Gilt eine digitale Unterschrift? Gilt
für Webpublikationen das Presserecht? Sind Urheberrechte im Internet
durchsetzbar? Wie können im Ausland begangene Internet-Straftaten
verfolgt werden? Sind Adressen Marken?
Vom Internet heißt es, es brächte Fun beim Surfen, sicheres
Homebanking und bequemes Onlineshopping, aber auch verwirrende Rechtsfragen
und, wie zufällig, Kinderpornografie. Man kann dort, heißt
es ebenfalls, alles kaufen. Viagra zum Beispiel oder Pheromone, den "Duft,
der die Frauen anlockt", oder Mein Kampf. Aber auch Books
on Demand, angeboten vom Buchgrossisten Libri, das schnelle Buch ohne
Verleger, finanzierbar für jedermann.
Mit der billigen Textdistribution des Internet kann das Buch, einst mit
ähnlichen Absichten angetreten, nicht mithalten. Hiervon später
mehr. Nun pocht es auf Qualität. Worin besteht die? Folgt man dem
stets orientierenden Feuilleton, so gibt das Buch den Lesern den Komfort
"es mit ins Bett zu nehmen", den Autoren das Glück "sich
gedruckt zu sehen" und den Verlegern die Chance "Arbeitsplätze
zu erhalten". Es überdauert, sagen die Herren von der Pietät,
den Tod.
Wir werden sehen.
Das World Wide Web konkurriert nicht mit dem Buch, sondern mit dem Fernseher.
"Internet und TV wachsen zusammen", rufen darum Telekom und
Privatfernsehen. Sie begriffen das gleich.
Internet ist Fernsehen von unten. Da sehen wir Nachbars Katze und einer
unbekannten Chinesin neuestes Häkeldeckchen. Dazu Hobbylyrik, selbstkomponierte
Musik und Pizzarezepte. An der eigenen Homepage zu basteln, mit anderen
sich darüber auszutauschen, gemeinsame Projekte, etwa "unser
Stadtteil im Internet", oder die Teilnahme an Diskussionsforen zur
Kaninchenzucht - das ist kein neumodischer Quatsch, das ist die Befreiung
aus dem passiven Verharren vor der Glotze mit ihren Gameshows und Katastrophenbildern.
Kommunikation statt Konsum.
Ein neues Medium verdrängt kein altes. Es kommt hinzu. Aber das
gilt bloß den wirklich Alten. Die Neuen müssen ihre Dauer noch
zeigen. Telex ist tot, das Fax stirbt.
Wer am PC schreibt, ausgestattet mit einem großen Monitor, vermisst
keine Schreibmaschine. Wie an die Wand gemalt erscheinen die Lettern in
Lichtschrift und hinter Glas. Das Computerzeitalter hat seine eigenen
Weihen.
Dass es auch Literaturhomepages gibt, ist dem Literaturbetrieb egal.
Rentnermemoiren, Tagebücher verliebter Teenager, Früchte der
Creative Writing-Workshops. In Massen, eine Schundflut; Berufsleser ringen
verzweifelt die Hände.
"Spontane Ergüsse von Freizeitdichtern oder copyrightfreie
Klassiker - das war alles, was das Internet noch vor wenigen Jahren als
"Literatur online" zu bieten hatte. Herzlich wenig also, aber
das hat sich mächtig geändert: Auch die Profis sind nun ins
Netz gegangen." So Dorothée Stöbener im SPIEGEL Spezial
"Die Zukunft des Lesens".
Die Ergebnisse enttäuschen. Da werden Teile gerade entstehender
Manuskripte publiziert, Online-Tagebücher geführt oder Leser
fürs Mitschreiben an Fortsetzungsgeschichten begeistert. Die Qualität
reicht über die von Hersteller Hakle initiierte Klopapierprosa selten
hinaus. Noch sind zu wenig "Profis" im Netz um aus ihrem Treiben
Schlüsse zu ziehen. Es scheint allerdings, als liefere der Literaturbetrieb
hier eine Vorstellung seines inneren Zustandes:
Nicht hinzuschauen, wohlfeiler Hohn und freudiges Abkanzeln des Laienschreibertums
erfüllen eine Ventilfunktion. Die internationale Konkurrenz mit ausgebildeten
statt genialischen Schriftstellern, eine drohende Just in Time-Produktion
von Büchern, die Verleger als Risikoinvestoren überflüssig
macht, das Wackeln der Buchpreisbindung usw. sind Zeichen einer Krise,
die so schnell nicht vorübergehen wird. Gerade in der Preisbindungsdebatte
waren von Autoren- und Verlegerseite Argumente zu hören, die die
Lebensunfähigkeit der ganzen Branche außerhalb beschützter
Räume behaupten. Dazu kommt die noch nicht vergessene Peinlichkeit
des Literatenprotests gegen die Rechtschreibreform.
