Diese beiden Aussagen liegen knapp 2 Jahre auseinander. Sie widersprechen
einander. Sie haben aber auch etwas gemeinsam: Netzliteratur und Hypertext
sind ihnen gleich. Das ist normal. Statt die allgemeine Begriffsverwirrung
zu bedauern oder gar anzugehen, produziert die Literaturwissenschaft Sekundärtexte
zur digitalen Literatur, für die Terminologie Nebensache ist. Die
digitale Literatur selbst erscheint der zeitgenössischen Philologie
als Marginalie - um nicht zu sagen als Quatsch. Da dürfen auch Analyse
und Kritik ein wenig Dada spielen. Warum wird zu diesem Gegenstand überhaupt
publiziert? Ist es das postmoderne Flair des Digitalen, der ohnehin herrschende
Publikationsdruck?Mir scheint ein anderer Grund ausschlaggebend: die Autoren
sind schuld. Zum einen suchen sie die Auseinandersetzung gerade mit den
Literaturwissenschaften, zum anderen täuschen sie über ihre
Absichten. Weder hat die heute häufigste Erscheinungsform der digitalen
Literatur, die via WWW publizierte multimediale "Literatur",
primär mit Literatur zu tun, noch ist sie einem vom Buch herkommenden
Verstehen zugänglich.Beides - und die tiefe Kluft zwischen beiden
- lässt sich am Wandel des Internet-Literaturwettbewerbs
[3]
zeigen, der seit 1996 von der Wochenzeitung DIE ZEIT, IBM und von wechselnden
Partnern jährlich ausgeschrieben wurde. Seine Laudatio zur Preisverleihung
1997 begann Juror Hermann Rotermund mit den mittlerweile recht populären
Sätzen:
"Er ist im Netz der Netze noch nicht aufgetaucht, der Online-"Ulysses".
Das hypermediale Großwerk, das seinen staunenden Lesern, Betrachtern
und Hörern 24 Stunden Erlebniszeit anbietet und abzwingt. Das alle
Alltagsgeschäfte und physischen Bedürfnisse ebenso vergessen
läßt wie das Tränen der Augen vor dem leise flimmernden
Bildschirm und das Ticken des Zählers bei der Telekom. Ein Werk,
von dessen Existenz vielleicht anfänglich nur eine Gemeinde von Spezialisten
weiß, das dann aber mit großem Getöse alle Feuilletons
loben, preisen, sezieren und bekämpfen. Gesucht wird ein originäres
Kunstwerk, das Wellen schlägt wie seinerzeit "Das Leiden des
jungen Werthers", "Madame Bovary" oder eben "Ulysses",
wie "The Circus", "Der blaue Engel" oder "Citizen
Cane" oder - und jetzt sind wir beim Radio - wie "The War of
the Worlds", "Unter dem Milchwald" oder "Der gute
Gott von Manhattan"."[4]
Was Rotermund hier wünscht, ist der interaktive Spielfilm - oder gleich
ein Computerspiel. Warum aber die Häufung belletristischer Vorbilder?
Rotermund, Literaturwissenschaftler und ein guter Kenner digitaler Literatur,
träumt von einer Fortsetzung der Buchwelt im Fernsehen. Damit steht
er nicht allein: Webfiction, wie ich das, was hier gemeint ist, nennen möchte,
hat mit Büchern gar nichts zu schaffen. Auch die Frage nach dem 'Ende
der Buchkultur, wie wir sie kennen'
[5]
hat hier ihren Ursprung. Die Gefahr solcher Missverständnisse war Rotermund,
anders als vielen, die diese Sätze zitieren, allerdings bewusst: In
einem Interview des Literaturcafés Stuttgart sagte er etwa zur gleichen
Zeit und in gleichem Zusammenhang:
"Ich hoffe, daß man einen anderen Begriff dafür findet,
als den der »Literatur«, daß also ein neuer Name dafür
entsteht, für den die traditionellen Kriterien auch nicht mehr passen
können, wenn es ernsthafte Anstrengungen gibt, sich von den multimedialen
Wirklichkeiten des Mediums beeindrucken zu lassen."[6]
Wenig mehr als ein halbes Jahr später schreibt der Herausgeber der
ZEIT, Roger de Weck, ein Geleitwort zur Ausschreibung 1998. Der Wettbewerb
heißt jetzt Pegasus'98.
