In ähnlicher Form erschienen in:
Florian Hartling / Beat Suter [Hg.] Archivierung von digitaler Literatur:
Probleme – Tendenzen – Perspektiven, Frankfurt am Main et
al.: Peter Lang 2010. (=Sonderheft SPIEL: Siegener Periodicum zur Internationalen
Empirischen Literaturwissenschaft. Jg. 29 (2010). H. 1+2)
>> zum Buch
1 Dauer und Bewegung
„Ich wünsche meine Verse
vertont,
da sind sie aufbewahrt wie die Fliege in Bernstein.“
Bertold Brecht
Die Athener Agora, die Bibliothek von Alexandria,
Johannes Gutenbergs Buchdruck, diese drei, das sind die Bilder, die man
neben das Internet hängt. Demokratie, das Weltwissen, seine Verbreitung.
Die kleine Ausstellung polarisiert. Manche Besucher gruseln sich, andere
sind begeistert. Die repräsentative Demokratie sieht sich von der
direkten Demokratie bedroht und entfesselt das pessimistische Menschenbild,
malt den Lynchmob an die Wand. Die Priester des geistigen Eigentums beschwören
das Ende der Aufklärung, wenn Wissen Gemeingut würde. Und natürlich
verdirbt das Internet die Jugend wie einst das Fernsehen. Vorbei die Tage,
in denen das Internet der Flüchtigkeit geziehen wurde?
In der Wochenzeitung Die Zeit, Nr. 37, schrieb Christian Benne 1998 anlässlich
des dritten von Zeit, IBM und Partnern veranstalteten Internet-Literaturwettbewerbs
‚Pegasus‘: „Zwar ist Literatur als Sprachkunst nicht
unbedingt an Schrift gebunden. […] Aber auch Schrift bleibt bloß
erhalten, wenn sie dem richtigen Medium anvertraut wird. Papier, nach
dem Pergament noch immer am beständigsten, scheidet als Datenträger
für Internet-Literatur aus. Denn zwischen Buchdeckeln bliebe nichts
übrig von den ganz neuartigen Erfahrungen im Netz, welche die Propheten
des neuen medialen Zeitalters verheißen haben.“ Leider unterschied
Benne keine Papiersorten, denn Gutenberg brauchte Hanfpapier, das reißfester
und beständiger war als Holz- oder Rupfenpapier. 1937 wurde Hanf
in den USA verboten, um Marihuana zu bekämpfen, das süchtig
mache und zu Gewalttätigkeit führe. Doch es ging um die vielseitige
Hanfpflanze selbst, auch des Papiers wegen – die Wirtschaft dürstet
nach Flüchtigkeit. Bis heute haben die USA die Prohibition der halben
Welt aufgezwungen und die Flüchtigkeit selbst hat ein Ausmaß
erreicht, als wollten wir keine Spuren hinterlassen. In den Fabriken verkürzen
Ingenieure die Produktlebensdauer, jeder Flohmarktartikel hält länger
als Neuware, Fernsehen, Zeitung und Radio überfluten uns mit beziehungslosen
Neuigkeiten, kaum einer weiß mehr den Namen seiner Urgroßeltern.
Nicht das Internet ist flüchtig, es ist die Zeit.
Es sei, meinen viele, Sache der Künste, Dauer einzufordern neben
den atomaren Endlagerstätten. Vorwiegend solche, die in Kopien verbreitet
werden. Deren Vorbild ist das Zwölftafelwerk, das durch Auflagenhöhe
überdauerte. Auf das Gegenmodell, die Stele des Hammurabi, setzt
man symbolisch, mit Zeitkapseln etwa. „Was bleibt?“ ist die
Frage, die Romanen, Filmen, Bildern immer wieder zugemutet wird. ‚Zugemutet‘,
weil sie nie beantwortet werden kann. Und oft zugemutet, weil der Verlust
der Dauer schmerzt; man will bewahren, richtet sich in einem Museum ein.
Kaum eine Hauswand darf mehr verändert werden, alles wird Denkmal,
das mehr als ein Menschenleben hielt. Ein eher verzweifeltes als sinnvolles
Bemühen. Eines Tages wird der letzte Mensch gestorben sein. Dann
kommt vielleicht ein Außerirdischer gegangen. Oder ein Landdelphin.
Wer auch immer – er wird wissen, was blieb.
Uns etwas zu erzählen, das wir im Leben nicht erleben konnten, gehört
zu den Stärken der Literatur. Ich setze mich in meinen Sessel, schlage
ein Buch auf und tauche ein in die ‚fremde Welt‘. Mit dem
Internet ist es ähnlich. Die Zeitung brachte neben Neuem und Buntem
auch Meinung, das Radio die Stimme des Kriegsherrn und das Fernsehen half,
Konsummenschen zu formen, statt der Großen Weiten Welt brachte es
die kleine Viereckige Nebenwelt in kleine, viereckige Wohnzimmer, der
Literatur unterlegen, indem es der Phantasie Spielraum nahm, und überlegen,
indem es mehr Realität für sich behaupten konnte. Und während
die Schriftsteller grübelten, ob Computer ihre Arbeit verändern,
wie es die Schreibmaschine getan hatte, schlug die Welt das Buch des Teufels
auf, das sich von selber schreibt.
Literatur, die bleibt, erzählt von
der Größe des Menschen. Nicht jedes Menschen, sieben Milliarden
sind zu viel, sondern des Einzelnen. Sie ist die Erzählung der Helden,
der Genies, der Könige und der Repräsentanten. Das Internet
erzählt von der Möglichkeit der direkten Demokratie. Es verspricht
sie nicht, kann sie nicht einlösen. Noch triumphiert auch online
der Geist des Wettstreits über den der Kooperation, noch misstraut
man der Technik, der Sicherheit von Abstimmungen etwa. Aber es manifestiert
die Idee. Selbst wenn wir das Internet wieder verlieren, werden wir sie
behalten. Noch ist die repräsentative Demokratie das Beste, was wir
haben; sie ist nicht mehr das Beste, was wir uns vorstellen können.
Literatur, die bleibt, erzählt von der Ewigkeit des Menschen. Gegen
all die Flüchtigkeit unserer Tage setzt sie Transzendenz und gegen
die Flüchtigkeit des Autors sein Bleiben im Werk. Nimmt man beides
zusammen, steht der Fernsehstar für diese Erzählung, der zum
trauten Freund wird und ewig weiterlebt in Wiederholungen, sollte er einmal
sterben. Nicht das Buch. So viel zu den allgemeinen Folgen gern genutzter
Medien. Die Frage „was passiert mit meiner Homepage, wenn ich tot
bin?“ aber wirft mich auf mich selbst zurück. Das Internet
widerspricht der Literatur, die bleibt.