Vor allem aber fehlt die Kraft. Was hatte das Buch als Massenmedium für
einen Kampfgeist, was für einen aufklärerischen Elan. Die erste
Bibel in Landessprache für jedermann. Und heute? Nichts als Weihrauch.
Der Literaturbetrieb des deutschen Sprachraums ist zum Hüter tradierter
Werte geronnen, eine alimentierte Sekte, die das Buch anbetet.
Das Buch bot schnelle Reproduktion in nie dagewesener Weise. Diese Rolle
hat das Internet übernommen. Nun bietet das Buch das Bewahren der
guten alten Zeit. Dass Literaten in den letzten Jahren, wenn sie sich
überhaupt politisch äußern, ein Vergessen der Nazizeit
oder die Rückkehr des Nationalismus herbeischreiben wollen, ist kaum
ein Zufall.
In der Krise tut es gut, einen vermeintlich Schwächeren ein wenig
zu verprügeln, dann fühlt man sich besser. Mit gekonnter Drastik
unternimmt dies etwa Michael
Rutschky "Ich stelle mir das so vor, daß alle, die im Internet
Literatur publizieren - weil publizieren das Primäre ist, und nicht
Schreiben - daß all diese Internetliteraten nichts sehnlicher wollen,
als einzukommen in die legitime Kultur. Zu Suhrkamp. Und zwar Hardcover!"
Legitime Kultur?
Wenn Literatur im Angesicht des Publikums entstünde, wenn Bücher
bei Bedarf für jeden Leser einzeln gedruckt und gebunden würden,
wenn Schriftsteller ihre Kunst unterrichteten, wenn Buchhändler ihre
Preise selbst bestimmten, wenn Lektoren Moderatoren wären und Literaturwissenschaftler
Feldforscher...
II. Was ist Netzliteratur?
1996 machten sich IBM und die Wochenzeitung DIE ZEIT auf herauszufinden,
was Internet-Literatur wirklich ist. Das taten sie, wie sie's kannten,
mittels eines Wettbewerbs. 1997 kam Wettbewerbsorganisator Michael Charlier
auf den Gedanken
nach dem Mehrwert der digitalen Literatur zu fragen. Wo ist der Unterschied
zur "Papierliteratur"?
An Analogien zur Schreibzeugverherrlichung früherer Autorengenerationen
war keinem gelegen. Man tappte fröhlich in Technikfallen, gestaltete
bunt und ließ die Leser durch die Texte zappen. Klickibunti. Klickeratur.
1998 wollte der Wettbewerb ein Kunstwettbewerb werden. "Literatur"
war zu wenig, "Gestaltung von Sprache" sollt es sein, "mit
den künstlerischen Mitteln des Internet".
Welche sind das?
Peter Weibel, Chef des Mitveranstalters ZKM in Karlsruhe denkt da an
Computer: "Der Autor wird zum Algorithmus", trug er bei der
Abschlusskundgebung vor. Die Zuhörer stellten sich wohl barocke Textmaschinen
vor - und tatsächlich wurde Florian Cramer, der solche
fürs Internet nachgebaut hatte, mit einem Sonderpreis bedacht.
Die Dokumenta
X hatte Maschienencodes und Transferprotokolle im Sinn: "Die
untergründige Kommunikationstechnik an die Oberfläche bringen!"
- und zwar in bewegten Bildern.
Die ars electronika 1999 war da
pragmatischer und prämierte ein Computerprogramm von Matt Black und
Willi Henshall, das es "Musikern erlaubt, weltweit und in Echtzeit,
verbunden mit Hilfe des Internets, miteinander zu musizieren".
Tech, Desk und Soz nennt der Konstanzer Literaturanthropologe Reinhold
Grether drei Kategorien der Netzkunst. Computerisierung, Visualisierung
und Kommunikation - oder Programmieren, Designen und Schreiben - denn
über die Schriftform als Basistechnologie der Kommunikation ist das
Internet bislang kaum hinaus.
Versteht das noch jemand? Es wird immer undurchsichtiger. Literaturwissenschaften
und Internet-Veranstaltungen wie die Softmoderne
(das "Festival der Netzliteratur") nehmen alle Formen digitaler
Literatur als Synonyme: Hyperfiction, Netzliteratur, Multimediales - alles
eins. Homepagebastler nennen sich selbst Programmierer und echte Programmierer,
wie die Bremer Informatik-Dozentin Doris Köhler, wenden sich der
Poesie der Programmiersprachen zu.
Aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Internet-Literaturwettbewerb
entstand das Bedürfnis nach Klärung. Teilnehmer und Neugierige
gründeten, angeführt vom Frankfurter Literaturwissenschaftler
Sven Stillich, die Mailingliste Netzliteratur. Die bekam den Namen weil
in der EDV nun eben alles irgendwie heißen muss. Ein spontaner Gedanke.
Seitdem soll es Netzliteratur geben.
Die Suche begann. Hermann Rotermund, Juror und Leiter von ARD online,
gab ein Fahndungsfoto:
"Er ist im Netz der Netze noch nicht aufgetaucht, der Online-'Ulysses'.
Das hypermediale Großwerk, das seinen staunenden Lesern, Betrachtern
und Hörern 24 Stunden Erlebniszeit anbietet und abzwingt.... Gesucht
wird ein originäres Kunstwerk, das Wellen schlägt wie seinerzeit
'Das Leiden des jungen Werthers', 'Madame Bovary' oder eben 'Ulysses',
wie 'The Circus', 'Der blaue Engel' oder 'Citizen Cane' oder - und jetzt
sind wir beim Radio - wie 'The War of the Worlds', 'Unter dem Milchwald'
oder 'Der gute Gott von Manhattan'."
Im gleichen Jahr, 1997, kam es in der Mailingliste Netzliteratur zur
sogenannten Definitionsdebatte.
Die meisten Teilnehmer fanden das unerträglich. Aber man hatte Erfolg.
"Netzliteratur lässt sich nur übers Netz definieren."
D.h. die Tatsache der Vernetzung (von Menschen, nicht von Maschinen) ist
ihr wesentlicher als die digitale Speicherung der Texte. Text, der nur
durch das Netz hat entstehen können, ist auch ausgedruckt Netzliteratur.
Text aus dem Elfenbeinturm ist auch webpubliziert Printliteratur.
III. Ein Ausflug
Wer liest, was über Netzliteratur geschrieben wird, sieht gleich,
dass die Berichterstatter sie gar nicht gefunden haben. Sie können
nichts finden, weil sie nach Buchähnlichem Ausschau halten. Da gibt
es dann nur die Hobbyseiten.
Netzliteratur versucht nicht, ein Erbe gegen den Tod zu setzen, sondern
intensiviert das Jetzt. Sie entsteht nicht in der Hirnschale, sondern
in der Begegnung. Der Züricher Literaturwissenschaftler Michael
Böhler vermutet in ihr daher die Rückkehr literarischer
Oralität. Hörspiel, Comic und Improvisationstheater sind ihr
näher als Romane.
Vielleicht hatte der Literaturwettbewerb Recht auf das Wörtchen
Literatur zu verzichten. Netzkunst statt Netzliteratur. Die Schlagworte
in Beispielen:
Vernetzung:
Die japanische Gruppe Sensorium schuf mit ihrem Werk "Night
and Day" eine besonders einleuchtende Demonstration der Möglichkeiten
einer netzbasierten Kunst. 24 Bilder rund um den Globus verteilter Web-Kameras
erscheinen auf einer Seite als Analoguhr angeordnet. Die einzelnen Bilder
sind so klein, dass nahezu nichts zu erkennen ist. Das Ganze aber zeigt
den Sonnenlauf - die Drehung des Planeten unter der Sonne. Die Kameras
stehen nämlich im Freien, die Bilder werden je nach Tageszeit heller
oder dunkler. "Night and Day" ist bei aller Schlichtheit so
schön, dass es sich, einen entsprechend flachen Monitor vorausgesetzt,
gut als ständigen Wandschmuck verwenden lässt.
Interaktivität:
"If you want me clean your screen, scroll up and down" schrieb
Olia Lialina per E-Mail an Netzkünstler und Internetforen und bot
dazu das Foto
einer Handfläche, die, so man der Anweisung folgt, also mit der
Maus auf und ab blättert, tatsächlich den Bildschirm von innen
zu wischen scheint. Das Werk entsteht erst, wenn der "Benutzer"
selbst aktiv wird. Allereinfachste Mittel, nix Jukebox-Interaktivität.
Der Leser als Co-Autor:
"Die Poesie soll von allen gemacht werden", fordert in gleichnamigem
Essay
der Hildesheimer Medienwissenschaftler Heiko Idensen. Seine "imaginäre
Bibliothek" (zusammen mit Matthias Krohn) zeigt, wie das aussehen
könnte. Ein Pool von Textfragmenten, beliebig erweiterbar und offen,
gibt Bühne und Stoff für ein Spiel mit den gängigen Bibliotheksmetaphern.
