Was kann die Literatur für das Internet tun?


von Dirk Schröder

Als der Journalist Michael Charlier und der Künstler und IBM-Manager Dieter Huober sich einen Wettbewerb der Internet-Literatur einfallen ließen, ahnten sie kaum, daß der bald darauf unter dem Namen des wichtigsten Veranstaltungspartners, der Wochenzeitung DIE ZEIT, im deutschsprachigen Web für Aufsehen sorgen würde: der ZEIT-Wettbewerb. Schon beim dritten Durchgang im letzten Jahr aber wurde das Ereignis umbenannt in Pegasus98 und des Wörtchens "Literatur" ganz entkleidet. Auch dieser Name wird jedoch nicht bleiben, denn er gehörte schon dem Stuttgarter Verlag Das Beste.

Im Internet, so heißt es, geht alles schneller, und die kurze Geschichte des Wettbewerbs von IBM, ZEIT und ihren Partnern scheint das zu bestätigen. Innerhalb von nicht einmal drei Jahren schritt die Idee vom tollkühnen Versuch durch einen Augenblick renommierter Etabliertheit fort zum eigenen Verfall. 

Digitale Literatur

Aber was ist Internet-Literatur? Zunächst einmal: Es ist digitale Literatur. Sie wird nicht bloß am Computer erstellt, sondern auch vom Monitor gelesen. Als Kunstform entstand sie in den USA und entwuchs ihrer Experimentierphase spätestens mit dem Hyperfiction-Werk "Afternoon" von Michael Joyce. Das war im Jahr 1986. Hyperfiction: Dies ist eine Gattung, die nicht-linear erzählt. Jeder Textteil enthält Verweise auf verschiedene andere Textteile (mit "Hyperlinks"). Der Leser selbst klickt sich die Geschichte mit der Maus zusammen, mal diesem mal jenem Verweis folgend, den guten oder schlechten Ausgang wählend - wenn er denn ahnt, wohin die Reise führt.

Aber nicht alle digitale Literatur ist Hyperfiction. Internet-Literatur soll darüber hinaus generell "die Mittel des Internet" nutzen - so lautete jedenfalls eine der Vorgaben der ZEIT-Wettbewerbe. Was das für Mittel sind, blieb bis heute unklar. Vermutlich sind es die Möglichkeit, externe Quellen einzubeziehen, die spontane Publikation ohne Verleger und die Einbeziehung textferner Medien, etwa Musik und Sprachausgabe oder die Verknüpfung mit Video und Bildern. Und immer wieder gefordert: Interaktivität.

Da heute aber bereits alles das "interaktiv" heißt, was dem Benutzer nur einen Mausklick oder Tastendruck abnötigt, ist auch das ein dehnbarer Begriff. Ein Beispiel: Die russische Netz- und Videokünstlerin Olia Lialina setzte das Foto einer Handinnenfläche mit (aufgeklebter?) Briefmarke auf eine schwarze Bildschirmseite. "If you want me clean your screen, scroll up and down", heißt die Anweisung: Wenn man wolle, daß diese Hand den Bildschirm reinige, solle man in dem Fenster hinauf oder hinunter "scrollen". Folgt man dieser Handlungsanweisung und schiebt also mit der vertikalen Bildlaufleiste die Hand hoch und runter, so entsteht tatsächlich der verblüffende Eindruck, der Monitor würde von innen blankgewischt. Interaktivität heißt hier, daß erst der Betrachter durch sein Tun das Werk schafft. So einfach ist es also - und trotzdem meist unerreicht. 

