Mimesis

Versteht man Mimesis als Repräsentation und Darstellung von Welt, dann stellt sich die Frage, "ob diesem Darzustellenden eine von der Darstellung unabhängige Existenz zukommt" (cf. Iser 1991: 481). Die dargestellten Dinge sind nicht Abbilder der Wirklichkeit, sondern eher Erinnerungsbilder eines Beobachters. Diese Erinnerungsbilder sind das Ergebnis von Wahrnehmungen, die bereits semiotischen Bedingungen unterliegen. Daraus ergibt sich, daß eine Abbildung vorgegebener Wirklichkeit "an sich" gar nicht möglich ist. Mimesis muß dann nicht einfach verstanden werden als Nachahmung von Wirklichkeit, sondern als konstruktiver Akt, als Konstruktion von Welt. Dabei setzt Mimesis ein allgemeines Vorverständnis der semiotischen Kodierung voraus, die im Falle der literarischen Mimesis im Prozeß des Lesens aktualisiert wird (cf. Iser 1991, Jauß 1982). Mimesis ist Kennzeichnung der Produktion einer symbolischen Welt und somit Vermittler zwischen wahrgenommener Welt und Kodierung. Mimesis bezieht sich also immer auf "das Reale", das Iser (1991: 20) so definiert:

Das Reale ist ... als die außertextuelle Welt verstanden, die als Gegebenheit dem Text vorausliegt und dessen Bezugsfelder bildet. Diese können Sinnsysteme, soziale Systeme und Weltbilder genauso sein wie etwa andere Texte, in denen eine je spezifische Organisation bzw. Interpretation von Wirklichkeit geleistet ist. Folglich bestimmt sich das Reale als die Vielfalt der Diskurse, denen die Weltzuwendung des Autors durch den Text gilt.

Am Beispiel des Mediums Sprache läßt sich aufzeigen, auf welche Art und Weise Welt geordnet und klassifiziert wird. Aber sprachliche Darstellungen klassifizieren nicht nur, sie bauen auch eine Welt auf (cf. Goodman 1978, Bruner 1986). Mimesis wird zur "Weise der Welterzeugung" ("ways of worldmaking"): Wenn es statt Wirklichkeit nur konstruierte Welten gibt - bei Goodman (1978: 102) "fact from fiction" - bedeutet dies nicht nur eine Veränderung des Mimesisbegriffs, sondern auch des Begriffs Fiktion. Die Modi der Welterzeugung werden nicht in einer wirklichen Welt vorgefunden, sondern in eine konstruierte Welt eingefügt (Goodman 1978: 27). Sie sind konstruktive Prozesse von Welterzeugung in Abhängigkeit von einem Kodifizierungssystem, das nicht nur die Möglichkeit der Beschreibung von Welt, sondern gleichzeitig die Prägung von Welt beinhaltet. "Die Beschreibungsabhängigkeit unseres Wissen über die Welt legt den Gedanken nahe, diese als symbolisch konstituiert anzunehmen. Sprachliche Darstellungen haben nur innerhalb eines Referenzrahmens Gültigkeit" (Gebauer & Wulf 1992: 27). Mimesis ist demnach nicht einfach Nachahmung, und Sprache nicht ein direktes Abbild der Dinge. Es sind verschieden Ordnungsschemata, die sich mimetisch, oder nach Peirce ikonisch, in der Sprache wiederfinden.

Der Text als Welt ist verbunden mit dem aristotelischen Begriff der Mimesis, also mit der Vorstellung eines Als-Ob. Eine mögliche Welt ist nach Eco eine "möblierte" Welt und nicht der lineare Diskurs des Textes. Sie entsteht erst durch die kooperative Interaktion zwischen Leser und Text. Das Handeln eines Lesers besteht darin, das angebotene Territorium zu erforschen. Das freie Spiel des So-Tun-Als-Ob und das Rollenspiel verbindet das Konzept Spiel mit dem der möglichen Welt (Ryan 1997). Es entsteht eine Situation in der die Spieler eines Spiels ihr Spielen reflektieren und somit auf einer Metaebene handeln. Ursula Baatz (1993) beschreibt dieses Handeln als Vermittlung zwischen Realität und Spiel. Für den Text bedeutet dieses "Als-Ob" Konstruktion oder Rekonstruktion einer textuellen "Realität". Gemeint ist damit in der Diskussion der narrativen Theorie, daß der Text inhaltlich eine "eigene Welt" oder "Realität" aufbaut.

Wird der Text selbstreflexiv als "Realität" verstanden, wird er somit zur Origo für den Leser. Unter diesem Aspekt bieten Hypertexte ebenso wie die Idee der "möglichen Welten" Strukturen an, nicht aber eine spezielle Struktur oder Welt. Hypertexte als mögliche Welten führen uns direkt zu der Frage der Simulation. Als elektronischer Text ist der Hypertext immer ein aufgeschobener. Die elektronischen Technologien schaffen einen Zwischenraum zwischen Autor bzw. Leser und Text. Wir arbeiten mit Oberflächen von Textfragmenten, während uns der Zugang zur Materialität des Textes verborgen bleibt.

Ja, wir können sogar eine zunehmende Tendenz feststellen, die logische Struktur eines Hypertextes und die äußere Struktur zu trennen. Nehmen wir als Beispiel die Skriptsprache html, auf der die Texte des WWW basieren. War es zunächst zumindest noch für die Autoren von Hypertexten im WWW dringend erforderlich, diese Textauszeichnungssprache zu beherrschen und die Zusammenhänge zwischen logischer Struktur und Ergebnis des Hypertextes zu kennen, so ist dies durch Entwicklung einer ganzen Reihe von Editoren, nicht mehr erforderlich. Dies führt zu einer Trennung, die die Dopplung der Repräsentationsebenen verschleiert. Die Materialität des Textes ist nicht mehr zu identifizieren, was zu einer Flüchtigkeit der Zeichen führt, die charakteristisch ist für den Computer als ein Medium der Mediensimulation. Nake (1997/98) spricht von quasi- immateriellem Charakter, der die semiotische Natur des Mediums Computer und die Natur von Software verdeutlicht. Hypertext als ein Programm zur Erzeugung von Texten, kann hiermit durchaus verglichen werden. Ich zitiere Nake:

Denn, was da so erscheint, als sei es immateriell, und doch nicht leugnen kann, unabhängig von uns, also stofflich zu sein, das kann gar nicht anders sein, als Relation. Im relationalen Charakter von Software liegt ihre Zeichenhaftigkeit. (27)

Der relationale Charakter - oder nach Landow (1997) die Verbindung durch links - ist das Charakteristische des Hypertextes im Unterschied zu traditionellen Texten. Durch diese links werden die Relationen exteriorisiert und es wird explizit gemacht, was im traditionellen Text implizit durch eine Vielzahl von Möglichkeiten der Junktion oder auch des intertextuellen Bezuges enthalten war.

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