Computerspiele: Hybride Formen zwischen Spiel und Erzählung


von Karin Wenz

 

Warum Computerspiele und Erzählen? Die meisten Computerspiele irritieren ihre Spieler durch fehlende Kohärenz und durch ihre Arbitrarität. Viele Rätsel wollen gelöst werden, während wir ein Computerspiel spielen und diese sind dazu zumeist innerhalb eines armseligen Erzählrahmens willkürlich verteilt. Sie fungieren als Zugang zu einem weiteren Level oder einem weiteren Raum und damit zumeist als Schlüssel zu einem neuen Rätsel. Sie haben weder etwas mit der Haupthandlung noch mit dem vorigen oder nachfolgenden Rätsel zu tun. Häufig finden wir traditionelle, altbekannte Rätsel im neuen multimedialen Gewand. Dennoch haben viele Computerspiele ihren Reiz, denn sie verwandeln den Spieler in einen Schüler der Semiotik und speziell in einen Schüler der Kodierung von Zeichensystemen – wobei das zugrundeliegende (Computer-)Programm die Regeln des Spiels festlegt.

Simanowski (2000) weist auf die Problematik der Zuordnung digitaler Produkte hin: "Die Ankunft des Netzes und dessen fortschreitende Multimedialisierung, die Robert Coover, der bücherschreibende Künder vom Ende des Buches (Coover 1992, vgl. Nunberg), bereits zum Abgesang auf den Literary Hypertext veranlasste (Coover, 2000), führen zu anderen Proportionsverhältnissen und lassen fragen, inwiefern die Bestimmung von interaktiver bzw. Software-Literatur noch medienintern erfolgen kann, wenn der Gegenstand sich längst transmedial verhält." Dies gilt nicht nur für den literarischen Hypertext, sondern ebenso für das Computerspiel.

Narratologie ebenso wie Ludology (cf. Frasca 2000) bieten uns Kategorien zum Verständnis der Computerspiele an. Natürlich ist es wichtig, die spezifischen Eigenheiten des digitalen Mediums im Auge zu behalten, dennoch können Eigenschaften, die dieses mit anderen Medien teilt, für ein Verständnis hilfreich sein. Seit den ersten mündlichen Erzählungen hat das Erzählen von Geschichten tiefgreifende Veränderungen erlebt. Das gleiche gilt für Spiele, denn für das Brettspiel beispielsweise werden mehr und mehr Formen zwischen Spiel, Aufführung und Rollenspiel entwickelt.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Materialität des jeweiligen Mediums. Während das Buch weiterhin im Wesentlichen eine Erzählmaschine ist, ist der Computer vordergründig eine Zählmaschine. Der "Impermanent Agent" ist ein Beispiel, das die Metapher des Erzählers für ein Computerprogramm benutzt, das unsichtbar im Hintergrund mitläuft, während sich sein Nutzer im WWW bewegt. Die "Geschichte" der eigenen Bewegung im Web wird nicht nur aufgezeichnet, sondern der "Erzähler" macht auf der Basis, der Websites, die man sich angesehen hat, Vorschläge für weitere Sites, die den Nutzer auch interessieren könnten. Die Zählmaschine wird in diesem und zahlreichen weiteren Beispielen benutzt, um ästhetische Effekte zu generieren. Viele solcher Effekte finden wir auch in Computerspielen, besonders jedoch im so genannten Adventure. Adventures erzählen Geschichten auf eine neue Art und Weise und unter veränderten Bedingungen, die ich mit dem Begriff hybrid zu beschreiben möchte.

Hybride Formen

Die Übersetzung narrativer Elemente in die digitalen Medien, ihre neue Fluidität und Räumlichkeit oszilliert zwischen Transaktivität und Kontrolle. Diese Entwicklung führt zu neuen Formen. Lucia Santaella (2000: 7) hierzu: "The first significant defining power of hypermedia lies in the hybridization of languages, sign processes, codes, and media which it puts into action."

Im Computerspiel gehen Schriftzeichen in komplexe Zeichengebilde ein. Die Integration getrennter Zeichensysteme wird durch den Computer verstärkt und beschleunigt. Schmitz schreibt hierzu (1997): "Computer vermehren barocke Zeichenflut". Text, Bild und Ton realisieren alle fundamentale Bedeutungssysteme, die unsere Kultur konstituieren, jedes durch je spezifische Mittel und Formen und mit den eigenen Möglichkeiten und Beschränkungen.

Durch die Hyperlinks sind zahlreiche Elemente des Bildschirminhalts wie durch einen Schalter oder "GOTO-Befehl" (Rosenberg 1999) mit anderen Zeichen verbunden. Einfaches Anklicken genügt, um diese sofort in Erscheinung treten zu lassen. Berressem (2000) spricht vom link als Falte. Anstatt uns räumlich von einem Ort zum nächsten zu bewegen, faltet sich uns der neue Raum oder das neue Level entgegen. Dadurch eröffnet der Computerbildschirm einen semiotischen Raum, zu dem der Bildschirm als Eingang dient und durch den der Bildschirm "tomographische Schnitte" legt. Diese "tomographischen Schnitte" ermöglichen im Idealfall einen Einblick in die zugrundeliegenden Strukturen des Computerspiels.

