Vortrag und Demonstration
bei den Solothurner
Literaturtagen 25. bis 27. Mai 2001
in: Literatur in Westfalen, Beiträge zur Forschung 8 (2006), Aisthesis-Verlag
2006, S. 295ff.
Reinhard Döhl, Johannes Auer:
Text - Bild - Screen // Netztext - Netzkunst
Figurata // Emblem
Text im Bild // Marcel Duchamp
verwischte Kunstgrenzen // Kurt
Schwitters
Suppendosen Konzepte // Andy Warhol
Die Stuttgarter Gruppe
Screen und Mouse // 2 Ebenen der Netzkunst
Beispiele
Reinhard Döhl:
Figurata, Emblem
Johannes Auer und mir geht es im Folgenden weniger um eine Hyperfiction-Lesung,
was auch immer das ist, als vielmehr um eine Demonstration dessen, was
uns persönlich an Netztext bzw. Netzkunst möglich scheint, überzeugt
davon, daß ihre Entwicklung neben dem Text zunehmend das Bild mit
einschließt. Die im Folgenden vorgetragenen Überlegungen und
Beispiele sind dabei, wie viele unserer Stuttgarter Projekte, dialogisch
auf dem Wege der e-mail diskutiert und vorformuliert worden und wollen
diese dialogische Struktur auch nicht leugnen. Ein erstes Drittel unserer
Ausführungen wird historisch-theoretischer Natur sein. Zunächst
aber ganz konkret ein wenig Lyrik, gelesen mit der Maus.
Kill the Poem von
Johannes Auer
Solche Hervorbringungen interessieren uns nicht nur im Umfeld der aktuellen
Entwicklung vom Netztext zur Netzkunst, sondern zugleich im größeren
historischen Zusammenhang eines Wechselspiel zwischen Schrift und Bild.
Kunst- bzw. kulturgeschichtlich wären die Wurzeln dieses Spiels bei
den Technopaignia, den Figur(en)gedichten der griechischen Alexandriner
und Bukoliker und in der Emblemdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts,
ihrer besonderen Text-Bild-Kombination zu suchen.
Das Figur(en)gedicht begegnet bereits sehr früh, im 3. Jahrhundert
vor der Zeitwende. Eines der bekanntesten Beispiele ist die
Syrinx des Idyllendichters Theokritos,deren rätselhafter Text
über das Erkennen des Bildes hinaus vom Leser zusätzlich enträtselt
werden will, was aber heute mein Thema nicht ist.
In der Renaissance beginnt man, sich wieder dieser Figurentexte zu erinnern,
greifen Scaligers "Poetices libri septem" das Genre poetologisch auf.
Im 17. Jahrhundert erlebt das Figur(en)gedicht eine Blütezeit auch
in der deutschsprachigenen Literatur,
Kornfeld: Eine Sand-Uhr
um dann bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit zu
geraten.
Im 20. Jahrhundert, zuerst vereinzelt (Christian Morgensterns "Trichter"),
dann mit den "Calligrammes" Guilleaume Apollinaires auf breiterer Basis
einsetzend, findet das Figur(en)gedicht schließlich in der visuellen
Poesie eine eigene Ausprägung, weltweite Verbreitung, Übersetzung
und diesmal auch Popularisierung bis ins Schullesebuch:
Apfel
Decken sich in diesen Beispielen - zustimmend oder auch im Widerspruch
- Text und Bild, ist bei ihnen der Text das Bild, das Bild der Text, stehen
beim Emblem des 16./17. Jahrhunderts Text und Bild in Korrespondenz: einer
Überschrift (Lemma, Inscriptio) folgt das illustrierende Bild (Pictura),
das durch eine Unterschrift (Subscriptio), oft in Gedichtform, ausgedeutet
wird:
Insignia Poetarum / Der Poeten Wappen
[aus: Andreas Alciatus: Emblematum Libellus (Paris 1542)]. Auch diese
Text und Bild verbindende Literaturgattung ist in der Folgezeit allenfalls
noch in Spuren, so in emblematischer Bildlichkeit, aufspürbar, um
etwa gleichzeitig mit dem Figur(en)gedicht im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen
zu werden, am radikalsten und zugleich reduziertesten in Kurt Schwitters'
"i-Gedicht".
Johannes Auer: Text im Bild // Marcel Duchamp
1915 geht in New York ein Mann in ein Eisenwarengeschäft
an der Columbus Avenue, kauft eine Schneeschaufel trägt
sie nach Hause und schreibt auf den Schieber: "In advance of the broken
arm" (in Vorwegnahme des gebrochenen Arms), signiert sie und schaufelt
damit der Kunst des 20. Jahrhunderts entscheidend neue Bahnen. Der Schaufelkäufer
war Marcel Duchamp, und sein signiertes Objekt gilt vielen als sein erstes
richtiges Ready-made, ein Kunstwerk, bei dem eine industrielles Fertigprodukt
qua Betitelung und Signatur zum Kunstwerk erhoben wird.
Zweierlei scheint mir daran von besondere Bedeutung. Einerseits der Schöpfungsakt,
der die Kunstproduktion vom handwerklichen löst und ganz in die deklarative
Willkür des Künstlers legt, andererseits die Bedeutung des Werktitels,
der erst das Kunstobjekt miterschafft.
"Wie kann man Werke schaffen, die keine 'Kunst'-Werke sind", notierte
Duchamp als Frage 1913 auf einen Zettel und beantwortete diese u.a. mit
der Erfindung des (der) Ready-made(s). In einem Brief an Hans Richter
schrieb er: "als ich die Ready-mades entdeckte meinte ich jedwede Ästhetik
zu entmutigen".
Zentral für Duchamps Werk ist die Ablehnung dessen, was er das rein
"Retinale" nannte, also eine Kunst, die den ästhetischen Reiz nur
an der Oberfläche, im komponierten Bild, im optischen Spiel sucht.
