nicht einfach eine Form der Unterhaltung ist und schlug vor, sich von der Idee, dass diese eine klassische Geschichte erzählen, zu lösen.

Diesen Aspekt verstärkte Klaus Walter (Düsseldorf) noch in seinem Beitrag "Persönlicher Zugang zu Computerspielen", in dem er ganz klar zwischen spielerischen Einheiten und narrativen Videosequenzen in Computerspielen unterschied. Seiner Meinung nach entsteht keine Synthese zwischen Narration und Spiel, sondern eine Symbiose, die eine Trennung immer möglich und notwendig macht. Die Konsequenz heißt für ihn: "Spiel und Erzählung müssen getrennt analysiert werden." Die Trennung wird dadurch erschwert, dass Erzählung und Spiel die gleiche Oberfläche benutzen und beiden Ebenen ein gemeinsames Ziel zugrunde liegt, so dass sich der Spieler (vor allem in Adventure Games) durch narrative Räume bewegt.

Den 2. Themenbereich eröffnete Randi Gunzenhäuser (Chemnitz) mit einer Analyse des Computerspiels Max Payne: "'My credentials splattered all over the joint': Raum, Zeit und Körper in Max Payne." Randi Gunzenhäuser zeigte, dass die perspektivischen Rahmungen in Computerspielen durch Körper im Raum verhandelt werden. Die "Realitätsnähe" eines Computerspiels wird von dem auf diese Weise hergeleiteten Raumeindruck beurteilt. Dabei unterliegt Raum natürlich Konventionen, die als genrespezifisch beschrieben werden können. In Max Payne ist dies eindeutig ein referentieller Bezug zu Actionfilm und Schauerroman. Die Magie der Bilder wird eingesetzt, um gemessen an den westlichen Traditionen außer Kraft gesetzt zu werden. Die Regeln der symbolischen Ordnung müssen hier aktiv ausgefochten werden. Gezeigt wurde dies an einem Beispiel, das das traditionelle Rollenverständnis der Geschlechter thematisiert. Dies war der einzige Beitrag des Workshops, der sich explizit mit der Gender-Thematik auseinandersetzte.

Beat Suter (Zürich) stellte in "Unreality: Raum als Subtraktion von Welt" zwei unterschiedliche Raumkonzepte vor, die sich am Beispiel von Myst III Exile und der Grafik-Engine von Unreal Tournament zeigen lassen. Myst III spielt ebenso wie seine Vorgänger auf einer Insel und somit innerhalb einer kleinen, überschaubaren und abgeschlossenen Welt, die zudem noch weitgehend leer und unbewohnt erscheint. Unreal Tournament hingegen beginnt mit einem Raum, der vollständig mit Materie ausgefüllt ist. Um in diesem eine Welt entstehen zu lassen, müssen wir Materie entfernen, den vollständig ausgefüllten Raum auf diese Art dekonstruieren und uns so eine Spielwelt erschaffen. Beat Suter führte dies an einem selbst erstellten Beispiel vor: Er hatte die Räume des Deutschen Seminars mit dieser Engine nachgebildet und sie bildeten nun die Grundlage für den Ego-Shooter Unreal Tournament.

Karin Wenz (Kassel) versuchte in "Wiggles: Unsicherer Raum und zyklische Zeit" zwei für Computerspiele typische Kategorien zu erörtern. Der Begriff des "unsicheren Raumes" stammt aus den Filmwissenschaften und bezeichnet den offscreen space, der als unsichtbar und somit unsicher erlebt wird. In Computerspielen ist das Ziel, diesen Raum zu erforschen und ihn somit in sicheren Raum zu überführen. Das Konzept der zyklischen Zeit lässt sich in Wiggles sowohl auf der Ebene der Spielhandlung zeigen, da die Spielerin immer wieder zu zentralen Orten zurückkehren muss, ist aber zugleich ein grundlegendes Prinzip der Algorithmen, die die Basis von Computerspielen darstellen.

Anja Rau (Frankfurt) zeigte, dass Raum und Zeit nur zwei Sichtweisen auf dasselbe Phänomen sind: Zeit als Bewegung im Raum und Raum als Bewegung in der Zeit. Anders als Klaus Walter beschreibt sie die spielerische und narrative Ebene nicht als Blöcke, sondern als Schichten, die miteinander verwoben sind. Die Besonderheit in Computerspielen, den "Zeitpfeil" umzukehren und rückwärts gerichtete Zeit erfahrbar zu machen, stellte Anja Rau anhand der Spiele Discworld II und Day of the Tentacle vor. Während im ersten Spiel Zeitreisen notwendig sind, um Rätsel zu lösen, wird Zeit in Day of the Tentacle so eingesetzt, dass die Spielerin beliebig zwischen den Zeiten springen und wie zwischen Räumen in anderen Computerspielen wechseln kann. Für beide Spiele gilt, dass der logische Ablauf in der Zeit und somit in der Entwicklung durchbrochen wird. Durch Manipulation in der Zukunft wird die Vergangenheit verändert, und dies wirkt sich unmittelbar in der Zukunft aus.