Ist es darum flüchtig? Wer heute als Bewerber abgelehnt wird, weil
der Personalentscheider bei der Suche nach dem Kandidatennamen einen albernen
Foreneintrag von vor zwölf Jahren fand, schüttelt den Kopf.
Hal Faber schrieb in seiner Kolumne bei heise.de am 16.08.2009: „Die
Angst vor den Social Networks, vor den Foren, vor der Unvergesslichkeit
des Internet wird zu einer Gefahr für die Meinungsfreiheit, allgegenwärtige
Datenauswertung führt zur Schere im Kopf, da ist bald gar keine Zensur,
sind gar keine Websperren mehr notwendig.“ So schreitet der Zivilisationsprozess
als freiwillige Selbstkontrolle voran. Je mehr das Internet zum Überwachungsinstrument
mutiert, desto mehr wird Datensammlung und -sicherung zum Gegenspieler
des Datenschutzes. Zumindest symbolisch. Wer etwas über das Internet
bereitstellt, der ‚publiziert‘, und das ist, meinen die einen,
zu erfassen, zu kontrollieren, notfalls zu zensieren und für die
Nachwelt zu erhalten. Die anderen nutzen es bloß, um sich mit Gleichgesinnten
zu unterhalten, bezweifeln, dass sie Publizisten sind.
Publikation oder nicht – das lässt sich an Leserzahlen nicht
festmachen. Es ist eine Frage der Einstellung. Ein Beispiel: Dem Lyrikkritiker
gilt ein in hundert Exemplaren gedruckter Gedichtband, von dem siebzig
Stück verkauft werden, als Publikation, das Lyrikblog mit täglich
fünfhundert Lesern aber nicht. Der Lyrikblogger hingegen versteht
seine Postings durchaus als Veröffentlichung, er trifft ja eine Öffentlichkeit,
das gedruckte Buch aber als Literaturversteck, es findet gerade keine
Öffentlichkeit – anders übrigens als der Artikel des Kritikers.
Den Gerichten wiederum gilt alles im Web als publiziert, was dem Kritiker
nicht satisfaktionsfähig ist, ist ihnen sanktionsfähig. Dazu
später mehr. Wer nach Literatur im Web sucht, ist auf Etiketten angewiesen.
Es ist viel Literatur im Internet. Auch wenn das leichtfertig gesagt ist
– „im Internet“. Denn es ist nichts im Internet, bloß
ist vieles via Internet erreichbar. Nicht einmal die beliebten Raummetaphern,
Agora, „drin sein“ etc., treffen. „Cyberspace ist da,
wo man ist, wenn man telefoniert“, lästerte John Barlow, Mitbegründer
der Electronic Frontier Foundation. Man verbringt Zeit. Manche sparen
Zeit, indem sie das Netz statt eines Bibliotheksbesuchs nutzen oder statt
der Briefpost, andere gewinnen Freizeit, indem sie sich online ihren Alltagsrollen
entronnen wähnen. Bei Kaninchenzucht oder Häkeln und Stricken
– Handarbeits-Websites zwangen übrigens die Strickmusterzeitschriften
in die Knie, lang vor dem amerikanischen Zeitungssterben. Aber gibt es
eine Literatur des Internet? Immerhin scheint es Buchliteratur zu geben,
den Roman etwa. Dieser Frage gingen die Internet-Literaturwettbewerbe
von Zeit und IBM nach. Werke, so hieß es in der ersten Ausschreibung
1996, die „verlustfrei auf Papier“ auszudrucken seien, würden
„es schwer haben“. Das gab Gesprächsbedarf. Einer der
Teilnehmer, Sven Stillich, richtete eine Mailingliste ein, die neben den
Autoren auch Vertreter der Veranstalter, Neugierige und Freunde präskriptiver
Literaturwissenschaft nutzten. „Netzliteratur“ nannte er den
E-Mail-Verteiler, eher willkürlich, nach einem Begriff, den die Berliner
Softmoderne gebraucht hatte, Hyperfiction deutsch zu benennen. Schnell
wurde klar, dass Netzliteratur mehr sein müsse als Hyperfiction.
Aber was?
2 Diverse Netzliteraturen
„Das Geheftete neigt zu allem“
Michael Dresden Arlt
Die Mailingliste Netzliteratur existiert
bis heute, aber sie hat die Frage nicht beantworten können. Leicht
fiel die Abgrenzung zwischen ‚Literatur im Netz‘, einem Gedicht
etwa, das einer auf seiner Website bereitstellte, und ‚Literatur
des Netzes‘, wie sie nur dort entstehen könnte. „Könnte“,
denn sie wurde ja noch gesucht. Doch schon in der nächsten Frage
wurde keine Einigkeit erzielt: Soll Netzliteratur ‚Literatur der
Vernetzung‘ sein, oder einfach ‚Computerliteratur‘?
In jedem Fall wäre sie anders als ‚herkömmliche Literatur‘.
Als Literatur der Vernetzung stünde sie der von genialen Autoren
geschaffenen Lektüre der Vereinzelten in ihren Kämmerchen entgegen,
als Computerliteratur der Buchdruck- und Schreibmaschinendichtung, stets
auf dem Sprung mit der Technik.
Schreibmaschinenliteratur wurde damals behandelt in Gestalt tippender
Affen, die zufällig die Werke Shakespeares erzeugen sollten, als
Gruselgeschichten für Kinder (‚Der Geist in der Schreibmaschine‘),
als Spottrede zum Fräuleinwunder dichtender Schreibkräfte, Buchliteratur
war populär durch Michael Endes ‚Unendliche Geschichte‘
und vernetzte Literatur war bekannt als Mailart, aus den Reihenschreibspielen
des Creative Writing, die stille Post, als mündliche Erzähltradition
mit Lagerfeuerromantik usw. In diese Richtungen ging man auseinander,
blieb aber im Gespräch und redete künftig aneinander vorbei.
Im Sommer 2009 fragte Oliver Gassner, Administrator der Mailingliste Netzliteratur,
die verbliebenen Subskribenten, wie sie es hielten mit der Archivierung
der Netzliteratur. Eine spannende Frage, viele frühe Arbeiten sind
ja auf heutigen Computern kaum wiederzuerkennen. Allerdings ist es auch
eine Frage, die die Netzliteratur wesentlich als Computerliteratur auffasst.
Da ich das nie getan habe, fällt meine Antwort entsprechend kurz
aus: es interessiert mich nicht. Das zu begründen, muss ich etwas
weiter ausholen. Es kommen noch Fragen hinzu.