Ein wesentliches Kennzeichen der digitalen Medien ist, dass in ihnen Genre und Modi verschmelzen. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung liegt darin begründet, dass einerseits traditionelle Medien durch Hypermedien simuliert werden und dass andererseits der spezifische technische Aspekt der digitalen Medien und die Möglichkeit der Interaktivität oder zumindest Transaktivität berücksichtigt werden muss. Hybridität wird als bewusste Mischung unterschiedlicher Stile verstanden und somit als "Doppelkodierung, bei der die Stile miteinander kollidieren und sich wechselseitig in ihrer Geltung relativieren.... Der Begriff stellt ... die Verbindlichkeit eines künstlerischen Kanons und kultureller Normen ebenso in Frage wie die Unterscheidung von hoher und niederer Kultur" (Goetsch 1997: 136). Der Begriff hybrid verweist auf einen Zwischenbereich zwischen Sprache und Kultur, in dem das digitale Medium angesiedelt werden muss. Hybridisierung kann als Vermischung von Materialien und Zeichensystemen verstanden werden, die bis zu Beginn unseres Jahrhunderts als distinkt angesehen wurden. Diese Entwicklung kulminiert im Medium Computer, das Thomsen (1994: 48) als die eigentliche Hypermaschine unseres Jahrhunderts bezeichnet und als Materialisierung und Symbol unserer hybriden Kultur versteht. Hybridkultur kann dann als Überschreitung von einer materiellen zu einer immateriellen Ästhetik, von analogen zu digitalen Medien verstanden werden und damit als eine Kultur, die traditionelle Kunstformen und Medienkunst vereint. Prinzipien, die wir seit Beginn des Jahrhunderts sehr wohl kennen wie z.B. Collage werden jetzt im elektronischen Prozess der Hybridisierung verwendet. Neu ist ihre Dynamik und ihr Prozesscharakter.

Dennoch reicht die Entwicklung von einer analogen zu einer digitalen oder von einer materiellen zu einer immateriellen Kultur nicht aus, um diese als hybrid zu bezeichnen, da ja gerade der Begriff hybrid nicht die Ablösung eines Zustandes durch einen anderen bezeichnet, sondern die Verbindung zwischen beiden. Deshalb verortet Thomsen die hybride Qualität unserer Kultur im Medium Computer, dem dominanten und zentralen Medium unserer Kultur. Die Verschmelzung von kritischer Theorie und Technologie, die Landow (1997) als wesentliche Eigenschaft des Computers und des Hypertextes beschrieben hat, spiegelt sich auf der Textebene des Mediums wider. In den digitalen Medien werden alle traditionellen Formen erneut zu Optionen für Kunst und Design. Dies führt zu einer doppelten Codierung. Kunstwerke ebenso wie Artefakte im Allgemeinen gehören sowohl einer Sphäre der Kunst als auch einer Sphäre der Popkultur an. Dies macht auch der Begriff Avant-Pop deutlich, der z.B. die experimentelle Literatur von Mark Amerika bezeichnet. Der Begriff hybride Kultur will gerade auf diesen Zwischenbereich hinweisen aber ebenso auf die Auflösung der Grenzen von Formen und Bedeutungen, die durch die digitalen Medien vorangetrieben wird. Hybridisierung kann also als Phänomen beschrieben werden, das in der Mediatisierung großer Bereiche unser Erfahrung beruht und das in Abhängigkeit von den Fähigkeiten zur Speicherung und zur Bearbeitung von Zeichen der digitalen Medien zu sehen ist. Computerspiele sollen als ein Beispiel dienen, um diesen Prozess der Hybridisierung deutlich zu machen.

Spiele

Betrachten wir die Verwendung des Spielbegriffes, so lassen sich nicht eine unmittelbar systematische sondern eher vielfältige metaphorische Verwendungen nachweisen. Während im Englischen differenziert wird zwischen play und game, ist im Deutschen diese Unterscheidung sprachlich nicht festgehalten. Play bezeichnet eine spezielle subjektive Einstellung zum Spielmaterial, während game institutionalisierte Spielaktivitäten, die ausdrücklich durch Regeln gelenkt werden bezeichnet. Während mit play spontanes Spiel beschrieben wird, sind mit game formale und konventionell festgelegte Ereignisse gemeint. Diese weite Feld, das im Deutschen mit dem Begriff Spiel beschrieben wird, erschwert die Suche nach einer eindeutigen Definition, denn "der Begriff 'Spiel' ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern" (Wittgenstein 1970: §71). Das ist die Verlockung des Wortes Spiel, denn es verführt zum "suggestiven Parcours der Analogien" (Matuschek 1998: 3). Da seine Verwendungsmöglichkeiten keine Eingrenzung auf eine eindeutige Bedeutung zulassen, die klar von den metaphorischen Verwendungen abzugrenzen wäre. Eine prototypische Bedeutung wäre dann die "imaginäre Merkmalsschnittmenge aus allen verschiedenen Verwendungen" (ebd.).