Neben der Multimedialität und der Interaktivität tritt mit der Vernetzung ein weiteres Element hinzu: die Kommunikation. Der Wettbewerbsinitiator Michael Charlier spricht gar von KommuniAktion, und es ist klar, daß hier nicht das Gespräch zwischen Mensch und Maschine gemeint sein kann. Das Internet verbindet Menschen, nicht Geräte, und so auch Autoren und Leser. In der Folge entstand eine Vielzahl von Mitschreib-Abenteuern, die zuweilen mit Literatur ungefähr so viel zu schaffen haben wie die Creative Writing-Kurse der Volkshochschulen. Daß es auch anders geht, beweisen die Projekte der Netzkünstlerin Claudia Klinger: Sie macht in professionell designten Umgebungen ihre persönlichen Anliegen und Erfahrungen öffentlich - allerdings weit jenseits des Peep-Niveaus und daher manchmal auch anstrengend -, und sie bezieht Leserreaktionen in die wachsenden Arbeiten mit ein. Daß sie sich hierbei an den Schnittflächen von persönlicher Betroffenheit, Infotainment und Gruppendiskurs bewegt, scheint ihr Erfolgsgeheimnis zu sein. In anderen Arbeiten legt sie die Bedingungen der Netzkommunikation bloß, so etwa wenn sie die ständig mitlaufende Abklärung der Kompatibilität von Kommunikationsstandards sichtbar macht und als Technorauschen identifiziert.

Deutsche Entdeckung 

Der erste ZEIT-Wettbewerb fand 1996 statt und verfolgte laut Michael Charlier die Absichten einer Entdeckungsreise. Weder hatten die Veranstalter eine eigene Vorstellung dessen, wonach sie suchten, noch war es möglich, eine hierin kundige Jury zu berufen. Das "Sichten dessen, was so kommt" wurde Literaturwissenschaftlern und Redakteuren überlassen, die damit kokettierten, noch nie einen Computer benutzt zu haben. Entsprechend las sich die Ausschreibung: per E-Mail sollten winzige Arbeiten eingereicht werden (sie durften nur bis zu vierzig Kilobyte umfassen!), die zudem keine Verknüpfungen nach außen (Hyperlinks) enthalten durften. Der erste Preis ging an Martina Kieninger für das geradezu papierliterarisches Miniwerk "Der Schrank. Die Schranke", das mit den gebotenen minimalistischen Mitteln eine Guckkastenbühne auf dem Monitor simulierte und das - dank seiner literarischen Qualität - auch in einer besseren Literaturzeitschrift hätte erscheinen können. Sven Stillich hingegen ignorierte die Vorgaben bewußt und schöpfte aus dem Vollen des damals Möglichen mit dem schrillen TV-Bilderwerk "Verwunschlos". Die Jury belohnte das mit einem Sonderpreis. Das eigentliche Abenteuer Internet-Literatur begann aber erst nach diesem ersten Wettbewerb: mit den Diskussionen über das Wesen der Netzliteratur.

Die US-amerikanische Hyperfiction-"Szene" hatte sich lange einer Neuorientierung in Richtung Internet - die ja erst mit der Einführung des World Wide Web von 1993 möglich geworden ist - verweigert. Sie arbeitete offline. Nicht nur, weil anders der Autor kaum zu seinem Honorar kommen kann, sondern auch aus Gewohnheit wurde für die Disketten- und später CD-Publikation produziert. Andererseits interessierten sich Netzkünstler, die häufig aus der akademischen Videokunstszene stammten, kaum für speziell literarische Anliegen. Internet-Literatur war somit eine geradezu deutsche Entdeckung!

Im Anschluß an den ersten Wettbewerb gründete Sven Stillich eine Mailingliste namens Netzliteratur, das heute einzige noch existierende Forum zum Thema (wer sich in eine solche Mailingliste einträgt, erhält - rundbriefartig - alle E-Mails, die von den Teilnehmern dieser Liste an die zentrale Listenadresse geschickt werden. Auf diese Weise kann sie/er auch alle Teilnehmer ereichen, indem sie/er eine Mail an die besagte Adresse schickt, wo sie automatisch vervielfältigt und versandt wird. Mailinglisten sind ein wichtige und beliebte Technik geworden, Foren für beliebige Interessengruppen mit schnellem Informationsaustausch zu schaffen). In der Mailingliste Netzliteratur fanden sich zuerst die Kritiker des Wettbewerbs zusammen - nicht selten von den altbackenen Zielvorstellungen enttäuschte Teilnehmer - aber auch die Veranstalter selbst und einige engagierte Wissenschaftler und neugierige Journalisten.