Wer kindliche Reimspiele kennt, spontanes gemeinsames Singen, wer Feste
zu feiern versteht, sieht Kunst gerne als Ereignis, als Verbindendes,
Gemeinsames. Anderen ist sie ein Zusammentreffen von handwerklichem Geschick;
Reflexion und empfindsamer Seele. Einmal hebt sie die Rollen der Industriegesellschaft
vorübergehend auf, ein andermal liefert sie ihr spezialisierte Waren,
die Werke. Auf Werke sind die meisten heutigen Kunstdiskurse gerichtet,
sie sind schützenswertes Eigentum ihrer Urheber, ablegbare Beweise
künstlerischen Fortschritts entlang des Zivilisationsprozesses. Werke
suchten auch die ‚Pegasus‘-Wettbewerbe, prämierbare Einzelarbeiten.
Wer sich davon abwandte, meinte, die Literatur solle von allen gemacht
werden, wurde stets gefragt, wo denn nun diese Art von Literatur sei,
wo der große Online-Roman bliebe. Man verstand sich nicht. Hörte
einander nicht zu.
Kunst als menschentypisches Tun und Kunst als Frucht der arbeitsteiligen
Gesellschaft, Akt und Prozess auf der einen Seite, Werk und Ding auf der
anderen kamen nicht zusammen. Zwar war oft die Rede vom Tod des Autors
und vom so offenen Kunstwerk, das keines mehr blieb, aber kaum einer hielt
es aus, derlei dann als Nichtautor nicht schaffen zu können. Man
wollte oft Autor sein, auch wenn man sich nach anderem sehnte, anders
empfand, weil der Autorschaft Lohn winkt, persönliche Anerkennung,
all das, was das Bekenntnis zum geistigen Eigentum motiviert – das
dann, auch daraus folgte Unbehagen – Patente auf Leben und soziale
Hierarchien mit legitimiert. Listenteilnehmer Reinhold Grether etwa suchte
den Ursprung der intellektuellen Diskurse in den Versuchen vermögender
Städter, ihren Besitzansprüchen auf entfernte Ländereien
Geltung zu verschaffen, Oliver Gassner schied das Internet als menschenverbindendes
Gewebe vom Maschinennetz, an dem Menschen bloß teilhaben, indem
sie etwas einspeisen. Manche spotteten, die Mailingliste selbst sei die
Netzliteratur, die im Gespräch darüber, was Netzliteratur sei,
sich erschöpfe.
Eine typische, leider nicht realisierte Werkidee war der verfallende Roman,
bei dem der Leser nicht zurückblättern kann, weil sich das Gelesene
nachträglich verändert oder gar verschwindet. Dies wäre
mit den Mitteln des Computers auch ohne Netzverbindung möglich. Eine
andere, der literarische Computervirus, wäre es nicht. Beide Beispiele
zielen auf Subversion, der verfallende Roman aber simulierte sie, der
Virus würde sie praktizieren, der Roman strebte in den Elfenbeinturm,
der Virus in den Untergrund. Im Untergrund, heißt es, sei die Netzliteratur
nie angekommen, aber das ist ein Missverständnis, das aufkommt, wenn
man Untergrund als eine überschaubare Szene ansieht, in der etwas
sich zeigen müsste, als institutioneller oder besser gleich als Nichtuntergrund.
Schon die Kommentare der Juroren zu den insgesamt drei Wettbewerben von
Zeit und IBM belegen das Gegenteil, es wurde nämlich geschimpft,
Beiträge seien z. B. aus den „Weiten des WWW zusammengeklaubt“.
Selbst die ‚Literatur im Internet‘, die Kurzgeschichten der
Hobbyautoren, erfreuen sich anhaltender Schmähung, Schubladen von
Dilettanten ergössen sich da. Einen geräumigeren Untergrund
kann man sich kaum wünschen.
Dies zum Verbindenden und Trennenden. Ein anderer wichtiger Punkt ist
die Technik selbst. Netzliteratur müsse, um diesen Namen mit Würde
führen zu können, die Technik, die sie benutzt, reflektieren.
Das dürfe durchaus bewusster geschehen als in der Schreibmaschinenliteratur.
Leider ändert Technik sich schnell. Daraus folgen u. a. die
Probleme der Archivierung. Es könnte aber auch nach ihrer Relevanz
gefragt werden. Ist es z. B. für eine Literatur des Internet
wichtig, wie die Technik heute funktioniert, wenn sie doch morgen anders
funktionieren wird, das Netz aber erhalten bleibt? Um das klarer zu sehen,
ist es doch nötig, Netzliteratur von Computerliteratur zu unterscheiden.
Digitale Literatur gibt es länger als das Internet. Ich habe vor
dem WWW ein DiskMag mit herausgegeben, ein Literaturmagazin, das auf Disketten
und nicht auf Papier erschien, weil das so billiger war. Die Gelegenheit
führte zu vielen Arbeiten, die ohne Computer nicht möglich gewesen
wären, zu Programmen, die Texte erzeugten oder analysierten, zu medialen
und interaktiven Werken, zu ausführbaren Gedichten in Fortran. All
das ist heute ebenso möglich. Das Internet bietet andere Chancen,
mehrt weniger die des Computers, eher die der Post, des Telefons, des
Faxgerätes, des Fernschreibers. Gab es Fernschreibliteratur? Allerdings.
Sekretärinnen schickten Kettengedichte durch die Geschäftswelt
und sogar Steuerbefehle wurden ästhetisch gestaltet. Fernschreiber
findet man nicht mehr, aber noch heute bin ich Mitglied eines Netzwerkes,
das Texte auf Postkarten austauscht, fortsetzt, aufgreift und weiterschickt.
Das spendet ein nostalgisches Gefühl. Das Internet erweitert die
Möglichkeiten der Vernetzung, das Verlinken einer Webadresse ist
einfacher als ein Faxabruf, und es verändert sich weiterhin, so dass
die grundlegenden Fragen des vernetzten Schreibens und Lesens nicht technikgebunden
behandelbar sind.
Auf Technik zielen soziale, künstlerische und politische Fragestellungen,
aber technische Fragen berühren nicht die Kunst oder die Politik.
Ganz anders die Antworten der Technik. Das Internet wird zum Überwachungsinstrument
totalitärer Staaten und macht zugleich der ganzen Menschheit die
Idee einer direkten Demokratie fassbar. Letzteres, obwohl das Internet
noch nicht ihr ausgereiftes Instrument ist. Das ist nicht erforderlich,
man sieht schon, dass es gehen könnte. Man kann nun alle sich eventuell
ergebenden Hindernisse auflisten und Lösungen dafür suchen.
Auch diese werden sich rasch wieder verändern. Der Blick auf die
Technik ist einer auf vorübergehende Details.
1999 schuf Susanne Berkenheger ein Browserstück mit dem Titel ‚Hilfe!