Untertitel: "Eine wahre Geschichte über die unterschiedlichen
Arten des Sammelns, Ordnens und Vernichtens von Schrifttum - von der Antike
bis in die Zukunft." Oder: "How
are you", fragt Olga Kisseleva mit Musikbegleitung in die Runde
und webt aus den Antworten einen faszinierenden Hypertext.
Das Medium als Gegenstand:
Kommunikation via Internet ist noch immer im Anfangsstadium. Man merkt
es den "Gesprächen" an. Permanent müssen technische
Standards ausgehandelt, Zeichensysteme vereinbart und Fehler ausgemerzt
werden. Die Berliner Designerin Claudia Klinger stellt mit ihrer kleinen
Arbeit "Re:[IMD-L]
rtf - Demokratie, Medien, Formate" kurzerhand ein Beispiel aus.
Es ist ein Textauszug einer bekannten deutschen Mailingliste, der das
Sicheinfressen des "Tech-Talks", des medienbedingten Nebendiskurses,
in Sprache und Botschaften aufzeigt.
Multimedialität:
Myst und Riven, zwei weltweit erfolgreiche
Computerspiele der Brüder Miller, haben auf den ersten Blick wenig
mit Literatur zu tun - obwohl hier durchaus mehr oder weniger heilige
Bücher im Zentrum der Handlung stehen. Sich selbst überlassen
durchwandert der Spieler animierte Bilderwelten mit dem Auftrag, die zugrunde
liegende Geschichte selbst herauszufinden. Dass sie existieren muss, wird
mit jedem Schritt klarer. Michael
Charlier schreibt: "Lesen - das heißt hier "aktives
Lesen", um nicht von "immersivem Lesen" zu sprechen. Wer
Myst oder Riven spielt, übernimmt, ob er will oder nicht, die Hauptrolle
in einem als Autographie vorzustellenden Bildungsroman."
IV. Dauer und Bewegung
Michael Charlier, der Initiator der Internet-Literaturwettbewerbe, pflegt
mittlerweile seine eigenen Webseiten und sucht die Auseinandersetzung
mit Programmierern, Künstlern und Autoren. Ex-Mitveranstalter DIE
ZEIT hingegen hat sich anders entschieden. Die Wettbewerbe sind bereits
Geschichte. Noch während des Pegasus'98 druckte sie einen Artikel
von Christian Benne[1], der
bald als Ausdruck des Unvermögens der "Printszene", der
Literatur eine Zukunft zu geben, berüchtigt wurde: "Literatur
im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn
womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen
wird." Warum? "Schwerer wiegen Bedenken gegen die mangelnde
Dauerhaftigkeit elektronischer Daten. Zwar ist Literatur als Sprachkunst
nicht unbedingt an Schrift gebunden. (...) Aber auch Schrift bleibt bloß
erhalten, wenn sie dem richtigen Medium anvertraut wird. Papier, nach
dem Pergament noch immer am beständigsten, scheidet als Datenträger
für Internet-Literatur aus. Denn zwischen Buchdeckeln bliebe nichts
übrig von den ganz neuartigen Erfahrungen im Netz, welche die Propheten
des neuen medialen Zeitalters verheißen haben."
Die in Granit gemeißelte Inschrift gegen die Massenauflage, Hammurapis
Stele gegen Gilgamesch-Kopien. Derweil rieseln den Bibliothekaren die
Werke des letzten Jahrhunderts durch die Finger.
Adressen
Eine gründliche Einführung in verschiedene Themenbereiche des
digitalen Publizierens gibt Dieter E. Zimmers Artikelserie "Die digitale
Bibliothek": http://www1.zeit.de/zeit/tag/digbib/inhalt.html
Zugänge zu allen Beiträgen der Internet-Literaturwettbewerbe
bietet die Homepage des Pegasus'98: http://www.pegasus98.de/indexp.htm
Wer neugierig selbst im Netz stöbern möchte, findet von allem
etwas im Internet-Literatur-Webring "bla": http://www.bla2.de/index.htm
Internationale Netzkunst und -Literaturprojekte listet die Textgalerie:
http://www.textgalerie.de/lks_int.htm
Creative Writing-Newsgrups in deutscher Sprache: de.etc.schreiben.lyrik
und de.etc.schreiben.prosa
[1] Benne, Christian:
Lesen, nicht klicken, DIE ZEIT 1998 Nr. 37