Dietmar Kemper meint hierzu, "das Spiel zu definieren, heißt, seinem Wesen zuwiderhandeln. Definitionen beziehen sich immer auf fest umreißbare, feststellbare Sachverhalte. Das Spiel hat es aber an sich, eher quicklebendig zu sein und den Anschein von Freiheit zu haben, also auch gegenüber Definitionen sehr hartnäckig zu sein. Man kann es vielleicht mit einer Gegenüberstellung versuchen: Spiel und Ernst sind in einer Polarität, und Spiel und Arbeit sind in einer Polarität. Wenn man sich dem Thema so nähert, dann ist es meines Erachtens angemessener, als von vornherein eine Definition zu erwarten" (Kemper 2000). Eben diese Meinung vertreten auch Gebauer und Wulf (1998: 187), wenn sie sich Wittgenstein anschließen und die Frage: "Was ist ein Spiel?" vermeiden. Diese Frage führe zu einer Suche nach einem eindeutigen Merkmal oder einer eindeutigen Definition, die der Vieldeutigkeit des Spielbegriffes nicht gerecht werden würde. Die Frage nach den Prinzipien, mit deren Hilfe die Familienähnlichkeit von Spielen konstruiert wird, ist ihrer Meinung nach angemessener, da es nicht nur einen Gegenbegriff zu Spiel gibt: Arbeit, aber auch Alltagswirklichkeit, Ernst, das Zweckbestimmte, das Nützliche, das Notwendige, der Zwang, das Profane sind alles Oppositionen zu Spiel. "Bei einer solchen Fülle an Oppositionen besteht das Besondere des Spiels offenkundig nicht darin, dass diesem einzig und allein ein Begriff entgegengesetzt werden kann, sondern es liegt in dem nicht-eingrenzbaren Wechsel der Aspekte" (Gebauer&Wulf 1998: 190). Das Spiel kann als ein Medium, ebenso aber als eine Gestaltungsform beschrieben werden, in der die verschiedensten Aspekte der Ich-Welt-Auseinandersetzung zueinander in Beziehung treten (cf. Schäfer 1989: 28). Heidemann (1968: 9) zeigt, dass der Spielbegriff keinem "Feld der Gegenstände" zugeordnet werden kann. Er ist weder allein dem Naturbegriff noch dem Freiheitsbegriff zuzuordnen. Er gehört ebenso in den Bereich des Ästhetischen und in die Bildhaftigkeit, ohne jedoch allein in der Anschauung aufzugehen. Dies macht die "ontologische Ambivalenz" (Heidemann 1968: 10) des Spielbegriffes aus.

Indem ich Wittgenstein folge, werde ich keine Definition von Spiel anbieten. Da Spiel durch Familienähnlichkeit beschrieben werden kann, ist es ein offener, vielschichtiger Begriff und nicht ein Set notwendiger und ausreichender Bedingungen (cf. Ryan 2000). Die einzige notwendige Bedingung scheint darin zu liegen, dass Spiele durch Regeln konstituiert werden. Der offene und flexible Charakter des Konzepts zeigt, dass es nicht ein spezifisches, prototypisches Spiel gibt, das uns sofort in den Sinn kommt, wenn wir an Spiel denken. Die innere Struktur eines Spiels kann durch seine Regeln und Begrenzungen festgelegt werden. Während ein Gesellschaftsspiel dem Spieler bereits die Regeln zum Spielen explizit vorschreibt, ist dies bei einem Computerspiel anders. Seine Regeln müssen wir selbst Beim Spielen entdecken. Die Regeln selbst können zum Spielmaterial werden, indem sie auf eigene Weise durchbrochen werden. In Computerspielen haben wir die Möglichkeiten sogenannte Cheats einzugeben – also zu Mogeln. Diese Cheats stellen einen Eingriff in das zugrundeliegende Computerprogramm dar und verändern den Kode des Programms. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu anderen Spielen. Auch wenn in Absprache die Spieler die Regeln modifizieren können, so gilt diese Absprache doch nur für das eine Spiel und die aktuelle Spielsituation. Cheats hingegen, können tiefgreifender in das Spiel eingreifen. Ein wesentlicher Spaß beim Spielen eines Computerspiels ist es daher auch, die Cheats zu finden und auf diese Weise das Spiel "auszutricksen".

Spiele und Medien lassen sich hinsichtlich ihrer Strukturen vergleichen. Beide folgen Regeln, die eine individuelle Ordnung und einen spezifischen Stil kreieren. Wesentlich ist ihre von unserer Alltagserfahrung unabhängige zeitliche und räumliche Sphäre innerhalb einer konstruierten Welt. Sie operieren in einem Raum eingeschränkter Gültigkeit. Es entsteht eine Situation in der die Spieler eines Spiels ihr Spielen reflektieren und somit auf einer Metaebene handeln (Ursula Baatz 1993). Ein Vergleich zwischen Spiel und Medien führt zu weiteren Eigenschaften, die beiden inhärent sind: Dynamik, Ritual, Verführung und "So-Tun-Als Ob" erhellen die kulturelle Funktion von Spielen und Medien. Computerspiele machen uns zu Spielern in der Sphäre der digitalen Medien.