"Schön, daß die ZEIT und ihre Partner den Internet-Wettbewerb
zum dritten Mal ausrichten. Zwei Jahre lang hieß er "Literaturwettbewerb",
doch dieser Begriff ist uns zu eng geworden."[7]
Was bei Wettbewerbsteilnehmern und Publikum zuerst mit Erstaunen aufgenommen
wurde (de Weck begründet etwas abstrus mit der Anpassung des Wettbewerbs
an das geänderte Layout der ZEIT) ist konsequent: Der Begriff Internet-Literatur
ist zu eng, zu wenig. In der Ausschreibung scheint das Wort Sprache schon
wie ein aufgesetzter Fremdkörper:
"Zur Teilnahme eingeladen sind alle, die Sprache mit den ästhetischen
und technischen Mitteln des Internet verknüpfen, um neue Ausdrucksformen
zu entwickeln."[8]
Die ZEIT/IBM-Wettbewerbe waren WWW-Wettbewerbe, nichts anderes als literarische
Homepage-Gestaltung war gefragt, Netscape-Literatur. So etwas gibt es, Literaturhomepages
('meine liebsten Gedichte') und kleine Kunstwerke, doch die wären am
liebsten ein multimediales Großkunstwerk. Die Jury entschied dann
in diesem Sinne. Das Web ist ein Textmedium. Es ermöglicht, den Text
zu formatieren, ihn mit Grafiken, Klängen und sogar Videos anzureichern,
aber all diese Zutaten sind für die heute üblichen Datentransferraten
eine Zumutung. Nur reiner Text ist schnell. Niemand will, dass das so bleibt.Digitale
Literatur wiederum ist von der jeweils verfügbaren Technik bestimmt.
Ein Datenfernübertragungssystem, das Text transportiert, fordert geradezu
zur Literatur auf. So schickten in den Siebziger Jahren Sekretärinnen
Kettengedichte per Telex
[9],
während in den Achtzigern ebenso Konventionelles in literarischen Fax-Clubs
ausgetauscht wurde. Als Christian Benne in der ZEIT gegen "Internet-Literatur"
argumentierte, sie müsse scheitern, da sie ja wäre wie 'Hörspiel
aus dem Handy'
[10], übersah
er, dass es auch dies längst gibt. Oder Bibelstunde per Telefon? Ihr
Kleinanzeigenmarkt gibt Auskunft. Ein künstlerischer Gestaltungswille,
der sich ein neues Medium - oder, wie im Falle des Internet, eine Handvoll
davon - erobert, hat anderes im Sinn, als tradierte Formen dort lediglich
zu transportieren. Ich möchte daher zwischen digitalisierter und digitaler
Literatur unterscheiden, wobei digitalisierte Literatur digital gespeicherte
Printtexte und digital erstellte Texte, "
[11]
lassen, umfasst, digitale Literatur hingegen sich in vier deutlich zu unterscheidende
Gruppen aufteilt:literarische Arbeiten, die besondere Möglichkeiten
der digitalen Produktion und/oder Präsentation nutzen, aber im wesentlichen
von literarischer Absicht geprägt bleiben, nämlich
- nicht-multimediale Hypertextliteratur
- computergenerierte nicht-multimediale Literatur
- kollaborative Schreib-/Leseprojekte
sowie Mischformen und
- multimediale Literatur,
die alles vorangegangene beinhaltet.
Parallel zum technischen Fortschritt lässt sie den Literaturbegriff
zunehmen fallen und bewegt sich in Richtung NetArt.[12]
Während kollaborative Projekte nur in Informationsnetzen
[13]
sinnvoll sind, sind Hypertext- und Hypermedia-Literatur teilweise unabhängig
von einer Netzanbindung. Nicht-multimediale Hypertextliteratur, die auf
Netznutzung, d.h. auf extratextuelle Verweise, verzichtet, bezieht ihren
Mehrwert gegenüber Printwerken aus der nichtlinearen Textorganisation
mittels Hyperlinks. Ihre ungeschriebenen Poetiken sind solche der Ablage-
und Zugriffsadministration. Multimediale Arbeiten (linear und nichtlinear)
stellen Kompositionsaufgaben jenseits der Erzählstruktur, die mit dem
Instrumentarium der Literaturwissenschaften nicht mehr zu fassen sind. Doch
bereits die Analyse reiner Hyperfictionwerke scheitert zumeist daran, dass
nicht einmal ein verlässlicher Begriffsapparat für die Beschreibung
von Hypertextstrukturen verfügbar ist. Sogar sehr ausführliche
informationswissenschaftliche Darstellungen, wie Rainer Kuhlens Monographie
"Hypertext"
[14],
geben mehr Anregung zu vertiefender Forschung denn echte Orientierungshilfe.
