,,Das
Internet die Wunschmaschine, die Plage, die Sucht!''
Sabrina Ortmann: Netz
Literatur Projekt.
Entwicklung einer neuen Literaturform von 1960 bis heute.
von
Beat Suter
Ortmann
berichtet über dies und das. Ihr Tonfall ist der einer Reporterin,
ihre Geschicklichkeit, die einer Live-Kommentatorin aus Wimbledon, die die Pausen der Spielerinnen beim jeweiligen
Seitenwechsel überbrücken muss. Ortmann will es allen
recht Recht machen. So zitiert und verweist sie stets, anstatt Stellung zu beziehen. Die Diskussionen brechen ab, wo sie begonnen
haben.
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"Dieses Buch erzählt
die Geschichte der digitalen Literatur von ihren Anfängen bis heute.
So Werbung und Klappentext für das Buch on Demand von Sabrina Ortmann.
Werbung und Titel des Buches lassen einen hoffen, dass hier jemand sorgfältig
die Fäden von den literarischen Avantgarden wenigstens von
den sechziger Jahren an zu den Netzliteraten von heute spannt.
Doch weit gefehlt: Auf einer einzigen Seite des Buches erhalten wir
kurze Hinweise auf Mail-Art, Fluxus sowie eine Ausstellung
Art by Telephone in Chicago 1969 (S.19). Das war es dann
schon für die sechziger Jahre. Keine Auseinandersetzung mit der
experimentellen Literatur jener Zeit und ihren interessanten Techniken,
mit den Maschinenexperimenten der Stuttgarter, mit der Konkreten Poesie,
der Nähe zur Pop Art etc. Dafür werden wir in kürzester
Zeit vom Fluxus über V. Bush und Engelbart zur Legible City
gezappt (S.19f).
Dann wird uns einmal mehr das WWW erklärt
und schwupps, sitzen wir bereits als Zuhörer vor einer
Präsentation der Internet-Literatur-Wettbewerbe der letzten Jahre
(S.24ff). Ortmann berichtet über dies und das. Ihr Tonfall ist
der einer Reporterin, ihre Geschicklichkeit, die einer Live-Kommentatorin
aus Wimbledon, die die Pausen der Spielerinnen beim jeweiligen Seitenwechsel
überbrücken muss. Ortmann will es allen recht Recht machen.
So zitiert und verweist sie stets, anstatt Stellung zu beziehen. Die
Diskussionen brechen ab, wo sie begonnen haben. Für kritische
Einwände ist Porombka zuständig, für positive Beschreibungen
die jeweiligen Veranstalter und Juroren.
Die Definition des zentralen Begriffs
Netzliteratur nimmt bei Ortmann geradezu mysteriöse
Züge an. Nachdem sämtliche anderen Ansätze als falsch
verworfen worden sind, überascht sie uns mit der glasklaren
Definition es sei an dieser Stelle ein Zitat erlaubt: Netzliteratur
dagegen nutzt die Möglichkeiten eines Netzes und eventuell zusätzlich
die des Computers als Stilmittel. (S.46) Und es geht weiter:
Die Netzliteratur grenzt sich wiederum ab von Hyperfiction,
die sich nur durch die Verwendung von Links von herkömmlicher
Literatur unterscheidet, und anderer Computerliteratur. (S.46)
Abgesehen davon, dass dies eine sehr enge Auffassung von Hyperfiction
ist, fällt auf, wie konturlos die zu Hilfe gezogenen Begriffe
wie Computerliteratur bleiben.
Selbstverständlich braucht es nun auch eine Kategorisierung der
digitalen Literatur, die aufzeigen soll, was denn hinter obiger Definition
von Netzliteratur steckt. Ortmann schlägt dazu drei Begriffe
vor: Literatur im Netz, Computerliteratur
und Netzliteratur (S.48). Am unproblematischsten dabei
ist wohl Literatur im Netz, wenn denn nicht die Aufteilung
in vier Subformen folgen würde. Mit Klassikern meint
Ortmann schlicht digitalisierte literarische Texte. Dann aber wird
es wieder mysteriös: Nicht etwa einzelne Texte, sondern Präsentationsformen
wie Autoren-Homepages, Literatur-Projekte
und Literatur-Magazine sollen Literatur im Netz
sein. Im Abschnitt über Literatur-Projekte (S.50f)
beschreibt Ortmann als Beispiel Guido Grigats 23:40, um
dann im letzten Satz festzustellen, dass dieses Projekt Computerliteratur
sei und keine Netzliteratur. Keine Frage, dass es Schnittmengen
zwischen Kategorien geben kann, doch der geistige Sprung deutet eher
darauf hin, dass ein falsches Beispiel verwendet wurde. Solche Verwirrungen
gibt es auch in den weiteren Kategorien. Als Computerliteratur
bezeichnet Ortmann Hyperfiction, Multimediale
und Computergenerierte Literatur (S.52ff). Einen offenen
Hypertext scheint sie dabei ebenso wenig zu kennen wie multimediale
Netzliteratur.
Die Netzliteratur schliesslich kennt
laut Ortmann vier Formen: Kollaborative Schreibprojekte,
E-Mail-Literatur, Literarische Newsgroups
und MUDs (S.57ff). Schleierhaft ist wiederum, warum mit
literarischen Newsgroups Gefässe, in denen Diskussionen
über Literatur statt finden, literarische Texte sein sollen.