Computerspiele

Ihr Welterfolg begann unauffällig in Kinderzimmern mit Gameboy und Spielekonsolen. Mittlerweile hat der jährliche Umsatz der Computerspiele längst Hollywoods "Traumproduzenten" überholt. Längst sind die kletternden Gorillas wie in Dongkey Kong oder die bissigen Pfannkuchen wie Pack-Man abgelöst worden. 1994 bereits hieß der Schlager des Jahres Myst. In Myst und seinen Nachfolgern fließt kein Blut, fallen keine Schüsse. Nur ein computeranimierter Wind weht durch surrealistische menschenleere Landschaften, die es von einem Fluch zu erlösen gilt. Was für Myst gilt, gilt auch für die ganze Gattung der Computerspiele, die als Adventures bezeichnet werden und auf die ich mich hier beziehen möchte. In den Adventures verdrängen epische Handlungsbögen die Baller-Quickies der früheren Jahre. Ging es in diesen um Schnelligkeit und Geschicklichkeit, ist in den Adventures jetzt Phantasie und scharfer Verstand gefragt.

Computerspiele erzählen natürlich weniger in Worten als vielmehr in Bildern und ihren Abfolgen. Dabei machen sie Spuren der Vernetzung und des Digitalen deutlich. Dies erfolgt nicht mehr allein über narrative Repräsentationen von Welten – sei es sprachlich oder bildlich – sondern über den Einsatz von Software und zum Teil sogar über die Reflexion des Mediums, das neue Darstellungsformen erlaubt und verlangt. Sie erzählen somit – wie jede Literatur zuvor - die Geschichten der Menschen, allerdings jetzt in neuer Form und unter veränderten Bedingungen: simulierte, technisch erzeugte Existenzen verlangen neue, technisch erzeugte bedeutungstragende Systeme. In deren Entwicklung stehen wir noch ganz am Anfang. Hierzu meint Charlier (2000): "Es wäre leichtfertig, die Erwartungen an die "Erzählmaschine" zu nah an das zu binden, was wir entweder von der herkömmlichen Erzählung zwischen Buchdeckeln oder der "Zählmaschine" und ihren mehr oder weniger geglückten Verwendungen zur Produktion ästhetischer Effekte schon kennen. Ob Literatur oder nicht: Dass der Computer mit Myst oder Riven zur "Erzählmaschine" wird, ist nicht zu bestreiten, die narrative Kraft dieser Spiele ist enorm."

Narrativität

Den Begriff Narrativität verwende ich hier im Sinne von Jon Adams (1996a), der diesen als eine besondere Form des Zeichengebrauchs versteht, der sich in der Relation zwischen dem Akt des Erzählens und dem erzählten Text manifestiert. Dies eröffnet die Möglichkeit räumliche und zeitliche Strukturen einer Erzählung ebenso wie ihre Konstruktion bzw. Re-Konstruktion im Prozess der Interpretation zu beleuchten. Ein solcher dynamischer, pragmatischer Ansatz ist die Grundlage für eine Interpretation der Narrativität in Computerspielen, wenn man ihren interaktiven Charakter berücksichtigen will.

Wenden wir uns aber zunächst dem Märchen und dem mündlichen Geschichtenerzählen zu. Mündliches Geschichtenerzählen erscheint in einer großen Varietät von Formen und Erscheinungen: von spontanen Erzählungen persönlicher Erfahrungen, zum Erzählen von Witzen und Anekdoten, Wiedererzählungen von Erfahrungen anderer, reiner Berichterstattung bis hin zum Entwurf imaginärer Szenarien. Es ist ein langer Weg zur kulturell institutionalisierten Form wie z.B. Märchen oder Legende. Neben diesen Varietäten mündlicher Diskurse muss auf die Interaktion zwischen Mündlichkeit, Performanz und Narrativität hingewiesen werden.

Die meisten narrativen Theorien beschreiben Narrativität als statisch und räumlich und berücksichtigen dabei nicht ihr wesentliches Kennzeichen: nämlich die zeitliche Dimension des Narrativen, die nicht als reine Chronologie zu verstehen ist. Modelle des Narrativen wie die Märchenanalyse Propps und Bremonds versuchen die zeitliche Dimension des Märchens zu erfassen, reduzieren diese dabei jedoch auf ihre chronologische Dimension. Propp (1975) isoliert Bestandteile des Märchens nach bestimmten Merkmalen und Funktionen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass alle Märchen hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ bilden. Funktionen sind die Handlungen einer Person, die unter dem Aspekt der Bedeutung für die gesamte Handlung des Märchens bewertet werden. Ein Beispiel für eine Funktion ist, wenn der Held in den Besitz eines Zaubermittels gelangt, wie dies in den meisten Adventures (der King's Quest Serie, Myst, Riven, der Lara Croft Serie u.a.) der Fall ist. Die Anzahl der Funktionen - also der möglichen Handlungen einer Person - ist begrenzt, im Märchen ist ihre Reihenfolge stets die gleiche. Diese stets gleiche Reihenfolge lässt sich so strikt nicht auf Computerspiele übertragen.

Die Grundelemente des Märchens - die Funktionen - fügen sich zu einer Kette zusammen und bilden Sequenzen (moves).

Märchen

 

Sequenz 1 Sequenz 2 Sequenz3

 

 

Funktion 1 Funktion 2 etc.