Wenn Duchamp sich gegen das bloß Retinale ausspricht, zielt er auf
Kunstwerke, die mehr sind als ihre äußere Gestalt, auf Werke,
die auf eine Idee, ein Konzept verweisen.
Werke, die keine Kunstwerke sind und konzeptuell begründet, auf diese
Formel lassen sich Duchamps Arbeiten vielleicht verkürzen.
Und von besonderem Interesse ist dabei der Bildtitel. Schon vor den Ready-mades
hat Marcel Duchamp dem Bildtitel eine wichtige, mitgestaltende Aufgabe
zuerkannt:
"(Ich) habe dem Titel immer eine bedeutende Rolle beigemessen, und ich
fügte ihn am Schluss hinzu und behandelte ihn wie eine unsichtbare
Farbe". Das heißt, erst der Bildtitel, die unsichtbare Farbe, vollendet
das Gemälde. Wenig später geht Duchamp sogar dazu über,
den Titel direkt und prominent auf das Bild zu schreiben, zum Beispiel
in seinem kubistischen Werk "Akt eine Treppe herabsteigend", und verursachte
einen grandiosen Aufruhr in der "Armory"-Ausstellung 1913 in den USA.
Duchamp selbst erkannte das Provokative daran. Calvin Tomkins führt
in seiner klugen und materialreichen Duchamp-Biographie an, dass Duchamp
immer behauptet habe, dass die Reaktionen auf seinen Akt in erster Linie
mit dem Titel zu tun gehabt hätten. Tomkins: "Akte kamen in der Kunst
nun einmal nicht die Treppe herunter, und man schrieb bei Gemälden
nun einmal nicht den Titel auf die Leinwand". (Tomkins, S. 66)
Dabei sind Duchamps Titel durchaus literarisch. Duchamp hat sich zeitlebens
und nicht nur bei Wortspielen als Autor betätigt. Es sind von ihm
erfundene Titel, also nicht irgendwelche Themen der klassischen Ikonographie
oder deskriptive Beschreibungen. Auch sah Duchamp als wichtige Inspirationsquelle
die Literatur: "Ich hatte das Gefühl, dass es für einen Maler
sehr viel besser war, sich von einem Schriftsteller beeinflussen zu lassen
als von einem anderen Maler". (Zit. nach Tomkins, S.112)
Interessant vielleicht eine Widersprüchlichkeit bei den Ready-mades.
Während Duchamp die Kunstproduktion auf die Auswahl eines fertigen
Gebrauchsgegenstandes reduziert, das Objekt also allein durch die Auswahl
des Künstlers zum Kunstwerk macht, bleibt er bei der Titelerfindung,
die ja komplementär erst das Werk mitvollendet, traditionell schöpferisch.
Er erfindet den Titel: "In advance of a broken arm". Anders ausgedrückt,
der Objektauswahl beim Ready-made müßte eigentlich konsequent
eine entsprechende Titelauswahl folgen, also beispielsweise das Durchblättern
einer Zeitung und die Festlegung einer Headline als passenden Titel für
das Ready-made. Bei Texten und Titeln bleibt Duchamp jedoch immer wortverliebt.
Ich fasse zusammen. Duchamp versucht Werke zu schaffen, die keine Kunstwerke
mehr sind. Dabei spielen Objekt oder Bild und Titel eng zusammen, schaffen
gemeinsam das Kunstprodukt. Allerdings nicht selbstgenügsam. Duchamp
lehnt ja gerade das rein Retinale ab, also Kunstwerke, die sich formal
und ästhetisch selbst genügen. Wie beim Emblem, auf das Reinhard
Döhl gerade eingegangen ist, soll auch bei Duchamp Wort und Bild
über sich hinausweisen, nicht mehr wie im Emblem auf eine Auslegung,
sondern auf eine Idee, auf ein künstlerisches Konzept.
Reinhard Döhl: verwischte Kunstgrenzen // Kurt Schwitters
Auch die Rolle und Bedeutung Kurt Schwitters' für die Kunst des 20.
Jahrhunderts wird erst allmählich erkannt. Das gilt für seine
Ansätze akustischer, konkreter und visueller Literatur, die Entdeckung
der Banalität, des Fundstücks wie die Vermischung der Kunstarten.
Ich möchte dies durch Zitate wenigstens andeuten.
"Nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern
aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlicher Werkzeuge"
bediene sich seine MERZ-Malerei, hielt Kurt Schwitters z.B. fest, um fortzufahren,
daß es dabei "unwesentlich" sei, "ob die verwendeten Materialien
schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht". Der Künstler
schaffe "durch Wahl, Verteilung und Entformelung der Materialien" und
erstrebe dabei "unmittelbaren Ausdruck durch die Verkürzung des Weges
von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes".
Zur Vermischung der Kunstarten schrieb er: "Die Beschäftigung mit
verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis.
Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes
meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart,
sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk,
das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit.
Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt.
Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß
die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder
und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich
habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine
plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der
Kunstarten zu verwischen."
Die literarischen Konsequenzen, die Kurt Schwitters für sich gezogen
hat, markieren - vor dem Hintergrund seiner MERZ-Malerei und der "verwischten"
Kunstgrenzen - das "Gesetzte Bildgedicht" (1922) auf der einen und auf
der anderen Seite die seit 1923 wiederholt in Auszügen, 1932 vollständig
veröffentlichte "Ursonate". Zwischen beidem ordnen sich als Vorstufen,
aber auch als Sonderaspekte die "elementar"-Texte und das auf die pure
Materialität des Buchstabens zurückgeführte "i-Gedicht"
(1922).
Dieses Gedicht stellt - wie bereits angedeutet - in seiner Reduktion die
radikalste und zugleich banalste Form eines Emblems vor, dessen Elemente
dennoch vollständig gegeben sind: in der Überschrift ("Das i-Gedicht"),
der Pictura (einem aus dem Setzkasten zusammengesetzten i) und der Subscriptio
(in Form des Merkverses: "lies: 'rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf'").