Erst Espen Aarseth
[15]
, dem Literatur ohnehin als Kombinationsspiel gilt, gelingt 1997 der Brückenschlag
von einer ernst zu nehmenden Hypertextwissenschaft zur Literaturtradition,
nämlich indem er an das Studium älterer ergodischer Texte (etwa
des chinesischen I-Ging) anknüpft. Gerade das Beispiel des I-Ging,
das Aarseth ausdrücklich aufführt, macht jedoch wenig Hoffnung:
hier blieb bis heute die Analyse des kombinatorischen Apparats okkultistischen
Kreisen vorbehalten. Mark Amerikas "Grammatron"
[16],
das sich müht, den Wunsch Rotermunds zu erfüllen, scheint mit
Verknüpfungsstrukturen zu arbeiten, die einem Tarot-Legesystem entstammen,
das Alister Crowley
[17]
gegen Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte. Eigene Versuche
[18]
ergaben, dass sich Hypertexte durchaus in der Sprache des Go-Spiels beschreiben
lassen.Multimediale Literatur drängt den Autor, soweit er sich als
Literaturschaffender versteht, in die Rolle des Drehbuchschreibers. So,
nach dem Wettbewerb 1997, der Juror Erhard Schütz:
"Es läuft auf Teamwork hinaus, wie bei Drehbüchern. Die
klassische Autorenschaft geht dabei verloren."[19]
Die Ratschläge, die Jacob Nielsen in seiner berühmten Alert Box
[20]
für das Webtexten gibt, lesen sich denn auch wie Syd Fields
[21]
Tipps für Drehbuchschreiber.Im WWW dominieren bereits heute die multimedialen,
nur noch ansatzweise literarischen Werke, reine Hypertextarbeiten werden
zudem mit extratextuellen Links 'aufgerüstet' - bis hin zu Arbeiten,
in denen es nur noch um diese geht.Für webpublizierte, für das
Web geschaffene und dort möglichst lebendige (z.B. wachsende) Werke
narrativen Charakters möchte ich den Begriff Webfiction vorschlagen,
zur Unterscheidung von nicht-multimedialer Hyperfiction ohne externe Verknüpfungen,
von kollaborativen Projekten konventioneller Schriftlichkeit und von MUDs.
Damit ist weder gesagt, dass Webfictions unbedingt multimediale Elemente
aufweisen müssen, noch dass sie einer nichtlinearen Organisation bedürfen.
Meist ist aber beides der Fall.Webfictions, soweit diese Vorbemerkung, können
nur bedingt und nur zum Teil Gegenstand der Literaturwissenschaften sein.
Sie stehen der Medienkunst näher als der Literatur.
"Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen,
eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde
noch nicht gekommen ist. Die Geschichte jeder Kunstform hat kritische
Zeiten, in denen diese Form auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos
erst bei einem veränderten technischen Standard, d.h. in einer neuen
Kunstform, ergeben können. Die derart, zumal in den sogenannten Verfallszeiten,
sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst gehen in Wirklichkeit
aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor."[22]
Webfiction
"Multimedia ist Medienmix plus Interaktion"[23]
Ulrich Riehm, Bernd Wingert
Dieser Satz Riehms und Wingerts, von 1995, könnte als Scherz gemeint
sein, besteht er doch zur Gänze aus mittlerweile vollständig
entleerten Begriffen. Er sagt aber - bei aller Neugier, wie denn Medienmix
ohne Interaktivität zu nennen wäre - worauf es ankommt: die
Komposition des Medienmixes und die der Interaktivität. In beiden
werden die Unterschiede zum Film (nicht zur Literatur) deutlich. Zum
einen entstehen Bild und Text nicht wie beim Film in direktem Zusammenhang
(z.B.: ein Schauspieler spricht, bzw. gesondert aufgenommener Text wird
synchronisiert, d.h. den Lippenbewegungen des Schauspielers angepasst),
sondern sie werden unabhängig erstellt und später montiert.