(Schädigung) (konfliktlösende Funktion)

Diagramm 1: nach Gülich & Raible (1977: 199)

Für das Zaubermärchen - das im Folgenden im Zentrum der Analyse steht - fasst Propp dies folgendermaßen zusammen: "Morphologisch gesehen, kann als Zaubermärchen jede Erzählung bezeichnet werden, die sich aus einer Schädigung oder einem Fehlelement über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt" (Propp 1975: 26). Modelle des Narrativen (wie zum Beispiel von Propp und Bremond) die sich auf die heldenhafte Abenteuergeschichte (das Märchen) beziehen, geben als typische Sequenz an: Abreise des Helden in der Suche nach einem Abenteuer. Der Held erlebt eine Reihe von Merkwürdigkeiten und Gefahren, die er überwinden muss, um schließlich zu guter Letzt siegreich nach Hause zurückzukehren. Eine reine Akkumulation der Episoden in ihrer Abfolge ist uninteressant. Dass die Episoden chronologisch aufeinander folgen und durch kausale Verbindungen miteinander zusammenhängen, ist offensichtlich. Interessant ist doch vor allem die Richtung, die die Entwicklung nimmt und die sich von Entscheidung zu Entscheidung des Helden ändern kann (wie Bremond deutlich macht). Das heißt, dass die narrativen Episoden zunächst provisorischen Charakter haben und vor allem mögliche Wege anbieten. Diese Provisorien sind in der Tat Teil unserer Handlungsschemata und unserer alltäglichen Erfahrungen. Abhängig von unseren Zielen, die unsere Handlungen direkt beeinflussen, ebenso wie abhängig von äußeren unvorhersehbaren Ereignissen, die unsere Pläne stören oder eine andere Richtung nehmen lassen. Diese Erfahrung ist Teil einer vor-narrativen/vor-sprachlichen Basis (die Paul Ricoeur als Mimesis I bezeichnet; cf. Fludernik 1996).

In schriftlichen Texten findet ein Transfer der oralen Erzählerfahrung in literarische Protagonisten und konstruierte Einheiten statt. Die Figur des Erzählers stellt einen solchen Transfer dar. Die mündliche Erzählsituation verlangt nach einem Erzähler, der eine Geschichte erzählt; dieser findet sich in der Transformation der niedergeschriebenen Erzählung wieder. Wenn es eine Geschichte gibt, muss es jemanden geben, der diese erzählt.

Es findet die künstliche Projektion einer semiotischen Struktur statt, der der Leser als konstruierte "Realität" begegnet. Um diese zu interpretieren, begibt sich der Leser auf die Suche nach anwendbaren Konzepten, um dem Neuen und unerwarteten Bedeutung zuzuordnen. Es ist nicht nur die Darstellung oder Abbildung menschlicher Erfahrung, sondern das Erschaffen einer möglichen Welt durch die Rezeption eines Lesers oder Zuhörers. Dies bezeichnet Monika Fludernik (1996) als den kulturellen und literarischen Prozess der Interpretation.

Narrativität ist eine grundlegende Kategorie des menschlichen Verhaltens, ein Bedürfnis sich in narrativen semiotischen Modellen zurechtzufinden. Modelle, die ihren Ursprung im mündlichen Erzählen haben.

Märchen

Ursprünglich wurden als Märchen nur die mündlich überlieferten, vor allem von Erwachsenen erzählten und gesammelten Volksmärchen bezeichnet. Märchen, die Mythen über die Entstehung des Kosmos erzählen und Zaubermärchen sind die bekannteste Gattung der Märchen. In den Zaubermärchen sind Menschen, Tiere, Feen, Zauberer, Hexen, Riesen, Zwerge, Trolle, Geister der Toten und Teufel die handelnden Personen. In Symbolen und Bildern werden Weisheiten und Erlebnisse dargestellt, und allgemein menschliche Probleme guten Lösungen zugeführt - mit dem Ziel Lebenshilfen anzubieten. Märchen schulen unsere symbolische Wahrnehmung.

In unserer Vorstellung sind Märchen verbunden mit dem Wunderbaren, Schönen, das immer nur erhofft aber selten erlebt wird. Zugleich allerdings auch verbunden mit Realitätsferne, dem Unmöglichen, Unerreichbaren und der Lüge, wie der Ausspruch "Erzähl doch keine Märchen" zeigt.

Das Märchen hat seine eigene Zeit und seinen eigenen Ort; es lässt uns den Strom der realen Zeit vergessen und entführt uns an einen wunderbaren unbestimmbaren Ort, der zwischen Traum und Wirklichkeit liegt. Der Schrecken unserer Welt wird nicht ausgesperrt, aber es werden Lösungen zum Umgang mit diesem Schrecken angeboten. Ebenso wie Märchen enthalten Computerspiele die große Hoffnung, dass das Böse aus der Welt verschwinde. Märchen sind eine Mustersammlung der Ambivalenzkonflikte und Fragen der Identifikation im Prozess der Reifungsschritte.

Die Möglichkeiten literarischer Entlehnungen sind wahrhaft unausschöpflich. Neben dem Kunstmärchen finden wir neuere Formen wie die Literaturgattungen Fantasy und Science Fiction, die häufig als moderne Märchen bezeichnet werden. Als eine weitere Form des modernen Märchens möchte ich dieser Liste die Adventures hinzufügen. Warum diese Ergänzung ihre Berechtigung hat, will ich an einem Beispiel verdeutlichen: King's Quest 7.

King’s Quest 7 ist eine Legende aus dem Königreich Daventry in dem die Königin Valenice und ihre Tochter Prinzessin Rosella als Protagonisten im Mittelpunkt stehen. Beide erleben vor der Traumhochzeit der Prinzessin die erstaunlichsten Dinge.