Kurt Schwitters hat nicht sehr viele selbst oder von anderen "gefundene"
"i-Gedichte" veröffentlicht, sie aber 1923 theoretisch als sprachliche
Fundstücke (und den bekannteren Ready-mades Marcel Duchamps durchaus
vergleichbar) verteidigt:
"Ich habe diesen Buchstaben [i] zur Bezeichnung einer spezialen Gattung
von Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint,
wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunstwerke sind insofern
konsequent, als sie im Künstler im Augenblick der künstlerischen
Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerkes sind
hier dasselbe. - Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden
Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus
ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht,
d. h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen
als Kunstwerk empfunden werden kann. [...] - Die einzige Tat des Künstlers
bei i ist Entformelung durch Begrenzung eines Rhythmus. [...] Wer nun
denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich.
Es ist viel schwerer als ein Werk durch Wertung der Teile zu gestalten,
denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und
selten findet man, wo man nur zuzugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu
erhalten."
Johannes Auer: Suppendosen Konzepte // Andy Warhol
Was fällt ihnen ein wenn sie an Suppe denken? Die '5 Minuten-Terrine',
Maggi, Unox, 'unvergleichlich gut' und Knoten in Suppenlöffeln? Gut
ich frage präziser: Was fällt Ihnen ein wenn sie an Tomatensuppe
und gleichzeitig nicht an Maggi, Unox, und 'unvergleichlich gut' denken?
Ich bin sicher: ganz spontan sehen sie vor ihrem inneren Auge große
Leinwandmalereien, auf denen die "Campbells Tomato Soup" prangt.
Und doch war der erste gedankliche Umweg über die Minuten-Terrinen
Werbung für das Folgende nicht uninteressant. Der Kunsthistoriker
Beat Wyss schreibt in seinem Buch "Die Welt als T-Shirt":
"Spätestens seit Andy Warhol (und Andy Warhol ist ja genau der Maler
der 'Campbells Tomato Soup') spätestens seit Andy Warhol, also, ist
klar, dass zwischen Kunst und Werbung kein Unterschied besteht", "Amerikanische
Pop-Art ist Affirmation an die Welt der Werbung und des Konsums, ohne
Hintertreppen der Subversion (...) Kunst ist ebenso angewandt, wie Werbung
frei ist". (WaT, S. 117)
Ohne Wyss Aussage weiter diskutieren zu wollen, möchte ich hinzufügen:
eben auch aus dem Grund, dass in der Werbung, wie in der Pop Art, Text
und Bild eine selbstverständliche Koexistenz eingehen, und ich erinnere
hier stellvertretend an Warhols "Brillo"-Waschmittel- Bilder, wie an Lichtensteins
Comic-Adaptionen.
Warhol und die amerikanische Pop-art gelten als Neo-Dada und in ihrer
Feier des industriellen Fertigproduktes als direkte Nachfahren von Marcel
Duchamp und seinen Ready-mades.
Duchamps Haltung zur Pop-art, zum Neo-Dada war hingegen durchaus ambivalent.
Was Duchamp schal aufstieß, war die kritiklose Hingabe an die Schönheit
der Gebrauchsgegenstände:
"Als ich die Ready-mades entdeckte, vermeinte ich jedwede Ästhetik
zu entmutigen. Beim Neo-Dada haben sie meine Ready-mades genommen und
in ihnen eine ästhetische Schönheit entdeckt. Ich warf ihnen
den Flaschentrockner und das Urinal
ins Gesicht, und nun bewunderten sie sie um ihrer ästhetischen Schönheit".
Kurz: Duchamp lehnte die Popartisten wegen ihres rein retinalen, also
kritiklosenen Ästhetizimus ab. Auch das Wort, bei Duchamp wichtiges
sinnstiftendes Moment seines Kunstkonzeptes, ist bei einem Warhol oder
Lichtenstein zum bloßen Dekorum, zum semantisch Bedeutungslosen,
rein optischen Reiz geworden. Ob Brillo oder Campbell zu lesen ist, ist
nicht inhaltlich wichtig sondern abgemaltes Attribut der Vorlage.
Und doch gesteht gerade Duchamp Warhol auch ein konzeptuelles Moment zu.
Im Hinblick auf die Suppendosenbilder sagt er, sie seien nicht so sehr
von retinalem als von konzeptuellen Interesse:
"Wenn man eine Campbell-Suppendose nimmt und sie 50mal wiederholt, interessiert
man sich nicht für das retinale Bild. Was einen interessiert, ist
das Konzept, das einen veranlaßt, 50 Campbell-Suppendosen auf die
Leinwand zu bringen".
Mit dieser Äußerung verweist Duchamp auf ein höchst spannendes
Textverständnis. Text jetzt in seinem ursprünglichen Sinn als
"Gewebe, Geflecht" verstanden. Wenn Warhol 50 Suppendosen malt, oder seine
Monroe-Reihe, die nur in den Farben variiert, so entsteht genau in der
Serie, im Zusammenklang des Ähnlichen ein Geflecht, die Maschen eines
Wahrnehmungs-Gewebes oder anders ausgedrückt: es entsteht ein Text.
Reinhard Döhl: Die Stuttgarter Gruppe
In den 50er Jahren, also etwa gleichzeitig mit den Anfängen der Pop-Art
gruppierte sich in Stuttgart um Max Bense und seine Zeitschrift "augenblick",
seit 1960 die Publikationsfolge "rot" und die "Studiengalerie" der damals
noch Technischen Hochschule, eine Gruppe junger Wissenschaftler und Künstler,
die ihr Interesse, dem damaligen literarischen und wissenschaftlichen
Konsenz zum Possen, auf kritische Sprachphilophie und Semiotik, auf exakte
Aesthetik, Informations- und Texttheorie, und in den Künsten auf
die Kulturrevolution zu Beginn des Jahrhunderts richteten.