– Ein Hypertext aus vier Kehlen‘. Das machte die Kehlen sichtbar,
nämlich als freischwebende Fenster, die sich auf dem Bildschirm,
dank Javascript, verhielten. Ein für die Netzliteratursuche der Mailingliste
exemplarisches Werk, obwohl Susanne Berkenheger nicht zu den Listendebattierern
gehörte. Es griff das Erleben des Websurfens auf und nutzte seine
Eigenheiten, eine Geschichte (nicht linear) zu erzählen, ging also
im erwünschten Sinne über das Konzept Hyperfiction hinaus. Dass
dem Stück exakte Anweisungen vorangestellt waren, welche Bildschirmauflösung,
welcher Browser usw. zu verwenden seien, war durch diesen Ansatz durchaus
gedeckt. Allerlei Inkompatibilitäten gehörten zum Alltag der
Webnutzung. Obwohl ‚Hilfe!‘ auf einem einzelnen PC ohne Netzanbindung
gelesen (oder vielleicht: ‚gespielt‘) werden konnte, waren
viele bereit, es als „netzig“ anzusehen, da es ohne das Erleben
des Webs nicht hätte entstehen können.
Zwei Jahre zuvor, am 13. Januar 1997 verschickte Olia Lialina –
ebenfalls nicht in der Mailingliste Netzliteratur aktiv – eine E-Mail
mit nur einem Satz: „if you want me clean your screen, scroll up
and down.“ Dabei stand die Adresse einer schwarzen HTML-Seite, die
eine eingescannte Hand mit einer Briefmarke zeigte. Schob man die Seite
auf dem Bildschirm rauf und runter, schien die Hand den Monitor von innen
zu wischen. Ein Werk entstand als solches erst, wenn man selbst tätig
wurde. Die E-Mail und die Webseite gehörten zusammen. Will man Berkenhegers
‚Hilfe!‘ archivieren, ist vieles zu bedenken, geeignete Software
und ein geeigneter Monitor sind bereitzuhalten. Lialinas ‚clean
your screen‘ braucht ebenfalls einen kleinen Screen, sonst ist es
nichts mit dem Scrollen, kann aber aus keinem Archiv mehr zu dem Leben
erweckt werden, das es einst hatte. Die Briefmarke auf der Hand ist abgestempelt,
der Versand hat stattgefunden, das Werk war. ‚Hilfe!‘ und
‚clean your screen‘ liegen für mich beide an der Grenze
zwischen Computer und Netzliteratur, ‚Hilfe!‘ auf der Computerseite,
‚clean you screen‘ liegt gegenüber an der Netzkante an.
Damit sage ich vor allem etwas über mich selbst, über den Standpunkt,
von dem aus ich behaupte, Netzliteratur sei nicht archivierbar.
Und mehr: ich lese heute Twitter, eine Art Miniblog-Service. Ich folge
rund 150 Personen, natürlichen und juristischen. Was sie tippen,
kopieren und einfügen, verlinken, erscheint der Reihe nach auf einer
Seite. Meiner Seite. Viele sind einander fremd. Niemand sieht die Zusammenstellung,
die ich sehe. Sie ist immer aktuell, aber kein Etwas: alles vermischt
sich. Einer twittert einen Roman, zeilenweise, eine bringt Haikus, einer
Nachrichten aus der Kulturpolitik, einer hat Hunger, eine gerade Ebbe
im Kühlschrank, eine streitet sich mit ihrem Freund, einer muss sein
Theaterstück umschreiben, eine übersetzt einen Reisebericht
aus dem alten Ägypten usw. Das Einzelne verbindet sich – mir.
Zu Geschichten, immer wieder. Mir ist das spannender als fast je ein Roman.
Niemand hat das vorsätzlich produziert, kein Autor, kein Team. Nie
sollte es Literatur werden, aber mir ist es das, allein durch meine Lektüre,
für einen Augenblick. Literatur, aufscheinend wie Benjamins Reklame
in der Feuerlache. Ich lese übrigens, fällt das auf, allein.
Andere müssen es ähnlich erleben, nennen doch viele ihre Quellen
bei Twitter einfach nur „via Twitter“ und nicht, wer es war.
(Man kommt hin, wenn man auf den Link klickt.)
Hier scheint Einspruch geboten. So wären Satzfetzen aus Gesprächen,
vermischt mit Sprüchen von Plakaten usw., die ein Spaziergänger
aufschnappt, Literatur. Und wer sich unter Literatur das Werk eines Autors
vorstellt, wird nichts gelten lassen, was keinen hat, ganz unbeeindruckt
davon, ob es Leser findet oder nicht. Die Rede vom Tod des Autors war
nie ernst gemeint. Literatur, die man nicht schaffen kann, nicht katalogisieren,
gilt nicht. Daraus folgt entweder, dass es keine Netzliteratur gibt, oder,
dass alles als Netzliteratur aufzufassen ist, was auf eine digitale Existenz
angewiesen ist – möge es ohne Netz funktionieren. Aber Netzliteratur
könnte auch lebendige Literatur sein, Texte, auf die man antworten,
die man erweitern kann, einbinden, mit anderen verweben. Gespräch
also, nicht Auftritt, ‚Oralität‘ nicht im Sinne von Poetry
Slam. Solche Netzliteratur bewahren hieße, sie zu dokumentieren.
Es sei denn, man sieht es so: Das Netz löst das Werk auf, das Archiv
bringt es wieder.
Ein anderes Modell urheberfreier Kunst gibt die der nordindischen Raga-Tradition.
Diese Musik ist über Jahrhunderte weitergegeben und von ihren Interpreten
verändert worden. Die Musiker wurden damit berühmt, aber nicht
als Komponisten. Die Stücke waren frei und standen allen zur Verfügung.
Heute aber, unter dem Einfluss des Urheberrechts, treten Ragamusiker als
Schöpfer auf, die Eigentumsrechte für sich beanspruchen und
auf Nennung in Katalogen pochen – und damit die Tradition beenden.
Ich habe keineswegs 13 Jahre Netzliteraturdiskurs
zusammengefasst, sondern bloß einige Punkte herausgepickt. Es soll
eine persönliche Stellungnahme werden. Ich archiviere nicht, ich
lösche. Ich will erklären, warum. Das hat zum einen den bereits
erwähnten gesamtgesellschaftlichen Hintergrund, zum anderen beruht
es auf der Erfahrung der Netzliteratursuche. Ich habe mir mein eigenes
Bild davon gemacht, was ich Netzliteratur nennen will. Das hat mit den
Werken, die das Wort heute als Etikett tragen, wenig zu tun, mit Werken
überhaupt. Ich bin kein Autor, sondern Texter, d. h., ich hebe
nicht ur. Meine Arbeit wird kaum als Literatur durchgehen. Aber ich habe
durch die Mailingliste Netzliteratur etwas kennengelernt, das ich nun
andernorts anwende. Den Wert der Flüchtigkeit. Allerdings haben auch
Juristen einiges dazu beigetragen.