Das Spiel ist in 6 Kapitel gegliedert, 3 erzählen von Valanice, 3 von Rosellas Erlebnissen. Rosella hat sich in eine hässliche Trollfrau verwandelt und soll jemanden heiraten, der an Prinz Charles erinnert (Prinz Charles musste häufig in Karikaturen als ein Beispiel für einen unerwünschten Bräutigam herhalten). Deshalb ist Rosella aus ihrem Schlafzimmer in die Halle geflüchtet und hat sich auf die Suche nach Zutaten für eine Zaubersuppe gemacht, die die Verwandlung wieder rückgängig machen kann. Die Einleitung kommt uns bekannt vor. Eine junge wunderschöne Prinzessin soll heiraten, weigert sich aber, weil sie noch nicht in die verantwortungsvolle Welt der Erwachsenen eintreten möchte und sich ihre kindlichen Freiheiten bewahren will. Vielleicht sagt ihr ja auch die für sie vorgesehene traditionelle Frauenrolle nicht zu? Dies ist ein typisches Motiv, das wir z.B. im Froschkönig finden. Die Identifikation mit dem Helden oder der Heldin der Geschichte ist ein wichtiger Aspekt der Märchen. Während in Märchen die zentrale Figur oft eine junge Frau oder ein Mädchen ist, gilt dies für die Computerspiele nicht. Ihr Held ist fast immer ein kleiner Junge. Es wird ganz deutlich eine bestimmte männliche Zielgruppe von den Herstellern angesprochen. Kyrandia 2 oder King’s Quest 7 waren lange Zeit die Ausnahme.

Königin Valenice aus King's Quest 7 Prinzessin Rosella aus King's Quest 7

Mit Lara Croft und Ryan aus Drakan haben neue Heldinnen das Feld erobert, die einerseits Mädchen ansprechen sollen, andererseits durch ihre sexualisierte Barbiepuppen Darstellung auch für Jungen durchaus interessant sind.

Für ein Computerspiel ist die zentrale Rolle der beiden Frauen Rosella und Valenice in King’s Quest also eher ungewöhnlich. Nicht nur das wir weibliche Heldinnen haben, sondern auch ihre Dopplung und dadurch die Dopplung der Erzählmuster ist neu. Beide treten durch den (Wasser-)Spiegel in eine andere Welt ein. Es handelt sich in beiden Fällen zunächst um eine märchenhafte Welt. Rosella landet in einer Welt der Trolle, selber in einen Troll verwandelt und Valanice in einer Wüstengegend, in der wir Figuren und Erlebnissen aus Alice im Wunderland wieder begegnen (z.B. der Hase, die kleinen Eingänge durch die Valanice nicht hinein kann, auch der (Wasser-)Spiegel erinnert an Alices Abenteuer). Alices Wunderland und das Land hinter dem Spiegel sind Orte in denen die Gesetze von Zeit, Raum, Sprache und Logik teilweise aufgehoben sind. Die kuriosen Ereignisse führen dazu, dass wir - ebenso wie Alice - beim Spielen eines Computerspiels beständig auf der Suche nach Zeichen sind, die uns den Weg durch dieses elektronische Wunderland zeigen. Die angebotenen Interpretationen dieser Zeichen (der Prozess der Semiose) sind oft unverständlich, gestört und abweichend von unserem alltäglichen Zeichengebrauch (cf. Nöth 1980).

Während Märchen uns schnelle Lösungen präsentieren, die wir staunend als Zuhörer oder Leser mit verfolgen, sind wir in Computerspielen in die Situation versetzt, selber die zum Teil sonderbaren und wunderlichen Lösungen für den Weitergang des Spiels entdecken zu müssen. Aber wir haben viele Leben und unendlich viele Versuche, bis wir die ungewohnte und eigentümliche Zeichenhaftigkeit der vielzähligen Computerwelten erlernt haben - eine Eigenart, die das Computerspiel vom Märchen wesentlich unterscheidet, ist, dass wir alle beweglichen Gegenstände einsammeln sollten, weil wir nie wissen, ob und wofür wir sie noch einmal brauchen werden.

Im letzten Kapitel treffen beide Protagonistinnen wieder zusammen, ein Prinz taucht auf, der Traumprinz, der "selbstverständlich" ohne Widerstand als Bräutigam akzeptiert wird. Die Lösung ist typisch märchenhaft. Die gewählten Personen erinnern leider zu sehr an die Disney-Verfilmungen der Märchen, die in ihrer verkitschten Darstellung zu einer Verflachung erstens der Ambivalenzkonflikte und zweitens der Fragen der Identifikation führen und den Märchen ihr starkes emanzipatorisches Potential gänzlich rauben. Und dies gilt nicht nur für King’s Quest 7 sondern für alle mir bekannten Adventures, die sich aus dem Inventar der Märchen bedienen.