1997, ein Jahr später, sollte alles ganz anders werden. Zwar war es in der Aufarbeitung des ersten Wettbewerbs nicht gelungen, zu einem eindeutigen Begriff der Netzliteratur zu kommen, aber die Naivität des Aufbruchs war überwunden. Michael Charlier stellte der Ausschreibung einige "Grundsätzliche Gedanken" zur Seite, die sowohl den Teilnehmern eine brauchbare Orientierung boten, als auch die weitere Diskussion beflügelten. Aufgrund seiner Bedeutung (und da er auf dem besten Wege ist, verloren zu gehen) gebe ich diesen sehr kurzen Text mit Zustimmung des Autors vollständig wieder:

"Das Internet ist - trotz seiner bunten, multimedialen Unterabteilung, des World Wide Web - im Kern immer noch ein sprachliches Universum: E-Mail, Newsgroups, Mailinglisten und die Newsangebote des WWW - all das lebt von der Kraft (oder Schwäche) des Worts und kommt ohne Bilder und Töne aus. Gemeinsam ist jedoch die Eigenart, daß sie sich selbst und die Welt täglich neu erfinden - und damit das Alte überschreiben. Oft reicht die Erinnerung nicht sehr weit zurück, das Aktuelle ersetzt das Alte spurlos. Der von IBM Deutschland und der ZEIT ausgeschriebene Wettbewerb will alle, die sich zum Aufbruch oder zu Erkundungszügen in die neue virtuelle Welt bereitmachen, dazu ermutigen, sich der Voraussetzungen des Neuen zu vergewissern und ihre Vergangenheit nicht auf das Speichervermögen ihrer Festplatten zu begrenzen. Der widerspruchsvolle Begriff "Internet-Literatur" enthält somit die Aufforderung, das kollektive Gedächtnis der Gutenberg-Galaxis daraufhin zu befragen, was wert sei, aufgehoben zu werden in die glänzende Zukunft gleich hinter dem nächsten Link zur Informationsgesellschaft. Damit verbindet sich keine Bedingung, diesen Übergang oder das Netz selbst zum Thema des Wettbewerb-Beitrags zu machen. Alle Themen und alle Formen sind zugelassen. Reiner Text, der sich ohne jeden Verlust auf Papier ausdrucken läßt, wird es allerdings schwer haben, die Jury von seiner Preiswürdigkeit in Rahmen dieses Wettbewerbs zu überzeugen. Denn der Appell, beim Übergang zu neuen Formen des Ausdrucks, der Kommunikation und der schöpferischen Kooperation, die Erfahrungen und den Reichtum der Tradition nicht zu übersehen, bedeutet nicht, diesen Prozeß selbst zu ignorieren."

Mißverstehen 

In seiner Dichte ist Charliers Ansatz leicht mißverstehbar, und er wurde auch mißverstanden. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet unverdienterweise der Satz über die Nichtausdruckbarkeit netzliterarischer Texte (was sich so nämlich nur für die "klassische" Hyperfiction und multimediale Werke sagen läßt), der dann die Auseinandersetzungen des nächsten Jahres prägte. Die Begegnung der Literatur als Kunstform mit der globalen Kommunikationsmaschine Internet wurde weitgehend ausgeblendet.

Das deutlichste Beispiel des Mißverstehens gab Peter Weibel, der heutige Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, anläßlich seiner Rede zur Verleihung der Preise des dritten Wettbewerbs 1998 . "Was", so fragte er, "kann das Internet für die Literatur tun?" Genau diese Frage erweist sich als Weiser eines Holzwegs. Wer so fragt, ignoriert die eindringliche Mahnung, mit der Charliers "Gedanken" schließen. Was kann die Literatur für das Internet tun? - das wäre die fruchtbarere Art zu fragen.