Will man die künstlerischen Arbeiten der Stuttgarter Gruppe, die
mich im Folgenden ausschließlich interessieren, bis Ende der 60er
Jahre in ihren wichtigsten Punkten zusammenfassen, wäre hervorzuheben:
Ihr praktisches wie theoretisches Interesse an experimenteller Literatur
und Kunst, speziell an einer konkreten Poesie in ihren visuellen und akustischen
Spielformen des permutationellen, visuellen, aleatorischen und akustischen
Textes (vgl. die zahlreichen akustischen Spiele und Partituren).
hat sich die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh bereits
- im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur - für das
Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und Computergrafik interessiert,
wobei uns die von Swift beschriebene Maschine der Akademie von Lagado
ebenso wie die Bilder-Maschinen bzw. die Maschinen-Poesie des Manierismus
als historische Vorläufer durchaus geläufig waren.
Anders ausgedrückt: ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis
offenen Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse
an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien
und Aufschreibsystemen.
Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 des "augenblick" veröffentlichte
der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit Hilfe der Großrechenanlage
ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der TH Stuttgart ausgegebene "Stochastische
Texte", in dem er referierte, daß die "ursprünglich [...] für
die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik
entwickelten programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen" eine "Vielfalt
der Anwendungsmöglichkeiten" böten. Für die Benutzer derartiger
Rechenanlagen sei "nicht entscheidend, was die Maschine" tue, "wichtig
[...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine" interpretiere.
Die Stuttgarter Gruppe/Schule "interpretierte" wissenschaftlich, indem
sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher
erstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen
nutzte. Sie "interpretierte" aber auch literarisch, indem sie das Verfahren
der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies,
"mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen
Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben". Ich darf die wichtigsten
Ereignisse der folgenden 10 Jahre stichwortartig zusammenfassen:
Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte
aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für
uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max Bense
kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie
unterschied.
1960 hält Piere Barbaud im Studium Generale der TH Stuttgart einen
Vortrag "Der künstliche Komponist".
1961 berichtet Max Bense einem Vortrag auf den "Morsbroicher Kunsttagen"
über die Stuttgarter Schreibexperimente und löst heftige Reaktionen
aus.
1962 erscheint in der Reihe "rot" Abraham A. Moles' "Erstes Manifest der
permutationellen Kunst".
1963 werden unabhängig voneinander in Stuttgart und Erlangen die
ersten Grafiken von digitalen elektronischen Rechenanlagen mit Hilfe eines
Zeichengerätes hergestellt.
Derart computergenerierte Grafik wird erstmals am 4. Februar 1965 in einer
in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung in der Studiengalerie
der TH Stuttgart von Max Bense eröffnet, der 1968 auch die Anregung
zu der von Jasia Reichardt im "Institute of Contemporary Arts" in
London erarbeiteten Ausstellung "Cybernetic Serendipity" gibt, nachdem
dort bereits 1965 eine für den Grenzbereich Literatur/Bildende Kunst
ähnlich wichtige Ausstellung, "Between Poetry and Painting", ebenfalls
mit Stuttgarter Assistenz, gezeigt wurde.
Eine von der Stuttgarter Edition und Galerie Hansjörg Mayer und der
Siebdruckerei Domberger edierte Mappe "16 4 66" enthält neben Computergrafiken
Frieder Nakes auch mit Lichtsatz montierte "Coldtypestructures" und Gedichte
von Klaus Burkhardt und mir, die heute jeder leicht auf seinem PC herstellen
könnte.
1969 erscheinen die "poem structures in the looking glass" von Klaus Burkhardt
und mir vollständig in der Reihe "rot".
1970 sendet der WDR meinen Radio-Essay "Sprache und Elektronik. Über
neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen und rezipieren".
1970/1971 wird in großen Ausstellungen in Zürich und Amsterdam
das Etikett "konkrete Poesie" bereits in Frage gestellt, ist nurmehr von
Text, Buchstabe, Bild bzw. akustischen und visuellen Texten die Rede.
Beide Ausstellungen sind unter Stuttgarter Beteiligung aufgebaut, die
Zürcher Ausstellung ausschließlich von Felix Andreas Baumann
und mir konzipiert und realisiert worden.
1972 verbindet die Stuttgarter Staatsgalerie in der Wanderausstellung
"Grenzgebiete der bildenden Kunst" "Bild Text / Text Bilder", "Computerkunst"
und "Musikalische Graphik".
Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" Wissenschaftler
und Künstler trafen, ging es retrospektiv um diese Entwicklung, aber
auch um die internationalen Wechselbeziehungen der "Stuttgarter Gruppe
/ Schule". Kurze Zeit später beginnen Johannes Auer und ich, in der
Tradition früherer Stuttgarter Experimente (Computertext und -grafik;
konkrete und visuelle Poesie), die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten
des Internets zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den
Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben,
wobei erstens für uns nahe lag, vom Gedanken der poetischen Korrespondenz,
der poetischen Vernetzungen auszugehen,
wobei uns zweitens der bewußte Verzicht auf technisches Überziehen
vorrangig war zu Gunsten präziser experimenteller Reflexion der grundlegenden
Möglichkeiten von Computer, Netz und Literatur.
Johannes Auer: Screen und Mouse - 2 Ebenen der
Netzkunst
Am 13. Januar 1997 wurde eine Nachricht
im Internet verbreitet:
if you want me clean your screen, scroll up and down
Darunter war eine Internetadresse angegeben und der Namen der Künstlerin
Olia Lialina.
Ruft man die angegebene Internetadresse auf, erscheint diese Hand
auf dem Bildschirm [http://www.entropy8zuper.org/possession/olialia/olialia.htm],
und durch die Bewegung über die Scrollbalken erscheint es tatsächlich
so, als ob eine Hand den Bildschirm von innen reinigt.
