Schrift und Bild in Bewegung [Ausstellung und Fachkongreß in München]
Netzkunst: Künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten
von Hyperfiction und Hypermedia Sonntag, den 28. Mai 2000 | 11.00 - 13.00 Uhr
In ähnlicher Form
erschienen in: Elektronische Literatur (Fußnoten zur Literatur, 47), hrsg. von Timo Kozlowski und Oliver Jahraus, Universität Bamberg 2000, S. 12ff.
7 Thesen zur Netzliteratur
von Johannes Auer
Lassen sie mich statt eines Statements
7 Thesen vortragen. Sieben, weil das eine übliche, eingeführte
und magische Zahl ist - die 7 Geislein und 7 Tage.
Ich beschäftige mich seit 1996
theoretisch
und praktisch
mit Netzliteratur, Hyperfiction und Hypermedia. Meine Thesen waren und
sind (also) auch Arbeitshypothesen. Ergebnisorientiert werde ich zu jeder
These ein richtig oder falsch ausgeben oder in Programmiersprache ausgedrückt
ein true or false. Zwischentöne, das Unentscheidbare findet sich im
Unpräzisen und Ungefähren, das durch Widersprüche entsteht.
These 1
Im Internet ist jeder Leser gleichzeitig
Autor, da er über die Links, die er anklickt, die Textgestalt bestimmt
oder anders ausgedrückt, er collagiert oder kombiniert beim Lesen
seinen Text, stellt sich beim Lesen seinen Text her.
Diese These ist falsch da das Konzept
des Wreaders (also des Lesers (reader), der gleichzeitig Autor (writer)
ist, nur als Ideologie funktioniert. Denn (und ich beziehe mich hier auf
Überlegungen von
Uwe Wirth) genau in dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur,
bzw. auf eine interne Kohärenz verzichten (die von einem Autor/Autorenkollektiv
vorbedacht ist), um sich ganz den Entscheidungen des Lesers zu öffnen,
werden sie inhalts- und sinnlos. D.h. in einem fiktionalen Text muß
die Entscheidungsmöglichkeit es Lesers immer durch die Regisseure
oder Autoren beschränkt werden.
These 2
Dennoch ist das traditionelle Konzept
des Autors, der ein "Werk" erschafft, allein durch die technischen Bedingungen
und medialen Möglichkeiten des Internets in Frage gestellt. Die Tendenz
zum Dialog der Künste und Künstler im 20 Jahrhundert, die Reinhard
Döhl konstatiert, findet im Internet ihre konsequente Fortführung.
Diese These ist richtig. Als Konsequenz
eines multimedialen Mediums, das sehr gute Computer- und - im Idealfall
- Programmierkenntnisse voraussetzt, könnte zwar letztlich der "uomo
universale", das technisch versierte filmende, malende, schreibende Universal-
und Orginalgenie stehen, ein nun wirklich überholtes Konzept - oder:
es entstehen Kooperationen zwischen Programmierern, Schriftstellern und
Künstlern - kurz: kollaborative Kunstwerke.
These 3
Der Hyperlink ist das A und O der
Netzliteratur.
Diese These ist falsch. Der Link ist
zwar aktuell das strukturelle und ästhetisches Mittel zur Gestaltung
von fiktionalen Texten im Internet. Künftig sind auch andere Möglichkeiten
denkbar. Die Computer-Maus, die wie ein Wahrheitsdetektor emotionale Zustände
des Benutzers erkennen kann, ist schon in Arbeit. Akustisch oder optisch
gesteuerte Interfaces ebenfalls. Wenn also Interaktivität ein Grundmerkmal
der neuen medialen Kunstform ist, so findet diese Interaktivität ihre
Beschränkung vor allem im Interface. Kommt die Emo-Maus sind beispielsweise
fiktionale Texte denkbar, die auf die emotionalen Zustände des Lesers
reagieren.
These 4
Netzliteratur darf nur im Netz möglich,
also nicht verlustfrei auf einem lokalen Datenträger speicherbar sein.
Diese These ist falsch. Üblicherweise
wird unterschieden zwischen elektronischem Text, digitalem Text und Netzliteratur.
Dabei wäre das Merkmal des elektronischen Textes, dass er das Internet
nur als neue Distributionsform nutzt, im übrigen traditioneller, druckbarer
Fließtext bleibt. Digitaler Text wäre Literatur, die den Computer
genuin ästhetisch nutzt, allerdings auf lokale Datenträger speicherbar
ist (wie beispielsweise die ganze amerikanische Hyperfiction um Michael
Joyce). Wahre Netzliteratur wäre gekennzeichnet durch das Computernetz
als ästhetische Bedingung und einzige Existenzmöglichkeit.