Doch zunächst einmal zurück zum zweiten Wettbewerb von 1997. Noch während seines Ausschreibungszeitraums gelang es der Mailingliste Netzliteratur, das Problem der Printausgabe zurückzuweisen. Jede Begegnung mit neuen Kommunikationsformen sucht ihren künstlerischen Ausdruck, die Kunst entsteht quasi unter dem Druck der Ereignisse von selbst, ist aber in durchaus verschiedenen Weisen reproduzierbar. Während das eingangs erwähnte Beispiel der Interaktivität von Olia Lialina kaum seinen Weg ins Buch finden dürfte (wozu auch?), dürfte eine Printaufbereitung von Claudia Klingers textorientierten Arbeiten einem findigen Setzer nur wenige Schwierigkeiten bereiten. Klinger definiert denn auch Netzliteratur wie folgt: "Internetliteratur ist von und für Netizens geschrieben, beziehungsweise computiert, also von und für Leute, die die spezifischen Formen des Cyber-Life wahrnehmen und thematisieren, beziehungsweise zum Ausdruck bringen." (Netizens - das sind die "Bewohner" des Internet, Menschen, denen die Netzkommunikation ein Lebensschwerpunkt ist.)

Literatur ist heute - wie alle anderen Künste - ohne Einbeziehung der globalen Vernetzung nicht mehr verständlich. Bereits seit Jahrhunderten zeigt sich das Phänomen einer Weltliteratur, eines Kanons von Werken, die in aller Welt rezipiert werden und die Autoren aller Nationen beeinflussen. Die "Bilder im Kopf" sind Bilder einer globalen Gemeinschaft und einem Chilenen ebenso präsent wie einer Japanerin. Das Internet beschleunigt (neben den Massenmedien) diese Vernetzung ins Unermeßliche. Das so entstehende weltweit geteilte Geistesleben nennt der Konstanzer Literaturanthropologe Reinhold Grether mit Blick auf die Künste das "globale Imaginäre". Dieses findet als Netzliteratur seinen Ausdruck in der internetpublizierten digitalen Literatur - soweit eben die Literatur als "alte" Kunst zureicht, soweit sie bereit ist, "etwas für das Internet zu tun".

Geschichtenerzählen

Literaturgeschichtlich läßt sich diese Entwicklung durchaus auch als Rückkehr oder Wiederanknüpfen an die Wurzeln literarischer Tradition begreifen. Mit gutem Grund untersucht der Züricher Literaturwissenschaftler Michael Böhler Internet-Literatur im Zusammenhang mündlicher Erzählweisen, und auch Multimediaprogrammierer vergleichen ihre Arbeiten gerne mit dem Geschichtenerzählen am Lagerfeuer.

In seiner Laudatio zum zweiten Wettbewerb versuchte Hermann Rotermund, Leiter von ARD online, eine Typologie der Internet-Literatur aufzustellen, die sich noch weitgehend an der Printliteratur orientiert. Er unterschied:

"1. Gedichte und Erzählungen, die sich von ihrer medialen Umgebung noch in keiner Weise beeindrucken oder beeinflussen lassen.  
2. Hypertext-Literatur im Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction: navigierbarer Text mit einer häufig recht komplexen und häufig nicht-linearen Struktur; aber wohlgemerkt: nur Text.  
3. Die in der Tradition der barocken Lyrikmaschinen und der Konkreten Poesie der letzten fünfzig Jahre stehenden Text- und Sprachexperimente, die an den visuellen und akustischen Eigenschaften von Texten mindestens ebenso sehr interessiert sind wie an ihren semantischen.  
4. Multimediale, scriptgesteuerte Kunstwerke mit Anteilen von Text, Bild, Animation und Audio, im Idealfall WWW-Gesamtkunstwerke."