Natürlich ist an dieser Arbeit der russischen Netzkünstlerin
Olia Lialina wichtig, wie sie sich per E-Mail ankündigt, natürlich
ist wichtig, dass hier der Mouse-Click auf die angegebene Adresse, dass
der Click, der die Arbeit aufruft, vor der visuellen Sensation liegt und
auch die einzige Clickmöglichkeit bleibt.
Darauf will jetzt aber nicht eingehen, ebenso wenig wie darauf, dass bei
der Netzkunst neben dem Optischen, also dem, was wir als ästhetisches
Produkt auf dem Bildschirm zu sehen bekommen und auf was ich mich heute
beschränken will, immer zwei weitere Ebenen, eine technische (Programmierung)
und eine soziale (Interaktion der Nutzer) hinzukommen. Diese wichtige
und scharfsinnige Erkenntnis stammt von dem Konstanzer Literaturwissenschaftler
und Netzanthopologen Reinhold Grether, der die 3 Ebenen als Desk, Tech,
Soz unterschieden hat.
Was ich heute hervorheben will, ist, und das macht Olia Lialinas Hand
besonders deutlich, dass bei [Personal]Computer-Kunst 2 Ebenen zusammenwirken:
die visuelle Fläche auf dem Bildschirm und die Fläche auf der
ich die Mouse bewege, um mit der visuellen Ebene zu interagieren. Ein
weiteres Beispiel
"Kill that Cat" von Mouchette [www.mouchette.org/cat]
Hier muß man mit der Mouse den auf und ab zitternden Button treffen,
eine nicht einfache motorische Koordinationsaufgabe zwischen Hand und
Auge. Gelingt der Click, wird man belohnt durch die Frage: Why did you
kill my Cat? Und soll per weiterem Click auf einen Button versprechen,
das nie wieder zu tun (Never do it again!)
Normalerweise wird als wichtigste Interaktionsmöglichkeit der Mouse-Ebene
mit der Bildschirmfläche der Link angesehen, den Olia Lialia interessanterweise
vor ihr Kunstwerk legt.
Ein Link oder Hyperlink ist ein Wort oder ein Bild in einem sogenannten
Hypertext, durch den ich per Click mit der Mouse auf dem Bildschirm eine
neue Information angezeigt bekomme. Der Hypertext ist die Grundlage des
WorldWideWebs, kurz gesagt einer Methode, sich per Hyperlink im Internet
zu bewegen.
Und der Hyperlink hat am Anfang die Literatur und Kunst im Internet inspiriert
(und fast noch mehr die theoretischen Betrachtungen darüber).
Der Hyperlink schien endlich den Leser oder Betrachter des Kunstwerkes
zum Mitautor und Mitschöpfer zu machen. Stellen sie sich eine schöne
Textseite auf dem Computerbildschirm vor, auf der einige Wörter farbig
markiert sind. Wenn sie auf die Wörter mit der Mouse clicken, bekommen
sie eine neue Seite angezeigt. Und da es mehrere farbig markierte Wörter
sind, haben sie die Qual der Wahl, oder anders ausgedrückt: ihre
und nur ihre Wahl entscheidet, wie ihre Lektüre weitergeht, wie sich
der Text zusammenkomponiert, und damit sind sie zum Mitautor geworden.
Michael Böhler sieht außerdem im notwendigen Zusammenwirken
der beiden Ebenen, Mouse und Screen, eine neue Lektüreweise, eine
Verlagerung der mitgestaltenden Phantasie in die Mouse-Aktionsebene -
kurz eine " Externalisierung des Imaginären".
"Ästhetisch betrachtet ist Hyperfiction weniger eine neue literarische
Textform als eine neue Lektüreweise und ein neues Text-Leser-Verhältnis.
Darin wird der Ort des literarischen "Theaters" aus dem Gehirn-Innenraum
mentaler Prozesse in den äussern Interaktionsraum sensorieller Wahrnehmungs-
und haptischer Selektionshandlungen verlagert."
[http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/netzkun.htm#Boehler]
In letzter Zeit ist jedoch die "der Link ist alles"-Euphorie abgeklungen,
und seine Bedeutung wird kritisch hinterfragt. Einige Argumente will ich
kurz aufführen.
Bernd Wingert konstatiert eine mögliche Aufmerksamkeitsverschiebung
bei der Hypertext-Lektüre vom Text zum Sprung, die er zurecht als
die "zentrifugalen Kräfte" bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert.
D.h. den Leser interessiert mehr, wohin die Links hinführen, als
das, was er gerade auf dem Bildschirm sieht. Man könnte mit einigem
Recht sozusagen von einer hypertextuellen Zapmentalität sprechen.
[ Bernd Wingert: "Kann man Hypertexte lesen?" In: Literatur
im Informationszeitalter,
hrsg. von Dirk Matejovski und Friedrich Kittler, Frankfurt/Main u.a. 1996,
S. 202]
Noch gewichtiger ist allerdings ein Einwand von Uwe Wirth, der sagt: dass
in dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur, bzw. auf eine
interne Kohärenz verzichten, die von einem Autor/Autorenkollektiv
vorbedacht ist, um sich ganz den clicklustigen Entscheidungen des Lesers
zu öffnen, dass also ohne eine solche vorbedachte Struktur der Text
letztlich beliebig, inhalts- und sinnlos wird. D.h. in einem fiktionalen
Text muß die Entscheidungsmöglichkeit des Lesers immer durch
Regisseure oder Autoren beschränkt werden.
[http://www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/litim.htm]
Auch gibt es eine andauernde Diskussion und zahlreiche Vermutungen, wieviel
Text man überhaupt bereit ist am Bildschirm zu lesen. Ich will mich
in diese Debatte nicht einmischen, nur vielleicht soviel: auch ich glaube,
dass am Bildschirm nicht allzuviel gelesen sein will. Das hängt vielleicht
mit der Artverwandstschaft des Computerbildschirms zusammen. So ist sein
natürlicher Verwandter wohl eher der Fernseher denn das Buch.