Der Autor eines Webfiction-'Drehbuches' hat die gestalterisch-technische,
nicht die filmische Realisierbarkeit im Auge, seine Fiktion muss nicht
an existierende Personen oder Orte angepasst werden, sondern an die
verwendete Software. In diesem Punkt kommen sich Film und Webfiction
allerdings näher; zunehmend werden Spielfilme mit Hilfe computererzeugter
Stimulationen produziert und der Ausbau des Internet lässt den
alltäglichen Videogebrauch im Web für die nahe Zukunft wahrscheinlich
werden. Zum anderen hat Interaktion im Film bislang keinen Platz.Wichtig
ist, dass die Seitengestaltung, die Auswahl und Platzierung der Grafiken,
die Ausgabe von Musik, Geräusch und Sprache, das Einbinden von
Videos und Animationen (bis hin zur Textanimation) keine Zugaben zum
Text sind, sondern gleichberechtigte Komponenten. Während sich
die Kunstwissenschaften noch schwer tun, den Kompositionsprozess des
Zusammenfügens zu behandeln, gibt es hierzu von Seiten des Kommunikationsdesigns
bereits eine Fülle von Untersuchungen[24]
und Publikationen - oft in der Form einer Anleitung oder eines Lehrbuches[25]
- sowie weitere aus der Human Computer Interaction-Forschung (HCI)[26].Auch
das 'Webben', das Vernetzen der einzelnen Bildschirmseiten zu Hypermedia-Umgebungen,
wird vor allem außerhalb der Kunstwissenschaften untersucht: in
medienpädagogischem Kontext und in der Spiele-Programmierung. Beide
berücksichtigen aber die besonderen Erfordernisse der Webpublikation
(d.i. an erster Stelle die Zugriffs-, bzw. Übertragungsgeschwindigkeit,
sowie Inkompatibilitäten der Wiedergabesoftware) nicht.Während
jedoch Multimediakomposition und -design durchaus noch nach einem konventionellen
'Dreh'buch erfolgen könnten, droht die Interaktivität, die
zumeist als Mitwirkung des Benutzers in Form eigenständiger Navigation
umgesetzt wird, dem Autor das Steuer aus der Hand zu nehmen. Der Verdacht
drängt sich auf, dass hier die Wahl zwischen Skylla und Charybdis,
zwischen wahlfreiem Zugriff des Benutzers auf alle Dokumente und einer
linearen Guided Tour bleibt, also dem Verzicht auf das Hypermediaformat.Webfiction
hat wenig Zeit. Hochgradig abhängig von der verfügbaren Technologie,
muss sie mit dem technischen Wandel mithalten - oder sie wird verloren
gehen. Man könnte sie daher als zu flüchtig, als Spielerei
einiger Künstler ignorieren. Ohnehin ist ihr Publikum wenig zahlreich,
wer nichts damit anfangen kann, tut sie als "Klickibunti"[27]
ab, ein Wort, dass Riehms und Wingerts Formel noch einmal verkürzt.
Auf der Suche nach Aufmerksamkeit (dem ersten Ziel der Webfiction) erscheint
das Bunti als gewinnendes Plus, das Klicki als Publikumsschreck, nichts
schlimmer als Klicki pur: Klickeratur.
Klickeratur
"Eventuell bildet eine derartige Struktur kontextueller Desorientierung
und informeller Konfusion im Sinne der Postmoderne adäquat den
Geisteszustand der Spezies Mensch am Ende des Jahrtausends ab. Netzliteraten
wie etwa der E-Literat Lance Olsen argumentieren in diesem Sinne.
Nach Meinung des Autors verschanzt hier eine vorgeblich avantgardistische
Literatur ihren fehlenden Willen zur Form hinter einer radikalen Theorie."
Jürgen Daiber[28]
Der Leser digitaler Literatur blättert keine Buchseiten um.
Er klickt. Dann geht es weiter. Aber wohin? Folgt eine Illustration?
Darf man dem Autor eine Nachricht zukommen lassen? Wird etwas erklärt?