3 Wieder verschwinden
„Möchten Sie die Änderungen
in Dokument X speichern?“
MS Word
Wer einen Zeitungsartikel zitiert, zwei
oder drei Zeilen, ihn verlinkt, aber nicht kommentiert, bestiehlt die
Zeitung. Deren Anwalt schickt einen Brief, darin steht, man solle es lassen,
für den Schaden der Zeitung 500,- Euro überweisen, für
den Aufwand dem Anwalt 500,- Euro überweisen und eine Erklärung
soll man unterschreiben, künftig brav zu sein der Zeitung gegenüber.
Meist liegt ein zweites Schreiben bei, mit dem der Anwalt darauf hinweist,
dass es noch teurer würde, würde man in seinem Blog über
die Abmahnung berichten und dabei den Namen des Anwalts oder der Zeitung
nennen. Insbesondere sein Name ist dem Anwalt heilig.
Ich habe schon oft bezahlt und zitiere heute nur noch mit ausführlichen
Kommentaren. Leider darf ich gar nicht zitieren. Wenn die Zitierten das
begriffen, wäre ich ruiniert. Sie begreifen es seit Jahren nicht,
zu meinem Vorteil, ich stehle ungestraft. Wie das kommt, scheint also
erklärungsbedürftig, ist aber recht einfach. Das deutsche Urheberrechtsgesetz
regelt das Zitatrecht in § 51 durchaus großzügig, gestattet
das Zitat aber nur Werken, sei es der Wissenschaft, der selbständigen
Sprache oder Musik. Was kein eigenständiges, seinerseits urheberechtlich
geschütztes Werk ist, darf auch keine Zitate enthalten. Nicht erlaubt
ist demnach, ein reine Sammlung von Zitaten aus fremden Werken als eigene
Publikation herauszubringen, ohne entsprechende Lizenzen zu erwerben.
Der Grund, aus dem ich nicht zitieren darf, ist: ich schaffe keine Werke.
Kann man keine Werke schaffen? Selbstverständlich. Der Rechtsbegriff
hierzu ist die Schöpfungshöhe. Liegt überhaupt eine eigenständige
Schöpfung vor? Ein Einkaufszettel ist so wenig ein Werk wie eine
Telefonnotiz, eine kleine Wörterliste oder ein Spruch. Hätte
ein Spruch aber 17 Silben und hieße Haiku, wäre er doch ein
Werk. Dazu ein Beispiel. Gäbe ich auf meiner Website Lesern folgenden
albernen Rat, wäre der weder ein Werk noch mein geistiges Eigentum:
„Vorsicht im Herbst, nur sieben Silben hat der Tod; fünf Silben
schreiben!“. Hieße das Dokument, darin er steht, aber haiku.htm
und der Satz wäre in drei Zeilen umgebrochen, wäre es ein Haiku
und damit ein Gedicht und als solches Werk, meins.
„Vorsicht im Herbst
nur sieben Silben hat der Tod
fünf Silben schreiben“
Wenn ein Gedicht ohne Umbrüche zitiert
wird, setzt man häufig schräge Striche. Das sähe so aus:
„Vorsicht im Herbst / nur sieben Silben hat der Tod / fünf
Silben schreiben“. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Richter das
nun für ein Werk hält, oder nicht. Das ist der Grenzfall. Aber
nicht alles, was untereinander steht, ist ein Gedicht. Es könnte
z. B. eine Liste sein. Darum müsste Haiku noch dabeistehen.
Ein Sonett ist leichter zu erkennen, eine Ballade könnte Liste und
Gedicht zugleich sein.
Andere brauchen nicht mitzudenken. Ein Foto z. B. genießt Sonderrechte,
ist vom Erfordernis der Schöpfungshöhe freigestellt, was bedeutet,
dass selbst der Schnappschuss, der entstand, weil man sich aus Versehen
auf sein Handy setzte, ein Werk ist. Fotos dürfen also viel zitieren.
Ich aber brauche Zitate – und ich zitiere nicht fair. Ich schöpfe
durchaus, aber nicht hoch, sondern eher flach. Ich mache seit vielen Jahren
das Gleiche, es ist ein einfaches Verfahren, ich stelle es kurz vor.
Ich wähle mir einen Gegenstand, einen Stoff, eine Debatte oder eine
Frage (in Form eines Satzes) und suche mir mit verschiedenen Suchmaschinen
allerlei Quellen zusammen. Diese Quellen werte ich statistisch aus, d. h.
ich zähle Wörter, Kollokationen, häufige Redewendungen,
typische Sätze usw. Ich erstelle Summaries und Wörterlisten.
Dafür nutze ich teils fremde Programme, teils habe ich mir eigene
Werkzeuge gebastelt. Online-Angebote, wie etwa das Wortschatzprojekt an
der Uni Leipzig, erweitern die Möglichkeiten, z. B. kann ich
gegenüber der Alltagssprache abweichend häufige Wörter
finden. Die Ergebnisse sortiere ich in Tabellen und lade die in eine Datenbank.
Dann schreibe ich eine Abfrage an diese Datenbank, die aus den Tabelleninhalten
einen neuen Text erstellt, so dass aus jeder Tabelle nur eine Zeile auftritt,
vielleicht also nur ein Wort. Ich könnte viele Texte erwürfeln.
Das sieht nach Cut-up aus, ist es aber nicht.
Cut-up setzt auf den Zufall. ‚Dem Zufall vertrauen.‘ Ich aber
nicht. Meine Scheren schneiden nicht willkürlich Wörter aus
der Zeitung, sondern nach Berechnung. Es soll das Typische eingefangen
werden, nicht das, was mir gefällt. Ich folge da Kurt Schwitters,
der das Beachten des Ausschneidens vor der Kollage dringend empfahl. Vor
allem ist meine Datenbankabfrage keine Papiertüte, die ich schüttle.
Die Auswahl der Tabellenzeile erfolgt zwar nach einem Zufallswert, das
wäre kaum anders möglich (die IP-Nummer des Lesers, der eine
so generierte Seite aufruft, habe ich auch schon verwendet) – aber:
ich setze die Vorgaben für den Ausgabetext so eng, dass nur ein möglicher
Text übrig bleibt. Ein einfaches Beispiel wäre eine Reimvorgabe,
die Enden der Zeilen 3, 5 und 7 müssten sich reimen, dann kämen
aus den entsprechenden Tabellen nur noch wenige Datensätze in Frage.
Kann kein Text mehr ausgegeben werden, lockere ich die Beschränkung,
entstehen bei mehreren Abrufen mehrere Texte, verschärfe ich sie.