Und so ist aktuell eine interessante Diskussion zu beobachten. Digitale
Literatur wird gerade zunehmend in der Beziehung von Text und Bild diskutiert.
"Die nächste Generation digitaler Literatur wird in gleichem Masse
vom Design der Bilder, Töne, Animationen wie von jener des Textes
abhängen", sagt Marie-Laure Ryan.
[zitiert nach Daiber: http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Daiber/index4.htm]
Und angesichts der multimedialen Möglichkeiten wird gleichzeitig
gewarnt, dass Bild und Animation den Text erdrücken, dass die Lektüre
zu einem Klickibuntispektakel (wie das jemand einmal formuliert hat) verkommen
könnte.
Da wundert es nicht, dass der Germanist Jürgen Daiber kürzlich
mahnend das Emblem für die digitale Literatur und Kunst revitalisiert.
Nach Daiber gilt gerade auch im digitalen Medium:
" Das Wort muss mehr sagen, als im Bilde zu sehen ist. Das Bild muss mehr
zeigen, als sich durch das Wort erklären lässt."
[http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Daiber/index5.htm]
Und so schließt sich der heutige Kreis.
Reinhard Döhl: Beispiele
Für das Weitere verweise ich auch
auf eine im vorigen Jahr im Zürcher Update Verlag unter dem Titel
"kill the
poem" erschienene CD-Rom mit digitaler visuell-konkreter Poesie und
Poem Art, auf der einige der folgenden Beispiele ebenfalls zu finden sind.
Ich sagte bereits, daß in Folge des Stuttgarter "Symposiums Max
Bense" von 1994 Johannes Auer und ich begannen, in der Tradition früherer
Stuttgarter Experimente (Computertexte und -grafik; konkrete und visuelle
Poesie) die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets
zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln,
d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben, wobei erstens für
uns nahe lag, vom Gedanken der poetischen Korrespondenz, der poetischen
Vernetzungen auszugehen, wobei uns zweitens der bewußte Verzicht
auf technisches Überziehen vorrangig war zu Gunsten präziser
experimenteller Reflexion der grundlegenden Möglichkeiten von Computer,
Netz und Literatur.
Grundsätzlich unterschieden und unterscheiden wir zwischen Texten,
die nicht für das Netz geschrieben aber für eine Realisierung
im Netz geeignet sind, und Netztexten, also Texten, die mit Hilfe des
Computers zu den Bedingungen des Internets erstellt werden.
Überzeugt davon, daß die experimentelle Literatur des 20. Jahrhunderts
die ästhetischen Spielmöglichkeiten des Internets bereits antizipiert,
haben wir zunächst einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln,
d.h. technischen Bedingungen des Internets eingegeben. Dabei gingen und
gehen wir aus vor allem von visuellen und akustischen Texten nicht nur
der konkreten Poesie, wie sie bereits um 1920, insbesondere in den 50er
und 60er Jahren praktisch und theoretisch auch in Stuttgart erprobt wurden.
Diese lassen sich nach unserem Verständnis nicht nur im neuen Medium
fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation
wie jede Art von Textaleatorik - für diese Möglichkeit der Realisierung
geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes
GIF, als Java-Applet oder -skript. Die Möglichkeiten sind hier bei
weitem noch nicht ausgeschöpft.
Reinhard Döhl: Der Wald. Kein
deutsches Requiem
Mein erstes Beispiel stammt aus "Albrechts Netz-Galerie" und will wie
das Bild einer Ausstellung zunächst erst einmal beim Scrollen betrachtet
und gelesen werden. Ausgangspunkt war ein Plakat, das nach dem großen
Waldbruch 1999 forderte: "Verwenden Sie mehr deutsches Holz!" und das
vier Personen zeigte, die je einen der Buchstaben W A L D in der Hand
hatten. Ich habe, in Analogie zu einem konkreten "Wand"-Text von Kurt
Schwitters, diese 4 Buchstaben und mit ihnen den Wald aus dem Plakat separiert,
auf unterschiedliche Weise mit Hilfe des Computers bearbeitet und spielerisch
als Emblem organisiert, kurz bevor Daiber mahnend das Emblem revitalisierte.
Wenn dabei zwischen Incscriptio, Pictura und Subscriptio kleine Widersprüche
(Sprünge) sichtbar/lesbar werden, sind diese beabsichtigt.
Reinhard Döhl: Tod eines Fauns
Als Beispiel eines permutationellen Textes könnte der "Tod eines
Fauns" stehen, ein Text, der, ursprünglich als zweisprachiger Kommentar
zu Pinselzeichnungen entstanden, mein umfangreiches "Mallarmé-Projekt"
von 1989/1990 abschloß. Was der Druck, der nur eine lineare Version
der Permution bieten kann, nicht leistet, ist im Netz möglich: ein
variables Durchspielen der permutationellen Varianten.
Ohne konkreten Anlaß realisierte sich unter Stuttgarter Beteiligung
Martina Kieningers "TanGo-Projekt". Von drei der Stuttgarter Beiträge
ist in folgendem zu sprechen.
Johannes Auer: worm applepie
Seit über dreißig Jahren begleitet meinen "Apfel" ein Kurzschluß,
der allenfalls den Wurm im Apfel sieht, dabei nicht einmal die Bedeutung
der zuständigen Redewendung ("da ist der Wurm drin") reflektiert,
geschweige denn gegenwärtig hat, daß Äpfel, Wurm und/oder
Schlange in der Mythologie in der Regel Verhängnisvolles zur Folge
zu haben pflegen: den Trojanischen Krieg z.B., die Vertreibung aus dem
Paradies, so der Baum der Erkenntnis überhaupt ein Apfelbaum war,
und anderes mehr. Wenn in Johannes Auers "Worm Applepie" der vollgefressene
Wurm sich zu seiner ursprünglichen Größe zurückverdaut,
karikiert er in der endlosen Wiederholung des Vorgangs auch diesen Kurzschluß.