Und warum sich Ortmanns E-Mail-Literatur von Mail-Art- und kooperativen
Projekten der sechziger Jahre die leider nicht zu Rate gezogen
werden unterscheiden sollen, leuchtet ebenfalls nicht ein beziehungsweise
wüsste man gerne. Weiter scheinen Ortmanns favorisierte kollaborative
Schreibprojekte nichts weiter als Hypertexte zu sein, die von
der Kontribution mehrerer Autoren leben und lediglich über einen
gewissen Zeitraum zur Mitarbeit offen bleiben. Dafür ist es für
Ortmann dann problematisch, die tatsächlich in vernetzter Kommunikation
entstehenden kollaborativen Projekte, die MUDs, als Literatur zu bezeichnen.
Ihre Begründung: Es geht schliesslich nicht um das Schreiben
an sich, sondern darum, eine virtuelle Welt zu erschaffen, in der
sich das Spiel entwickeln kann. (S.62)
Worum geht es denn Ortmann wirklich? Um das Schreiben an sich
und nicht um die Entwicklung virtueller und fiktionaler Welten? Geht
denn in der Netzliteratur nicht oftmals beides Hand in Hand? Diese
Abgrenzung deutet auf ein durch und durch traditionelles auktoriales
Literaturverständnis hin. Es geht Ortmann doch nicht etwa um
eine Etablierung der eigenen Projekte und Arbeiten als einzige wahre
Netzliteratur? Immerhin kommt in der Arbeit nichts besser weg als
das selbst initiierte Projekt tage-bau. So kommt Ortmann
denn zum vorgezogenen Schluss, dass die meisten heute im Internet
existierenden Literatur-Sites keine Netzliteratur bieten, sondern
zur Gruppe Literatur im Netz gehören. (S.65) Hyperfiction,
multimediale, hypermediale und computergenerierte Literatur liessen
sich problemlos auf Datenträger transferieren und seien als abgeschlossene
Werke vom Leser nicht zu beeinflussen oder gar zu erweitern. Lange
Antworten hierzu erübrigen sich: Während die Bemerkung zu
den Literatur-Sites irrelevant ist, da der Zweck vieler literarisch
ausgerichteter Websites die Information zum Thema oder einem Teilgebiet
der Literatur ist, ob netzig oder nicht, so ist die Charakterisierung
anderer digitaler Literatur als nur statisch, abgeschlossen und nicht
performativ schon ziemlich gewagt. Im nächsten Abschnitt wird
uns dann auch noch vorgegaukelt, dass E-Mail-Literatur textbasierte
vernetzte Kommunikation in Echtzeit (S.65) sei.
Schliesslich untersucht Ortmann drei exemplarische Netzliteraturprojekte,
zu denen selbstverständlich auch das selbst initiierte Projekt
tage-bau (S.72) gehört. Die Initiantin versucht nachzuweisen,
dass es in ihrem Projekt nicht nur um das Sammeln von Texten, sondern
auch um transzendentale Vernetzung geht: In einer eigenen Mailingliste
diskutieren die Teilnehmer über die Qualität ihrer Beiträge
und über Lust und Frust beim Schreiben. (S.73) Der wichtigste
Aspekt dabei: Die Autoren haben die Möglichkeit einer schnellen
und unabhängigen Veröffentlichung sowie der eigenständigen
Verwaltung ihrer Beiträge (S.77). Der gleiche Schluss folgt auch
bei der Darstellung des Projektes Drei Säulen von Llacaan:
Jeder Autor kann sein Eigenes publizieren.
(S.81) Dies scheint überhaupt der eigentliche Beweggrund für
Ortmanns verschiedenste Aktivitäten im Umkreis von Netzliteratur
zu sein: Die Tatsache, dass das neue Medium es erlaubt, irgendwelche
Texte und Projekte durch die Maschine Netz zu veröffentlichen,
ohne sich der Maschine Literatur stellen zu müssen. Dem ist eigentlich
nichts einzuwenden, wenn denn hier nicht versucht würde, das
Label Netzliteratur mit einer etwas eigenwilligen
Sichtweise für sich einzunehmen und gleichzeitig das eigentliche
Ziel offensichtlich darin besteht, ein Netzliteraturprojekt
wie tage-bau in Buchform der Maschine Literatur entgegen
zu halten. Wie war das noch gleich gewesen; ein Projekt, das sich
auf einen statischen Datenträger speichern lässt, kann keine
Netzliteratur sein?
Zu guter letzt folgt ein Ausblick auf die Zukunft digitaler Literatur,
in welchem einige erstaunliche Einschätzungen zu Tage treten:
Ortmann propagiert unter anderem die automatische Übersetzung
von Literatur, um Sprachgrenzen zu überwinden (S.98) sowie die
Verbreitung von Literatur über Mobiltelefone (S.99). Weiter sagt
sie eine Generation literaturbegeisterter Hacker vorher, die Romane
bereits vor ihrem Erscheinen ins Netz stellen oder gar das elektronisch
gespeicherte Manuskript eines erwarteten Romans vor Erscheinen zu
verändern versuchen werden. Wunschdenken oder Drohung, fragen
wir uns und stellen kopfschüttelnd fest, dass es im Bereich der
Netzliteratur nicht nur Vernetzung, sondern auch viel Verstrickung
gibt: Das Internet kann für manchen wahrlich Wunschmaschine,
Plage und Sucht sein.
"Netz Literatur Projekt"
ist Sabrina Ortmanns Magisterarbeit. Sie wird vom Berliner
Zimmer herausgegeben und ist
als Book on Demand nach "Mein Pixel-Ich" das zweite Buch der Reihe Offline
des Berliner Zimmers. Die Arbeit hat einen Umfang von 129 Seiten und
kostet DM 40.00.
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