Am Ende steht immer einer, der ist nicht zufällig entstanden. Die
Vorgaben für den Ergebnistext ziehe ich ebenfalls aus den Quellen.
Die haben meist – gerade wenn man viele liest, fällt das auf
– ihren eigenen Klang, das Bürokratendeutsch, die Werbesprache,
das Sehnsuchtsgefasel usw. Darüber hinaus könnte ich Gedichtformen
wählen, bekannte oder neu konstruierte Strophen und Verse. Ich lasse
das inzwischen und orientiere mich lieber an den diversen Listenpoetiken,
denn ich will nicht in Verdacht geraten, Werke zu erstellen.
Ein Werk vermeide ich a) durch die Verwendung fremden Textmaterials, das
aus vielen Quellen gemischt ist, deren Zusammenhang ich selbst setze,
b) durch maschinelle Verarbeitung (meine Programme sind urheberrechtlich
geschützt, ihr Output als solcher nicht) und c) durch den Listencharakter
der Resultate. Eine gute Liste kann jeder selbst sortieren, sich aneignen,
damit spielen, sie ist frei und setzt viel frei. (Eine starre Liste wäre
eventuell wieder geschützt.) Aufpassen muss ich, wenn eigentümliche
Wortschöpfungen in den Quellen stehen. Nehme ich Celan-Gedichte,
sieht man das am Ergebnis sofort.
So weit die Beschreibung. Der Eindruck liegt nahe, dass derlei durch die
Kunstfreiheit gedeckt sei. Dem ist nicht so. Zum einen, weil in der Musik
inzwischen schon Zitate von Sekundenbruchteilen als Plagiat gelten, zum
anderen, weil auch die Kunst zu ihrer Anerkennung wieder des Werkes bedarf.
„Kunst, die keine Werke hat, hat immerhin Künstler“,
versuchte ein Freund meine Texte in die Kunstsphäre zu retten, aber
auch das hilft mir nicht weiter, denn meine Person möchte ich ganz
draußen halten, keineswegs als ‚Künstler ohne Werk‘
mich selbst vermarkten. Auf einen Markt nämlich ist all das zugeschnitten.
Es geht darum, anderen den Lohn ihrer rechtmäßigen Verdienste
nicht zu beschneiden. Ich denke auch nicht, dass ich das tue, ich stifte
keinen Schaden. Das Gesetz überschreite ich doch.
Ich könnte (und habe das oft getan) gemeinfreie Quellen verwenden,
Liebesgedichte des Barock, Eckermanns Notizen. Damit wäre der Spieltrieb
befriedigt, nur die Neugier nicht. Ich finde aktuelle Debatten, Forschungsergebnisse,
Kriminalnachrichten usw. spannender als gut abgehangene Literatur. Ich
mache dabei aufregende Erfahrungen, z. B. beobachte ich im Zeitungstext
seit dem Jahr 1999 das stete Anwachsen eines bellizistischen Wortschatzes.
Ich könnte Verschwörungstheoretiker beliefern. Von wissenschaftlichem
Wert ist das nicht, aber es macht mir Spaß und hilft mir, vor dem
Gebrause der Medienwelt nicht zu verstummen. Auf meine Art, nämlich
ohne dass ich auch noch viel dazu sage, ohne Vermehrung der Textmasse,
sondern im Gegenteil, durch Reduzierung. Dabei ist der berühmte Punkt,
auf den man kommt, oft ein anderer als gedacht. Oder es gibt keinen, bleibt
bei der Aufzählung.
Ist der Text (im besten Fall) fertig, füge ich Satzzeichen ein, streiche
allzu blöde Zeilen wieder weg, schaue, wie es mir besser gefällt.
Johannes Auer nannte solche nachträglichen Eingriffe in den Maschinentext
„menscheln“. Das gefällt mir und er hat wohl Recht und
es menschelt bei mir, nicht allzu sehr, aber genug, es besser nicht zum
Text dazuzuschreiben, dass nicht noch einer Kunst sich dabei denkt. Hier
ein ungefährliches Beispiel aus der Märchensammlung (vollständig)
der Brüder Grimm:
„'Adieu, Herr Hans,
was soll ich tun,
ich armer Mann?‘
' Guten Tag, Gretel!‘
Hans kommt zur Gretel.
' Wo bist du gewesen?‘
' Guten Abend, Mutter.‘
' Was bringst du Gutes?‘
'Guten Abend, Hans,
guten Tag, Hans.‘
Warum auch nicht,
ich bin schon da.
'Adieu, Frau Gretel!‘
Drum ist sie mein,
nun nimmermehr.
Das wär des Kuckucks.
Und das war Recht.
' Was verlangst du,
und wo bist du,
was sprichst du da?‘
'Was macht mein Kind,
was macht mein Reh?‘
Was will sie denn?
Schon gut gemacht.
Und eine Treppe höher:
' Mutter, Adieu.‘
' Wohin, mein Hans?
Hans, mach es gut.‘
Einmal war Gretel.
Hans wenn sie nicht …
Ich hab’s heraus.
Na, willst du was?“
Ist das ein sehr
schlechtes Gedicht (ein Text, ein Gewebe) oder eine Liste (kein Gewebe)
häufiger Satzteile aus der Grimmschen Märchenwelt? Was auch
immer, ich hab es nicht erfunden. Gefunden vielleicht, wenn man das als
Fund gelten lassen mag. Dass es ein Werk sei, werde ich bestreiten. Die
Brüder Grimm, lebten sie noch und hätten sie die Märchen
selbst erdacht, und ihre Anwälte würden der Liste gleich ansehen,
was da verwertet wurde. Auch der Plagiatscanner schlüge an, wenn
er routinemäßig das Internet durchsucht. Ist es kein Werk,
dürfen sie klagen, ist es eins, darf ich klagen, wenn einer es mir
klaut.
Ich will nicht klagen. Damit komme ich zur Frage, die bislang offen blieb.
Warum will ich keine Werke schaffen? Mit Werken wär die Kunst ein
Kinderspiel. Triebe ich mein Vergnügen für mich allein, wär
es mir gleich. Aber ich zeige es her. Ich poste die Ergebnisse in Zeitungsforen,
wo diskutiert wird, was ich verwertete, in Mailinglisten, als Kommentare
in Blogs, die zum jeweiligen Thema beitragen, in mein eigenes Blog. Dabei
bin ich vorsichtig. Als ich mir vor einigen Jahren die Beiträge zum
Bachmannwettlesen vornahm und u. a. Aussagen über die Wortschatzdichte
machte, durfte ich wochenlang erklären, dass daraus keine Wertung
der Texte folgen kann. Noch heute treffe ich Leute, die meinen, es habe
mal jemand errechnet, wer den Bachmannpreis gewinnen müsse. Nun sage
ich nichts mehr zur Textbasis, kommentiere die Resultate nicht, jeder
kann sich dazu denken, was er will. Diese Art von Vorsicht. Auf gemeinfreie
Quellen beschränke ich mich aber nicht.