Denn daß er das andere auch und zustimmend gesehen hat, belegt seine
einschlägige Postkarte (mail art), die einen Apfel abbildet mit der
Zuschrift: "Drei Stunden später begann der dritte Weltkrieg".
Auer/Döhl: Pietistentango
Die Produktion des Pietistentango, wie das ganze "TanGo-Projekt" war von
einer mailart-Aktion begleitet, die anläßlich der Projektvorstellung
im Dezember 1998 im Goethe-Institut in Montevideo dokumentiert wurde.
In meinem Fall enthielten die Karten an Johannes Auer alle möglichen
sinnvollen Buchstabenkombinationen des Wortes "Pietisten": z.B. "ist,
piste, pisten, stein, steine, niest, nest, pest, pein, pst, psi, sein,
ein, nie, ei, niete" undsofort.
Diese Buchstabenkombinationen treten in der Realisation in 6 Spielfeldern,
die den 6 Silben des Wortes "Pietistentango" entsprechen, zu wechselnden
Konstellationen zusammen, und zwar in einem Rhythmus, der dem "Schritt,
Schritt, Wiegeschritt" des Tango in etwa entspricht.
Gleichzeitig sind die 6 zwischen Schwarz und Weiß wechselnden Spielfelder
besetzt mit den Wörtern "urbs" (2mal), "niger, umbra, umbrae" und
"vitae", die von oben nach unten gelesen folgende Kombinationen ergeben:
Links "urbs niger", was natürlich Stuttgart meint und mit Nikodemus
Frischlins bekannterem Stuttgart-Gedicht, genauer der Zeile "urbs jacet
ad Nicri colles in valle reducta" (die Stadt liegt an den Ufern des Neckar
in zurückgezogenem Tal) spielt.
Rechts zitiert "umbra vitae" (Schatten des Lebens) die nachgelassene,
von Freunden zusammengestellte und dabei textlich manipulierte, düster
gestimmte Gedichtsammlung Georg Heyms, mit der er posthum populär
wurde.
Die in der Mitte plazierte "urbs umbrae" (Stadt der Schatten, vulgo Stuttgart)
verbindet beides.
Wenn man so will, laufen beim Pietistentango also zwei Texte gegeneinander,
die sich kommentieren, die sich aber auch, wenn man versucht, lediglich
den Vorgang auf dem Bildschirm wirken zu lassen, unambitioniert als kinetische
Kunst auffassen lassen.
Johannes Auer: Kill the Poem
Mit "Textspielen" haben wir in Stuttgart in den verschiedensten Formen
experimentiert, mit Spielen, die sich reproduktiv spielen lassen, und
solchen, die produktives Mitarbeiten der Benutzer verlangen, damit sie
glücken. Bei Johannes Auers "Kill the Poem", geht es dabei um Text-Zerstörung
und Infragestellung des Autors/Lesers.
Gegeben ist erstens ein permutationeller Text:
"keine faxen mit tango ist ernst kein tango ist ernst mit faxen keine
faxen ist tango mit ernst mit tango ist ernst ohne faxen mit ernst sind
faxen ohne tango mit tango ist faxen ohne ernst mit faxen ist ernst [...]".
Gegeben ist zweitens die Möglichkeit, mit martialischem Gestus schrittweise
einzelne Wörter aus diesem Text herauszuschießen, zunächst
"faxen", dann - ich fasse zwei Schritte zusammen - die Wörter "ohne"
und "mit", dann - ich fasse wieder zwei Schritte zusammen - die Wörter
"kein(e)" und "ist/sind", dann "ernst" und als letztes "tango",
bis schließlich der ganze Text abgeschossen ist, mit der Möglichkeit
freilich, ihn danach neu zu laden. Und wer will, mag sich hier im Vergleich
durchaus an das von Johannes Auer bereits genannte "Kill that Cat" erinnern.
Was Johannes Auer dem bildschirmaktiven Leser allerdings anders als Mouchette
und über das Spiel hinaus demonstrieren will, was der Leser bei seinem
Tun erkennen soll, ist, wenn ich es recht verstehe, einmal die Demontage
eines Artefakts und zugleich die Demonstration seiner Unzerstörbarkeit.
Wir sind jedenfalls davon überzeugt, daß auch Kunst sterben
darf und zugleich (in neuer, in anderer Form) wieder aufersteht, und fordern
dies sogar als ihr Grundrecht.
Das führt mich zugleich zu meinem letzten Beispiel, zu der von Johannes
Auer unter seinem Künstlernamen Frieder Rusmann im März dieses
Jahres erstmals vorgestellten Installation "Für den natürlichen
Tod des Kunstwerk".
Frieder Rusmann: Für den
natürlichen Tod des Kunstwerk [www.kunsttot.de]
Diese Ausstellung/Installation war dreigeteilt in eine Manifestzone, eine
Testzone und eine Protestzone.
Um von vornherein keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen,
Frieder Rusmann ist kein Ikonoklast. Installation und Netzprojekt zielen
nicht, wie die Zerstörung der Buddha-Statuen durch die Taliban, auf
gewaltsame Zerstörung von Kunst, sie fordern vielmehr auch für
die Kunst das Recht auf einen natürlichen Tod ein und plädieren
zugleich auf ein Neuverständnis dessen, was Kunst heute, was heute
Kunst sein kann.