Da keiner der eingereichten Beträge die Sehnsucht nach dem durchschlagend "Neuen" wirklich zu befriedigen vermochte, wurde anstelle eines ersten Preises der zweite doppelt vergeben: an Susanne Berkenheger für die geschickt geflochtene, eher konventionelle Hyperfiction-Story "Zeit für die Bombe" und an Peter Berlich für die Oberflächensimulation eines über der Textausgabe des Films "Casablanca" wahnsinnig werdenden Computersystems, "Core".

Heftige Kritik 

Im Gegensatz zu Berkenheger verzichtete Berlich übrigens ganz darauf, dem Leser Auswahlmöglichkeiten unterschiedlicher Pfade anzubieten, sondern setzte auf eine unendlich erweiterbare und unendlich wiederholbare Struktur, die in minimalistischen Rahmen das Bild eines offenen Kunstwerks gibt.

Auch der zweite Wettbewerb wurde heftiger Kritik unterzogen - nun aber vor dem Hintergrund eines erwachten Bewußtseins für das Wesen dessen, was Netzliteratur sein soll. Das Feld ließ sich mittlerweile abstecken zwischen den Eckpositionen des Hildesheimer Wissenschaftlers und Netzkünstlers Heiko Idensen, der kunsthistorisch argumentierend die Aufhebung der Autor-Leser- Unterscheidung diagnostizierte und forderte ("Die Poesie soll von allen gemacht werden!") und der die Auflösung der Werkidentität in rhizomatische Strukturen als Wesen netzliterarischen Schaffens ausmachte, und des Stuttgarter Hochschullehrers und Künstlers Reinhard Döhl, der mit Hilfe multimedialer Querverweise die Tradition der konkreten Poesie in Web-Arbeiten aufleben läßt. Das netzliterarische Werk nahm Gestalt an in Form einer Computerbenutzern vertrauten Oberflächenbewegung mit einer der globalen Vernetzung Rechnung tragenden offenen Strukturierung im Untergrund.

Ausgehend von dem Versuch des ersten Wettbewerbs, im Unbekannten nach einer eventuell aufzufindenen speziellen Internet-Literatur zu suchen, war der folgende Diskurs geprägt von Versuchen der theoretischen Annäherung an eine "Fahndungsfolie" für eine solche Literatur und von programmatischen Entwürfen künftiger Werkmöglichkeiten. Dabei geriet nur zweierlei aus dem Blickfeld: die real existierenden "Möglichkeiten des Internet" - und die Werke selbst. Netzliteratur wurde als "zu schaffende" Literatur behandelt. So ging geradezu zwangsläufig die systematische Suche, das wirkliche "Ausschauhalten" verloren. Erst 1998 entwickelte Reinhold Grether ein taugliches Modell zur Systematisierung von Netzkunstwerken - allerdings ohne besondere Berücksichtigung der Literatur.

soz, tech, desk 

Grether unterscheidet zwischen Werken, die die kommunikativen Elemente von Netzkunst als soziales Phänomen erfassen, nutzen oder darauf aufbauen ("soz"), solchen, die die technischen Prozesse an die Oberfläche bringen und als Teil der materiellen Bedingungen netzkünstlerischen Schaffens fassen ("tech") und schließlich den oft von der Videokunst und auch der visuellen Poesie herkommenden Werken, die im wesentlichen auf den Monitor zur Präsentation multimedialer Environments setzen ("desk"). Häufig lassen sich einzelne Aspekte dieser Kategorien gemeinsam an einem Werk aufzeigen.

Als besonders eindrucksvolles Beispiel stellte die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Christiane Heibach anläßlich des Symposiums "digitaler Diskurs" die amerikanische Arbeit "Beast" vor. Hier greifen Text-, Bild- und Klangelemente im Rahmen eines dem "Benutzer" stets gegenwärtig gehaltenen Datenübertragungsprozesses so ineinander, daß eine assoziative Steuerung aller beteiligten Medien über Begriffsassoziationen möglich ist. Nervenzerfetzende Kriegsgräusche lassen sich etwa über die Auswahl "friedlicherer" Begriffe in Liebesgesäusel verwandeln. Ungeschicktes Manövrieren im Werk kann dabei ganz reale Systemabstürze zur Folge haben.