Die Texte, die gefundenen häufigen Wörter, Floskeln, Sätze,
ihre Zusammenstellung, der etwas andere Eindruck, der sich aus solchem
Niederschlag der Informationsströme ergibt, will ich verbreiten.
Jeder soll sie nutzen können, weiterverwenden, in seine Arbeit einbauen
usw. Ich nenne es ‚Kostenloskultur‘. Darunter versteht man
gegenwärtig das Raubkopieren fremder Werke. Früher meinte es
etwas anderes, nämlich, dass Menschen Materialien, die sie schon
haben, gratis zur Verfügung stellen und selbst nehmen, was sie für
sich brauchen können. Als Lehrer hielt ich das Mitte der 1990er Jahre
so mit Unterrichtsvorbereitungen. Viel gab mir das Web – warum sollte
ich meine Sachen unter Verschluss halten, nur profitieren? In diesem Sinne
meine ich das noch heute. Ich freue mich, wenn meine Arbeit nützlich
ist. Das sehe ich daran, dass sie sich verbreitet. Dass man, was man gehört
hat, wenn es schön war, wieder sagen darf und wieder sagen soll,
das habe ich von meiner Mutter gelernt.
Böte ich Werke an, bräuchten die Nutzer eine Lizenz. Zwar kann
ich freundlich sagen, dass jeder alles haben darf, aber schon morgen könnte
ich meine Meinung ändern. Das Gesetz stellt mir das frei. Wer dann
nicht schnell wieder löscht, was er von mir hat, den könnte
mein Anwalt abzocken. Eine ordentliche Lizenz schützt davor. Um meine
Arbeiten zu lizenzieren, müsste ich mein Eigentum an ihnen behaupten.
Das läge mir erstens nicht, weil ich nicht daran glaube, und hätte
zweitens den Nachteil, dass alle Nutzer das übernommene Material
als fremdes kenntlich machen müssten. Tun sie es nicht, setzen sie
sich später dem Plagiatsverdacht aus. Die freie Verwendung meiner
Ergebnisse wäre dadurch behindert. Es würde sie keiner nutzen.
Darum – und nicht nur, weil ich die Idee des geistigen Eigentums
für geistige Landnahme halte – will ich keine Werke schaffen,
bloß Notizen zum freien Gebrauch. Ich hoffe, dass mein Trick mit
der Schöpfungshöhe funktioniert, d. h. dass man ihn glaubt
und sich bedient. Texte, die nur zur Ansicht ausliegen, sind tot, schlimmer,
sie töten, denn was einer gesagt hat, das darf kein anderer mehr
sagen. Mit jeder neuen Druckseite nimmt das Sagbare ab.
Leider schützt die Verwendung urheberrechtsfreien Textes nicht vor
dem Plagiatsvorwurf. Schreibe ich aus dem gemeinfreien Werk Schillers
ab und gebe es nicht an, kommt bald einer drauf, dass es Schiller war,
der da schrieb. Ich spiele gerne mit Plagiatscannern und habe kaum ein
Buch untersucht, darin nicht jede Menge steht, das man auch andernorts
findet. Ich freue mich darauf, große Buchsammlungen wie Google Books
nach Plagiatanteilen zu sortieren. Das könnte, einen entsprechenden
Zugang vorausgesetzt, bereits möglich sein. Dürfen meine Texte
also genutzt werden, sollten aber nicht, der Ehre wegen? Auch dagegen
kann ich etwas tun: Löschen.
Endlich bin ich am Löschpunkt. Ich betrachte das Löschen als
aktive Beihilfe zum Plagiat. Wer bei mir kopiert, muss nicht fürchten,
in zwanzig Jahren als Plagiator enttarnt zu werden. Ich glaube nicht,
dass ich damit die Qualität der deutschen Literatur gefährde.
Man kann aus meinen Schnipseln kein großes Werk basteln, da muss
schon noch eigenes dazu. Wer selbst nichts kann, dem kann ich auch nicht
helfen. Trotzdem ein Blick auf den Extremfall: einer nimmt einen Text
(oder ein Bild, eine Tondatei) und gibt ihn unverändert selbst heraus,
schreibt seinen Namen drüber. Ich hätte nichts dagegen, das
kostet mich nichts. Dann bekommt er dafür einen Literaturpreis. (Nicht
wirklich vorstellbar, mein Zeug bringt keine Preise, aber mal angenommen.)
Welcher Schaden wäre entstanden? Oder jemand kauft diesen Text, weil
der vom dem Autor stamme, der drüber steht, als Devotionalie. Der
wäre betrogen? Wirklich? Es hat doch sein Held den Text sich zueigen
gemacht. Und weiß er, wie der sich sonst seine Ware zaubert –
aus sich, dem Genius, heraus tut’s keiner.
Wenn ich nur fleißig lösche, ist auch der fremde Name möglich.
O. k. Aber wann löschen? Je aktueller die Diskurse und Ereignisse,
die ich behandle, desto geringer die Lebensdauer meiner Destillate. Alles
zu den Filmchen des Videoterrorfürsten z. B. ist längst
erledigt. Ich lasse etwas Zeit, manchmal ein Jahr. Hat es bis dahin keiner
haben wollen, war es unbrauchbar. Dann kann es weg. Manchmal lösche
ich schneller, wenn Firmen oder Marken darin stehen oder Personennamen.
Dann muss es weg, bevor die anwaltlichen Schreiben kommen. Es darf auch
nichts im Google-Cache verbleiben, das hab ich ausgeschlossen. Für
mich behalte ich Kopien. Die sichte ich später wieder. Wenn mir dann
etwas auffällt, was mir gelungen scheint und gut, aber noch nirgends
aufgegriffen wurde (keine Websuche es findet, ich kein Buch kenne, darin
es steht) bringe ich es vielleicht wieder, bessere auch nach. Beim nächsten
Sichten aber kommt alles weg, was übrig blieb.
Ich habe neben der Beihilfe zum Plagiat und der Sorge vor eigener Verfolgung
noch einen weiteren Grund zu löschen. Je größer die Textflut,
desto unbedeutender der einzelne Text. Schade, dass es nicht mehr, wie
in meiner Jugend, üblich ist, einzelne Gedichte zu diskutieren. Heute
nennt man ganze Bücher, wenn überhaupt, und diskutiert wird
nichts, ein Gedicht ist zum Anstaunen da. Mir ist der einzelne Text wichtig.