Myst und Riven stellen eine völlig andere Form eines modernen Märchens dar. Während wir uns in King’s Quest in die handelnden Heldinnen hineinversetzen müssen, erleben wir in Myst und Riven die Welt direkt aus unserer Perspektive. Während Myst und Riven ihren Nutzern Erfahrungen in konstruierten Welten anbieten und implizit auf die Möglichkeiten der elektronischen Verbindung (den sogenannten hypertextuellen links) aufmerksam machen, lernt man dennoch nichts über die eigene Existenz oder die Gedanken anderer. Es findet innerhalb des Spieles keine Reflexion statt. Computerspiele lassen uns im besten Fall ahnen, in welche Richtung sich multimediale Literatur entwickeln könnte (cf. die Ausstellung p0es1s, URL: http://www.p0es1s.com). Myst ist nur teilweise ein Beispiel für die Gattung der sogenannten fantastischen Literatur (und ist daher mit Märchen vergleichbar), ihm fehlt aber das wesentliche Element der Ambivalenzkonflikte, der handelnden Personen, die wir aus einer Beobachterperspektive und durch Identifikation verfolgen. In Myst werden wir selber zum Handelnden und ohne Vermittlung oder Brechung durch einen Protagonisten einer unbekannten Welt ausgesetzt.

Magie

Zaubertechnik und magisches Denken gehören untrennbar zusammen. Magie ist gleichzusetzen mit Dienstbarmachen, einer magischen Technik oder zwingenden Handlung. Von besonderer Bedeutung ist der Berührungszauber. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein äußerlicher Kontakt auch zu einer inneren Beziehung führe, bzw. das Dinge, die einmal zusammengehörten, etwas von der Essenz des Ganzen auch nach der Trennung enthalten (cf. Petzoldt 1981). In Myst sind fehlenden Buchseiten mit dieser magischen Bedeutung erfüllt. Magie wird zur Zaubertechnik. King's Quest behält die mittelalterliche Vorstellung von Magie und die Unterscheidung zwischen weißer und schwarzer Magie bei. Diese Unterscheidung ist weniger ein Unterschied in den Methoden des Zauberns als vielmehr in der Zielsetzung. Weiße Magie ist erwünscht oder zumindest geduldet - schwarze Magie ist identisch mit Schadenszauber. Viele der in Märchen benutzten magischen Mittel beruhen auf der Wunschvorstellung, Räume und Zeiten mühelos zu überwinden. In Myst und Riven wird die mittelalterliche Zaubertechnik vor allem zu Technik, die sich häufig an der Grenze zwischen modernen technischen und elektronischen Codeschlössern und Magie befindet.

Eine Skizze für die Zahnradwelt in Myst

Die Pointe der Adventures besteht darin, dass das traditionelle Element des Zaubermärchens in einen unerwarteten Kontrast zu rationalen Überlegungen tritt. Das naive Märchengeschehen erlebt hierbei eine Brechung. Komische Wirkungen treten durch Verfremdungseffekte und Vermischung unterschiedlicher Erzähltypen ein, sowie durch Abwandlung der Pointe. Im Beispiel von King's Quest haben wir Kapitel, die Märchenhaftes wie z.B. im Froschkönig mit Fantastischem wie in Alice im Wunderland verbinden, neben Kapiteln, die eindeutig ihr Repertoire aus der Gattung der Grusel- und Geistergeschichte entlehnen.


Ein Blick aus dem Leuchtturm in Myst

In den modernen Märchen, zu denen auch die Computerspiele teilweise gerechnet werden können, finden wir eine Modernisierung der Requisiten. Computerspiele sind keine mündlich erzählten Märchen mehr. Sie zeigen das Märchen nicht mehr in ihrem primär-authentischen Naturzustand, sondern in einer weiterentwickelten dritten oder vierten Generation - nach der Adaption des Märchen durch Bühne, Cartoons und Comics einerseits und Verkitschung durch Film und Video andererseits. Das Märchen wird entzaubert und weicht einer oft vordergründiger Ernüchterung und Materialisierung.

Dennoch ist das Computerspiel nicht völlig mit der Kategorie "modernes Märchen" zu beschreiben. Dies liegt zum einen in der hypertextuellen Basis der Computerspiele begründet. Das heißt, dass wir nicht einer einzigen vorgegebenen Chronologie folgen müssen, sondern ständig vor Entscheidungen gestellt werden, die die Richtung der weiteren Handlung beeinflussen. Bestimmte Aufgaben müssen zwar erfüllt werden, um zu einer Lösung des Spiels zu gelangen, aber die Reihenfolge der Ereignisse ist austauschbar. King's Quest lässt uns z.B. die Wahl, mit welchem Kapitel wir das Spiel beginnen wollen und in welcher Reihenfolge wir die Abenteuer durchleben. In Myst ist die Reihenfolge, in der wir die Welten erforschen abhängig von Zufällen: entdecken wir zuerst den Öffnungsmechanismus der Raumschifftür, beginnen wir dort, gelangen wir zuerst in das Zahnrad hinein, stellt diese Welt unsere erste Spieletappe dar. Dieser interaktive Charakter der Computerspiele unterscheidet diese grundlegend von traditionellen literarischen Gattungen. Ein weiterer Aspekt, der die Anwendbarkeit narrativer Theorien in Frage stellt, ist der Einsatz unterschiedlicher Medien: wir haben hier eine Mischung aus mündlich erzählten Passagen, in denen Figuren die Erzählerfunktion übernehmen, visueller Darstellung zum Teil statisch wie im Cartoon, meist dynamisch wie im Film, wenn Videosequenzen als Überleitung von einem Level zum nächsten fungieren, neu verbunden mit der eigenen aktiven Beteiligung bei der Konstruktion der Geschichte. Die einfache klare Struktur des Märchens wird erweitert und dynamisiert, zugleich durch Übernahme von archetypischen Figuren und Symbolen zitiert.