Die drei Beiträge des letzten Themenblocks beschäftigten sich explizit mit interaktiven Kinder- und Jugendmedien aus pädagogischer Perspektive. Petra Wieler (Berlin) stellte unter dem Titel "Medienrezeption und Narration - Gespräch und Erzählung als Verarbeitung der Medienrezeption im Grundschulalter" eine empirische Studie aus der Sozialisationsforschung vor. Die Leitthese ist, dass narratives Lernen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und Dialogizität fördert. Untersucht werden soll, inwieweit dies auch für interaktive Medien gilt. Auch hier wird deutlich, dass Narration und Spiel als sehr eng miteinander verbunden verstanden werden. Die Frage ist, inwieweit Erfahrungen mit Erzähltexten in Printmedien und interaktiven Texten, die in Computerspiele integriert sind, tatsächlich vergleichbar sind.

Cornelia Rosebrock (Frankfurt) stellte "Einige Thesen zu den Anforderungen von ‚narrativen' Computerspielen an die Kompetenz von kindlichen Nutzern" zur Diskussion. Ihre Ausgangsthese lautet, dass der Begriff der Narration im Zusammenhang mit Computerspielen irreführend ist. Da Computerspiele weder einen Erzähler noch einen Leser haben und Narration die Herstellung von Kohärenz und Identität ist, lässt sich dieser Begriff ihrer Meinung nach nicht auf Computerspiele anwenden.

Der letzte Beitrag von Ingrid Tomkowiak (Zürich) zu "Interaktivität? Anmerkungen zu einem nicht immer gerechtfertigten Begriff" zeigte am Beispiel der CD-ROM Operation Teddybär einer CD über den 2. Weltkrieg, die eine Mischung von Comic, Pop-Up-Buch, Sachbuch und Nachschlagewerk ist, wie begrenzt die interaktiven Möglichkeiten in diesem Lehr- und Lernmediums sind. Hinter der Schein-Interaktivität verbirgt sich ihrer Meinung nach eine pädagogische Absicht. Da die Geschichte wenig interaktive Eingriffsmöglichkeiten bietet, wird der Nutzer ihrer Meinung nach neugierig auf das Sachmaterial, das sich ebenfalls auf der CD befindet. Dieser Beitrag war deshalb besonders interessant, weil er ein interaktives Medium vorstellte, das den Bereich des Computerspiels verlässt, zugleich aber die auch in Computerspielen häufig sehr beschränkten interaktiven Möglichkeiten thematisierte.

Die Abschlussdiskussion bewegte sich zwischen der grundlegenden Frage: Was ist eigentlich ein Spiel? Was bringt der Computer als Medium hinzu? Ist die Frage, was medienspezifisch ist, nicht vielleicht bedeutender als die Differenzierung zwischen Spiel und Narration? Diskutiert wurde weiterhin, dass in vielen Beiträgen der Kontextbegriff ebenso fehlte wie der Aspekt, dass sich durch Computerspiele neue "interpretive communities" bilden. Interessant ist einerseits die sehr traditionell hermeneutische Herangehensweise der meisten Beiträge und andererseits Ausdifferenzierungen, die sehr leicht zu normativen Aussagen führten. Es wäre wichtig - gerade bei der Auseinandersetzung mit einem neueren Medium - eine explizite Methodenreflektion vorzunehmen. Die Frage nach dem Zusammenhang von Narration und Computerspiel ist eine, die international bereits viel diskutiert wurde (Gamestudies). Verloren geht allerdings bei einer solchen Engführung des Themas die Verbindungsbrücke zum Drama. Sicherlich verführt die Auseinandersetzung mit einem so umstrittenen Medium wie dem Computerspiel zu einem Rückgriff auf akzeptierte Traditionen. Dass diese natürlich auch medienspezifisch (zumeist für Print-Literatur) entwickelt wurden, wird dabei zum blinden Fleck in der Diskussion.

Der Workshop wurde mit einer Präsentation von Susanne Berkenheger beendet, die sowohl ihren Hypertext Hilfe als auch ein neues Projekt, dass noch nicht online ist, vorstellte. Thema in beiden Projekten ist eine kritische Auseinandersetzung mit Interaktivität - oder besser gesagt: den sehr begrenzten Interaktionsmöglichkeiten der digitalen Medien und der extrem starken Lenkung durch AutorInnen/ProgrammiererInnen durch die sich Interaktivität letztlich nur noch als Multiple-Choice-Verfahren entpuppt. Ein solcher Workshop zu Computerspielen ist bisher einzigartig im deutschsprachigen Europa. Während sich in den skandinavischen Ländern und England Computerspiele als akademische Disziplin etabliert haben, scheint dies hier erst am Anfang zu stehen. Es wäre wünschenswert, auch im deutschsprachigen Raum eine solche community zu etablieren. Der Workshop in Zürich stellt einen bedeutenden Schritt in diese Richtung dar.