Darum mag ich keine Website betreiben mit Zehntausenden von Artikeln,
in denen jeder einzelne ertrinkt, das hatte ich schon, das ist vorbei.
Ein Weblog macht das leicht. Es steht immer das Aktuelle oben, nach unten
blättert kaum mal einer. Und eh ein Jahr vergangen ist, klick ich
es hinten weg. Das übrigens ist zugleich der Nachtteil des Blogformats,
für die, die es gerne andersherum hätten. Mir kommt es entgegen.
Es riecht nach Verfall.
4 Der Datenschutz als Widersacher der Datensicherung
„Die Stasi ist mein Eckermann“
Wolf Biermann
Was immer man am Computer
erstellt, muss auf einen Datenträger geschrieben werden. Es braucht
einen Namen, es zu rufen, eine Adresse, es zu finden. Übergibt man
ein gespeichertes Dokument an einen Computer, auf dem die Software fehlt,
mit dem es erstellt wurde, bleibt die Datei oft verschlossen. Da die Datenträger
selten zuverlässig sind, ist es sicherer, Kopien anderswo abzulegen.
Man nennt das Datensicherung.
Anders als die Datensicherung beschäftigt sich der Datenschutz mit
dem Zugriff auf die Dokumente und mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Oft ist die Datensicherung eine Schwachstelle des Datenschutzes. Wie im
Beispiel Internet: viele Menschen wollen es nutzen, ohne sich auszuweisen,
aber was sie auch tun, es wird alles gespeichert, noch einmal gesichert.
„Nichts ist flüchtiger“, sagen die einen, „als
ein Dokument im WWW.“ – „Nichts ist klebriger“,
sagen die anderen, „als was du ins Web stellst, es geht nie wieder
weg.“ Wäre das wahr, wäre das Internet sein eigenes Archiv.
Wer sich einen Vorrat Internet eintüten will, darf wählen. „Nur
WWW“ lautet eine gängige Parole. Die Polizei hingegen ist mehr
auf flüchtige Kanäle aus.
Nach Jahrzehnten Dauerberieselung aus Radio und TV boten die Dienste des
Internet endlich Gelegenheit, sich selbst einzubringen. Der ‚User‘
war nicht mehr stumm. Manche reden hier gern von Brechts ‚Radiotheorie‘,
die darin bestanden haben soll, dass Brecht zum Radio einen Rückkanal
wünschte. Es findet sich zum Rückkanal auch eine weniger nette
Vision, nämlich in Orwells Roman ‚1984‘. Da ist es das
Fernsehgerät, das zurückschaut. Nun kann man per Internet antworten
und im Gegenzug schaut die Polizei vorbei. Sie ist es, die neben Geheimdiensten
und sonstigen Sicherheitsorganen am gründlichsten suchen und archivieren
lässt. Dazu kommen die allgegenwärtigen Verbrecher, nach denen
gesucht wird, die Spammer, die werbende Wirtschaft überhaupt, die
ihrerseits nichts lieber hätte, als umfassende Profile aller Internetnutzer
– sie alle sammeln, was sie an Daten bekommen können. Das Internet
bedient jeden gleich, Geschäftsleute, Konsumenten, Tyrannen und den
Widerstand. Es ist noch neutral.
Die Welt ist wieder Bühne, aber nicht Gott schaut zu, sondern die
Mitspieler. Wie schon früher, weiß man nie, ob sie wirklich
existieren. Man kann einen Panzer ersteigern, der wird ins Haus geliefert.
Man kann einen Flug buchen und die Reise antreten. So neu ist das nicht.
Man konnte vor dreitausend Jahren einen Brief schreiben, der dreißig
Sklaven kommen ließ. Man ist schneller in der Zeit. Aber es ist,
mit Tolkien, ein Instrument, nicht allein alle zu finden, sondern auch
zu binden. Das Internet ist weniger als universelle Kristallkugel vorgedacht,
eher als halluzinogene Droge. ‚Second Life‘ heißt ein
beliebter Dienst, man wählt sich eine Spielfigur und macht ‚in
Welt‘ (in der man wiederum Literatur antreffen wird).
Wo Menschen zusammenkommen, ist Gespräch. Wie sie zusammenkommen,
spielt keine Rolle. Anders ist es, wenn sie Kassiber überreichen
oder Plakate aufhängen. Die sollen wohl nicht flüchtig sein.
Sieht man genauer hin, führen oft dünne Drähte zu weiteren
Daten. Manches steht allein, vieles hängt zusammen. Das Gespräch
soll flüchtig sein. Dass es das im Internet nicht ist, beweist der
Schriftsatz des nächsten Abmahnanwalts. Was in der Kneipe als harmlose
Äußerung unter Bekannten durchgeht, kann online eine Beleidigung
sein. Sagt einer, die Produkte des Herstellers X taugten nichts, passiert
ihm nichts, postet er es in ein Forum, muss er es beweisen. Trägt
man Freunden ein Gedicht vor, wird man nicht verklagt, bloggt man es,
ist es eine böse Urheberrechtsverletzung. Selbst das Happy-Birthday-Lied
ist geschützt. Weh dem, der bei YouTube ein Video vom Kindergeburtstag
einstellt. Was, wenn er seinen Fehler bemerkt, das Video löscht und
Jahre später erst verklagt wird, weil ein Robot des Rechteinhabers
es in einem Archiv gefunden hat? Solchen Risiken ist der online vorsätzlich
publizierende literarische Autor allerdings in gleicher Weise ausgesetzt.
Dass sich Kunst zudem im Streit mit Persönlichkeitsrechten befinden
kann, zeigt etwa das Urteil des BGH zu Maxim Billers Roman ‚Esra‘.
Mussten Bibliotheken ihre Exemplare wegschließen? Für Internet-Archivar
Brewster Kahle „ist das World Wide Web hauptsächlich eine freie
Bibliothek.“ Für andere ist es ein Tatort.
Das Konzept des verfallenden Romans, eben noch belächelt, ist wieder
im Spiel. Etwa in Gestalt der verfallenden E-Mail. Die soll vor dem eigenen
Geschwätz von gestern schützen. Christoph Drösser schrieb
dazu unter dem Titel „Digitale Amnesie“ kürzlich in der
Zeit: „Digitale Daten sind gleichzeitig flüchtig und dauerhaft.“
Man hätte es sich denken können. Flüchtig ist dem Archäologen,
was keine tausend Jahre hält, dauerhaft dem Kriminalisten, was er
nach einem Jahr noch aufspüren kann. Sicherung also dem, was bleiben
soll, Schutz dem Flüchtigen! Das Internet ist in Bewegung. Das spricht
für seine Dauer. Doch was man behalten will, muss man nach Hause
tragen. Das sichert dann auch Arbeitplätze in der boomenden Speichermedienbranche.
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