Interaktion

Interaktion und Interaktivität scheinen in den 90ern zum inflationär verwendeten Leitmotiv zu werden. Aber Interaktivität bedeutet nicht nur Teilnahme, sondern Beeinflussbarkeit durch einen Rezipienten. Geht man von dem Begriff "Interaktivität" aus, so kann man ihn erst einmal aus dem lateinischen mit "Zwischenhandlung" übersetzen. Gemeint ist das "Miteinander-in-Verbindung-treten" zwischen Kommunikationspartnern. Der Begriff "Mensch-Computer Interaktion" wurde in den 80er Jahren gewählt, um die Kommunikation von Mensch und Computer zu beschreiben. In Bezug auf Computersysteme beschreibt der Begriff Interaktivität die Eigenschaften von Software, d.h. die Eingriffs- und Steuermöglichkeiten des Rezipienten. Im Idealfall findet ein wechselseitiger Dialog von Mensch und Computer statt. Daniels (2000: 142) fragt, ob es sich bei Interaktivität um eine Ideologie oder eine Technologie handelt. Er führt dies anhand der Positionen Brechts und Turings aus: "Turing entwickelt aus der reinen Mathematik die wissenschaftlichen Grundlagen der technologischen Machbarkeit der Mensch-Maschine-Kommunikation bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Brecht hat seine Theatertheorie auf die Medien übertragen und erkennt die sozialen und politischen Wirkungen einer von immer perfekteren Medienmaschinen geprägten Mensch-Mensch Kommunikation. Die Spannbreite zwischen diesen Positionen einer technologischen bzw. einer sozialen Auffassung von Interaktivität bleibt bis heute bezeichnend für die Debatte zu Cyberspace und Internet über die wechselseitige Beeinflussung von Medientechnik und Gesellschaftsstruktur."

Die Interaktion von Publikum, Werk und Künstler wird bereits in den Happenings der 60er zu einem bestimmenden Element der Ästhetik. Mitmachen und nicht länger Konsumieren ist das Stichwort. Der Begriff Intermedia versucht diese Kunst von Happening und Fluxus zu beschreiben (cf. Daniels 2000: 144). Ähnliche Modelle der Interaktion wie in den Künsten werden zu einer Veränderung der Rolle der Medien z.B. von Enzensberger entwickelt. In den 90ern ist die Medientechnologie zum bestimmenden Leitmotiv geworden und der Begriff der Interaktivität wird mit diesen - vor allem den digitalen Medien - verbunden. Daniels (2000: 146) merkt hierzu an: "Die Technik des Interface und die Regeln der Software geben den Rahmen einer solchen technologisch definierten Interaktion vor, die sowohl zwischen Mensch und Mensch mittels der Maschine als auch nur zwischen Mensch und Maschine stattfinden kann." Das Spielen eines Computerspiels vergleicht Daniels mit einer freiwilligen Selbstkonditionierung in der Interaktion mit industrieller Software. Die Interaktion entpuppt sich zumeist als Etikettenschwindel, denn sie ist nur im Bereich dessen möglich, was durch den Programmierer im Programm vorgegeben ist. Deshalb sprechen einige der experimentellen Schriftsteller denn auch von transactional art, also Transaktion und nicht Interaktion. Schreitmüller (2000) hat anhand der Geschichte der Textadventures nachgewiesen, dass die Interaktionsmöglichkeiten mit dem Adventure abgenommen haben – ganz entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass uns die Entwicklung der Technologien eine Zunahme an interaktiven Möglichkeiten eröffnet. Erzählt wir in Computerspielen zunehmend wieder unilinear allerdings nicht in erster Linie durch Texte sondern durch Bilder und Videosequenzen, die die Funktion von Überleitungen zwischen den einzelnen Leveln haben. Zwischen diesen narrativen Sequenzen bewegen wir uns durch das Spiel zumeist innerhalb eines vorgegebenen recht engen Rahmens. Gunnar Liestøl (2000) postuliert, dass wir die Möglichkeiten der digitalen Medien immer als Zusammenspiel von bereits existierenden Konzepten und Technologien zu bewerten haben. Elemente wie interaktive Videos, virtuelle Realitäten und künstliche Intelligenz sind in unsere heutigen Computerspielen integriert. Sie erzählen Geschichten auf eine neue Art und Weise und unter veränderten Bedingungen. Das Ergebnis dieses Verbundes von spielerischer "Selbstkonditionierung" und Erzählung ist ein hybrides System mit neuen Möglichkeiten für das Erzählen aber vor allem für den Erwerb einer neuen Medienkompetenz.

 

Literatur:

Aarseth, Espen. 1997. Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature. Url: http://www.hf.uib. no/cybertext/default.html.

Adamowsky, Natascha. 1997. "Der intermediäre Raum des Spiels." In: Markus Krajewski & Harun Maye (eds.). Verstärker: Von Strömungen, Spannungen und überschreibenden Bewegungen. URL:
http://www.culture.hu-berlin.de/verstaerker/vs002/adamowsky_spiel.html

Adams, Jon-K. 1996a. Narrative explanation. A pragmatic theory of discourse. Frankfurt/ Main.

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