Letzteres ist mir zu puristisch. Ich
denke auch digitale Literatur kann Netzliteratur sein. Entweder dadurch,
dass sie z.B. Möglichkeiten von Browsersoftware ästhetisch nutzt,
also von Komponenten der Bildschirmoberfläche, durch die sich in der
Regel das Internet für uns visualisiert (ich denke hier an Susanne
Berkenhegers Hilfe!
oder Olia Lialinas "My
Boyfriend came back from the war").
Oder auch dann wird digitale Literatur
zur Netzliteratur für mich, wenn sie, beispielsweise während
des Entstehungsprozesses zu den Bedingungen des Internets kommuniziert,
also beispielsweise per E-mail kollaborativ erarbeitet wurde oder als "work
in progress" in einer Mailingliste oder auf einer Webpage veröffentlicht,
sich der Diskussion stellte. Last but not least kann auch durch den Rezeptionsprozess
digitale Literatur zu Netzliteratur werden.
These 5
Das, was wir als ästhetisches
Produkt auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, hat, wenn es Netzkunst ist,
zwei weitere Ebenen, eine technische (Programmierung) und eine soziale
(Interaktion der Nutzer).
Das ist absolut richtig und diese These
stammt von Reinhold Grether der diese drei Ebenen Desk, Tech, Soz benannt
hat. Dabei können diese Ebenen jeweils ein verschiedenes Gewicht einnehmen.
Mit dem letztweihnachtlichen etoy/etoys
Konflikt, bei dem eine Internetfirma gegen eine Künstlergruppe vorzugehen
versuchte und durch "den Toywar" einer Straf-Performance der Netz-Community
die Hälfte ihres milliardenschweren Börsenwertes einbüßte,
dieser Toywar, gerade beim Prix Ars Electronica mit einer lobenden Erwähnung
ausgezeichnet, dieser Toywar hat aufs eindrucksvollste die Bedeutung der
Soz-Ebene bestätigt. Dass Reinhold
Grether diesen Toywar im Rückgriff
auf Beuys als soziale Plastik bezeichnete, führt
weiter zur nächsten These.
These 6
Internetkunst reaktiviert alte Avantgardekonzepte.
Erstaunlich aber wahr. Ein gutes, altes
Avantgardekonzept ist die Selbstreferentialität. Also die Untersuchung
der Mittel der Kunstproduktion und ihre Reflexion. So rückte im Impressionismus
die Farbe ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung, der Kubismus
thematisierte die Bildoberfläche oder Nam June Paik untersuchte alles,
was man mit dem Videomonitor nicht machen sollte etc...
Im Netz visualisiert Lisa
Jevbratt mit großem Programmieraufwand die technischen Infrastruktur
des Internets. Netzkunstduo Jodi
wurde von seinem Provider vor die Tür gesetzt, weil es mit einem Javascript
die Surfsoftware der virtuellen Besucher zum Tanzen brachte. Es gibt als
Kunstprojekt einen Webshredder,
der auf Wunsch jede wohlgeordnete Website durch den virtuellen Fleischwolf
dreht und auch der Assoziationsblaster,
Gewinner beim letztjährigen Ettlinger Literaturwettbewerb, zeichnet
sich durch "Materialprüfung" aus, wie Tilman
Baumgärtel das ironisch nennt, beim Assoziationblaster wird die
assoziative Verknüpfung des Hyperlinks zum Thema.
These 7
Netzliteratur ist lesbar.
Ja natürlich! Allerdings unter
der Voraussetzung, dass mit dem genuinen Material des Netzes gearbeitet
wird als Ausdrucksmittel für Inhalte.
Selbstreferentielle Ironiespiele (Beispiel:
der Assoziationsblaster)
erschöpfen sich meines Erachtens ebenso schnell, wie bloße Illustrierungen
von postmoderner Theorie.
Kurz: die Notwendigkeit der Kongruenz
von Inhalt und Form gilt auch im Internet. Und als gutes Beispiele für
eine so gewonnene Lesbarkeit möchte ich abschließend nochmals
auf Susanne Berkenhegers Hilfe!
verweisen, das gerade durch die Kongruenz von Inhalt und Form überzeugt.
Michael
Charlier hat in seiner Laudatio zum Ettlinger Literaturwettbewerb sehr
richtig hervorgehoben, dass der Bildschirm der Lebensraum von "Hilfe!"
ist und dass die Windows und Rahmen vor unseren Augen zu Personen werden,
die miteinander reden und jeweils ihre eigene Geschichte erzählen.
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