Abkehr vom Literaturbegriff 

In der Mailingliste "Netzliteratur" ließ sich zur gleichen Zeit eine Abkehr vom Literaturbegriff beobachten, die allerdings durch eine Vereinigung dieses Forums mit der Mailingliste "Autoren", die mehr an konventioneller Lyrik- und Prosaproduktion interessiert war, abgemildert wurde. Der Wettbewerb von IBM und ZEIT, nunmehr mit Partner ARD online, gab, radikaler, den Literaturanspruch 1998 gleich ganz auf. Roger de Weck, Chefredakteur der ZEIT, schrieb: "Zwei Jahre lang hieß er 'Literaturwettbewerb', doch dieser Begriff ist uns zu eng geworden." Die Ausschreibung erläuterte: "Die Ausschreibung ist absichtlich offen gehalten, um keine interessante, neue Tendenz auszuschließen."

Nicht ganz unliterarisch firmierte der Wettbewerb nun unter "Pegasus98" und fand sich auf Wunsch von IBM ergänzt um einen Jugendwettbewerb "e-generation", in dem es um Homepages ging, wenn auch nicht um deren Gestaltung, sondern um ihre Verwendung. Prämiert wurden schließlich Beiträge - mit Reinhold Grether zu sprechen - der Kategorie "desk", die mit den Eigenheiten des Internet selbst wenig zu tun hatten - wie übrigens auch schon die in den vorigen Wettbewerben ausgezeichneten Arbeiten. Deutlich wurde dabei vor allem der technische Fortschritt: Die gestalterische und funktionale Qualität der gekürten Beiträge übertraf das in den früheren Wettbewerben Machbare bei weitem. Mit einem Sonderpreis wurden Florian Cramers Textmaschinen bedacht, digitale Umsetzungen barocker Entwürfe zur automatischen Textgenerierung, die zur Zeit ihrer Erfindung nicht realisierbar waren.

Auch diese Form digitaler Literatur benötigt das Internet letztlich nicht, zeigt aber einen wesentlichen Zug der gegenwärtigen Entwicklung, nämlich neben dem Wiederaufgreifen barocker Unternehmungen die Auflösung der Autorenschaft. Deren technischen Aspekt betonte Peter Weibel in seiner Pegasus-Rede mittels eines griffigen Schlagworts: "Der Autor wird zum Algorithmus." Für Hyperfiction-Autoren hingegen steht eher die Leistung des Lesers für das Zustandekommen individuell montierter Texte im Vordergrund.

Am Ende 

Immerhin sollte es sich beim dritten Wettbewerb noch um "mit den Mitteln des Internet (da sind sie wieder ..., D.S.) gestaltete Sprache", "also Literatur im weitesten Sinne" drehen. Die extrem vage Ausschreibung nahm den Wettbewerb überraschenderweise aus der Diskussion. Während einige Studenten noch versuchten, im Wettbewerbsforum Internet-Literatur voraussetzungsfrei neu anzudenken, fanden die bereits etablierten Autoren keine neuen Anknüpfungspunkte mehr. Statt dessen brach infolge einiger unglücklicher Äußerungen der Veranstalter ein heftiger Streit über rechtliche Aspekte der Verwendung von Hyperlinks los, der zu einem teilweisen Boykott des Wettbewerbs führte. Nachdem sich auch die Veranstalter selbst eher voneinander weg bewegten, scheinen die Internet-Literaturwettbewerbe bereits Geschichte. Dazu paßt, daß der letzte im Magazin des Wettbewerbs publizierte Beitrag, ein ZEIT-Artikel von Christian Benne, mit dem Nichts-Verstehen geradezu kokettiert:

"Lesen im Internet ist wie Musikhören übers Telephon. Während es aber gewiß niemandem einfiele, Telemann mit der Telekom ins Haus zu holen, haben sich viele Menschen von der Vorstellung einer Literatur im Internet beeindrucken lassen. Literatur im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird."

