von Beat Suter
Der Cyberspace, wie er sich heute präsentiert, ist als eine "offene
Baustelle" zu verstehen, auf der haufenweise kreative Prozesse ablaufen.
Hyperfictions mit ihren experimentellen Konzeptionen gehören zu
den neuen Türmen und Verliesen, die auf dieser Baustelle in einem
ungewöhnlichen, ständigen Auf- und Abbauen entstehen. Hyperfiction
und Netzliteratur sollten deshalb vorläufig unter dem Aspekt des
Experimentellen betrachtet werden. Die entstehenden literarischen Entwürfe
und Hybridformen eröffnen ein spannendes und weites Experimentierfeld,
das neue Grenzziehungen verlangt, seine Konturen jedoch noch herausarbeiten
muss.
- Text im Internet nimmt keine eindeutig prioritäre Stellung
mehr ein, so könnte man meinen, wenn man all die Bildchen, Animatiönchen,
Filmchen und "E-Commerce-Angebote" betrachtet. Denn der Text hat sich
mittlerweile brav neben Bild, Ton und Animation als gleicher Partner
eingereiht. Doch die "Klickibunti" allein machen noch keinen gelungenen
Abend. Wie wichtig Text im Netz noch immer ist, zeigt sich in einer
neuen Studie der Augenfixierungen von Online-Nachrichten-Lesern.
Die Stanford University hat im Poynter
Project die Augenbewegungen von Online-News-Lesern untersucht
und nach 24 000 Mausklicks und 600 000 Augenfixierungen festgestellt,
dass die Mehrheit der Leser sich zuerst auf Text fixiert und nicht
auf Bilder. Erstaunlich auch, dass 75 Prozent der Leser die ganze
Textlänge eines Online-Artikels lesen, Zeitungsleser brechen
viel öfter ihre Lektüre ab. Die Folgerung: Text ist im
Internet nach wie vor viel wichtiger als oft angenommen wird.
- Der Hyperfiction-Autor ist ein universaler Künstler: Schriftsteller,
Programmierer und Gestalter in einem. Ein Universalgenie wie im 18.
Jahrhundert? Er beherrscht nicht nur das theoretische Instrumentarium
der neuesten Kommunikations- und Medientheorien, sondern ist stark
praxisorientiert und verknüpft sowohl computertechnologische
als auch soziale und künstlerisch-ästhetische Kompetenz.
Hinzuzufügen ist hier vielleicht noch: Der Autor hat teilweise
auch keine Wahl; er muss die wichtigsten Tools kennenlernen und
mit ihnen umgehen können, will er denn vorwärts kommen
und sobald er einmal damit begonnen hat, kann er nicht mehr
aufhören, denn nun muss er mit den Software-Entwicklungen Schritt
halten.
- Hyperfiction als Genre steckt in einer experimentellen Frühphase
und sollte immer unter dem Aspekt des Experimentellen betrachtet werden.
Man darf schlichtweg nicht mit dem althergebrachten Verständnis
an die Sache gehen, dass mit den Hyperfictions perfekte, abgeschlossene
Meisterwerke entstehen, sondern muss immer Offenes, Unfertiges und
Experimentelles erwarten, bzw. man muss eine Verlagerung der Erwartung
einkalkulieren, nämlich vom Autor weg zum Leser oder Nutzer hin.
- Pauschal formuliert begegnen wir heute in den Hyperfictions einem
Sender als Herausgeber oder Produzenten, der mittels Schreiben und
Programmieren das Regelwerk und die narrativen Möglichkeiten
des virtuellen Fiktionsraumes entwickelt, und einem Empfänger,
der als "Performer" eine aktive Rolle einnimmt und eine Geschichte
"nachschreibt".