Frieder Rusmanns "Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks"
zieht eine Parallele zwischen künstlich beatmeter Leiche und Kunstwerken,
die ihre Existenz nur noch der Kunst der Restauratoren verdanken, zwischen
den Intensivstationen unserer Krankenhäuser und den "Restaurierungskammern
der Museen", zwischen zwanghafter Restaurierung alter "Kunstwerke" und
dem Face-Lifting heutiger Schönheitschirurgen. Und es behauptet eine
Entsprechung zwischen dem Wunschtraum ewiger Jugend und der manischen
"Reanimation und 'Wiederentdeckung' vergangener Kunstperioden".
Wie der Mensch das Recht auf einen natürlichen Tod hat, fordert Frieder
Rusmann auch für die künstlerischen Hervorbringungen des Menschen
den alters-, umwelt- und materialbedingten natürlichen Tod, nicht
die Liquidierung der Kunst.
Ich muß, um das Anliegen Frieder Rusmanns deutlicher zu machen,
ein wenig ausholen:
Im Streit der Bilderverehrer und Bilderstürmer seit dem 8./9. Jahrhundert,
dem auch die pietistische Bilderfeindlichkeit zuzurechnen ist, löst
am Ende des 18. Jahrhunderts das Primat der Ästhetik die immer weniger
tragfähige religiöse Fundierung der Künste ab, betritt
die bildende Kunst die gute Stube. Dabei führt das Bedürfnis,
Kunst, die man sich nicht leisten kann oder die im Original nicht zugänglich
ist, besitzen zu wollen, zunehmend zu ihrer Vervielfältigung und
zur Ausbildung immer neuer Reproduktionstechniken, um im Verlaufe des
19. Jahrhunderts als reproduzierte Kunst schließlich vollends zur
Dekoration zu verkommen. Die Venus von Milo, die Nike von Samothrake mutieren
zu Nippesfiguren, die Mona Lisa zum farbigen Kunstdruck bzw. Poster.
Gegen diese bürgerliche und spätbürgerliche ausschließlich
affirmative Rezeption von Kunst wenden sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts
dann entschieden Futuristen und Dadaisten.
Ich zitiere, zunächst aus "Fondazione e Manifesto del Futurismo"
(Gründung und Manifest des Futurismus) (11.2.1909)
"Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue
Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.
Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die
Schlangen mit explosivem Atem gleichen... ein aufheulendes Auto, das auf
Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von
Samothrake."
"Museen: Friedhöfe! [...] Museen: öffentlich Schlafsäle
[...] Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer [...]
Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf
den Friedhof geht... das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr
einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen... das gestatte
ich euch [...]"
Kurze Zeit später reklamiert Hans Arp in einem "Dadaspruch" für
die Dadaisten als Leistung, die Venus von Milo klistiert, Laokoon endlich
das Austreten erlaubt zu haben, und er schließt: "Der Dadaismus
hat das Bejahen und Verneinen bis zum Nonsense geführt. Um Überheblichkeit
und Anmaßung zu vernichten, war er destruktiv."
Bezeichnender Weise lautet dieser letzte Satz in seiner ersten Fassung:
"Um die Indifferenz zu erreichen, war er destruktiv." Das bringt ein letztes
Mal Marcel Duchamp ins Spiel, der seine "Ironie" als "Ironie der Indifferenz",
als "Meta-Ironie" erklärt und begriffen hatte. Duchamp hätte
genauso gut Unsinn sagen können, denn die Gleichgültigkeit gegenüber
Kunst/Nichtkunst, Geschmack/Geschmacklosigkeit, schön/ häßlich
hebt den Sinn auf, stellt tradierte ästhetische Ordnung in Frage.
Weniger auf Nike und Venus, auf Laokoon und Mona zielten also die Futuristen
und Dadaisten, zielt Frieder Rusmann in seiner Installation mit gleichzeitigem
Netzprojekt, sondern auf plakatives Kunstverständnis, Nippesfigur
und Kunstdruck.
Mona Lisa
Konsequenterweise beginnt der Mona-Lisa-Test in Frieder Rusmanns Netzprojekt
den auch mit einer Reproduktion der Reproduktion der von Duchamp als Vorlage
benutzten Reproduktion.
Im weiteren Durchspielen stellt sich Mona Lisa dann barbusig dar mit der
Zuschrift
mir ist kalt
ich werde alt,
was als Anspielung auf Duchamps "L.H.O.O.Q" (sie hat es warm unterm Hintern)
eigentlich nicht zu überlesen ist, jene obszöne Buchstabenfolge,
die er einem Kunstdruck der Mona Lisa einschrieb. Klickt man jetzt die
Frage "Aufwärmen" an und bestätigt die Gegenfrage "wirklich",
bekommt man wieder die Reproduktion der von Duchamp benutzten Reproduktion.
Wobei ich im Vorbeigehen wenigstens darauf hinweisen möchte, daß
bei der grundsätzlich möglichen Manipulierbarkeit einer Bildvorlage
mit Hilfe des Computers auch die Originalitätsfrage grundsätzlich
neu zu stellen und zu diskutieren wäre. Denn nicht nur der traditionell
manipulierende Künstler, auch der am Computer arbeitende Künstler
macht "aus Etwas etwas Anderes", um hier eine Definition André
Thomkins aus den 60er Jahren in Erinnerung zu bringen.
Nike von Samothrake
In der "Testzone" des Netzprojekts "Kunsttod" gilt ein 6. Test dann der
Nike von Samothrake, die mit deutlicher Anspielung auf Marinettis Manifest
zunächst von einem Auto überfahren wird, das wiederum und aktuell
von einem Turnschuh platt gewalzt wird, der so den Bogen spannt zu einem
Sportschuhhersteller.
Ich will Ihnen und mir den Spaß an eigenen Entdeckungen in der "Testzone",
wie insgesamt im "Netzprojekt" Frieder Rusmanns nicht durch weitere Erklärungen
verderben und schließe deshalb mit einem mir persönlich sehr
anliegenden Hinweis auf den dritten, die Dresdner Frauenkirche betreffenden
Test.
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