Nach drei Jahren scheint auf diese Weise die "Internet-Literatur" am Ende: Der Begriff trägt nicht. Zu weit das Feld der Literatur - noch weiter das Internet. Einerseits.

Andererseits lassen sich durchaus Autoren - auch im überkommenen Sinn der Auctoritas -, Werke und Leser finden. Olivia Adler beispielsweise erzählt Geschichten nach Art der Science-Fiction, vermischt dabei Realität und Phantasie durch Einbindung externer Inhalte, Webauftritte frei erfundener Unternehmen, Fälschung echter Suchmaschinenseiten, Charaktere, mit denen der Leser tatsächlich kommunizieren kann, hebt die Grenzen zwischen Werk und Welt zunehmend auf. Als könne man einen Roman nun wie eine Landschaft wirklich betreten und wüßte schon nach kurzer Zeit nicht mehr, ob man sich noch innerhalb der Geschichte oder schon wieder im - fremd gewordenen - Alltag befindet. Olivia Adler entwirft ganze Welten in Bildern (wozu ihr einfachste Software zur virtuellen Wohnzimmergestaltung ausreicht) - ihre eigentliche Tätigkeit aber bleibt das Schreiben.

Ein Gedicht abschießen

"tanGo" - das "schwäbisch-spanische Mitschreibprojekt" der Stadtbücherei Stuttgart und des Goethe-Instituts Montevideo spielt mit interkulturellen Mißverständnissen und Vorurteilen, in der Art der deutschen Unterstellung, jeder Urugayer könne mit dem Halbsatz "Ein Haus in Montevideo" etwas anfangen oder ein Deutscher könnte die Wirkung von Wagner-Libretti, also Tangotext in der spanischen Übersetzung nachvollziehen. tanGo ist eine Galerie vieler kleinerer Arbeiten, darunter einige von Reinhard Döhl und seinem kongenialen Digitalwerker Johannes Auer. Initiiert wurde das Projekt von Martina Kieninger, der Preisträgerin des Wettbewerbs 1996. Wer will, kann inmitten von Tango und Schuhplattler ein Gedicht erschießen.

Es läßt sich nicht absehen, ob eine Literatur des Internet sich ohne Vermischung mit anderen Netzkünsten wird behaupten können - und ob das überhaupt sinnvoll wäre. Heute erscheint jedenfalls die kurze Geschichte der Wettbewerbe als Gründerzeit einer Literatur, die versucht, das Leben der globalen Vernetzung faßbar und ausdrückbar zu machen und sich hierzu des Internet als dem Paraderepräsentant dieser Vernetzung selbst bedient.

Internet bedeutet mehr als eine Verbesserung des Fernsehers; E-Mail-Kommunikation ist keine Erweiterung von Telefon oder Fax. Diese "Technik" verändert ganze Gesellschaften. Und jeden einzelnen Menschen, der sich darauf einläßt. War man mit einem Nischenthema vor wenigen Jahren vor Ort allein, tauscht man sich heute mit völlig Unbekannten oft intensiver aus als mit den Nachbarn.  

Aber wir haben keine Sprache vorgefunden, in der wir darüber sprechen können. Allein die Rede vom "gedownloadeten Text" zeigt schon den Mißstand auf. Wir machen Erfahrungen, für die uns die Worte fehlen. Romane über "Liebe im Cyberspace" sind da ebenso spannend wie die Glossare informationstechnischer Handbücher. Schon deshalb gilt: Gäbe es keine Internet-Literatur, sie müßte erfunden werden. In gewisser Weise haben die Wettbewerbe von ZEIT, IBM und Partnern genau das getan.

(erschienen in UNIVERSITAS März 1999)