Ist der Text gar schon zu Ende? Wie die Detailansicht einer fraktalen
Grafik findet sich die vielbeschworene Orientierungslosigkeit des
Internet ('Lost in cyberspace') auch in so manchem Werk digitaler
Literatur wieder. Der verlorene Leser ist wirklich verloren, er gibt
auf. Klick und weg. Gegen die Langeweile der "Klickeratur"
steht die Hypertextkomposition: die Strukturierung der Texteinheiten
zu einem Mehrwert des Nichtlinearen. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Tatsächlich scheuen sich viele Autoren, hier ernst zu machen:
wer den Leser an die Hand nimmt, statt ihm den freien Gebrauch des
'Materials' zu ermöglichen, gilt als rückständig. Als
Autor eben. Was denn nun?Die TV-Soap etwa, daraufhin optimiert, regelmäßige
Werbeunterbrechungen gegen das Weiterzappen des Publikums zu immunisieren,
zeigt, wie weit das Arsenal aufmerksamkeitsbewahrender Kunstgriffe
linearen Erzählens bereits entwickelt ist - so weit nämlich,
dass der abgeschlossene Stoff einer ebenso geschlossenen Form nicht
mehr bedarf. Nichtlineares Erzählen hingegen ist vielleicht gar
nicht möglich. Konsequent durchdacht, ist der nichtlineare Text
nicht einer, sondern so viele der Leser will. Es wird nicht
erzählt - man darf sich etwas zusammensuchen. Was bedeutet unter
diesen Bedingungen Komposition? Und was soll sie leisten? Vor diesen
Aufgaben steht der Praktiker. Ein erfolgreicher Spieleprogrammierer
formulierte es so:
"Ich kann ihn [den Konsumenten (D.S.)] nicht wie ein Kind an die
Hand nehmen und durch die Geschichte schleifen. Ich muss ihn schon beim
Schreiben ständig mitdenken, wie würde er sich verhalten, wie
empfinden. Vielleicht klickt er etwas ganz anderes an, als ich gedacht
habe..."[29]
Die Werkanalyse hat sich dieser Problematik ebenso zu stellen. Daibers Aufsatz
tritt daher als Forderung auf:
"Als formales Analysekriterium sollte zum klassischen Instrumentarium
der Literaturwissenschaft eine Beurteilung der Link-Semantik des jeweiligen
Hyperfiction-Textes treten."[30]
Diese Beurteilung kann derzeit nicht vorgenommen werden, da zuerst brauchbare
Kriterien entwickelt werden müssten und die Literaturwissenschaften,
wenn sie sich denn für zuständig erachten möchten, die in
den Informationswissenschaften bereits entwickelte Terminologie soweit sich
aneignen müssten, dass sie darauf eine eigene, dem Gegenstand adäquate,
aufbauen können. Zur Hypertextstrukturierung liegen bisher fast ausschließlich
Untersuchungen von Hyperfiction vor, die überwiegend mit der Autorensoftware
Storyspace
[31] erstellt
wurde. Einen kurzen Überblick hierzu gibt Sabrina Ortmann in ihrer
Seminararbeit "Elektronische Literatur - Kreativität oder Chaos"
[32]
mit gutem Quellenverzeichnis. Die besten Hinweise aber finden sich in der
Bedienungsanleitung des Programms.Was Webben, das Verknüpfen von einzelnen
Bildschirmseiten (oft 'Knoten' genannt
[33]),
wirklich bedeutet, möchte ich am Beispiel eines Projektvorhabens skizzieren,
das bislang nicht realisiert werden konnte. Das "Webgespräch"
[34].
Die Verknüpfungen sollen hier nicht planvoll erstellt werden, sondern
eher zufällig entstehen. Geplant ist, den E-Mail-Verkehr zwischen drei
oder vier Partnern, die sich häufiger schreiben, durch Webseiten zu
ersetzen. E-Mails werden nur noch verschickt, um die Adresse einer neuen
Seite mitzuteilen. Gesprächsfäden werden verlinkt, d.h., wer antwortet,
verweist auf die Seite, die er beantwortet. Jeder Beteiligte kann weitere
Verweise nach Belieben hinzufügen. Zusätzlich werden die Zugriffe
aller Beteiligten auf die einzelnen Seiten erfasst und es wird versucht,
häufige Bewegungen ebenfalls durch Verknüpfungen nachzubilden.
Nach ein oder zwei Jahren wird das Webgespräch eingefroren und der
- in diesem Zusammenhang irrelevanten - Inhalte entkleidet. Zurück
bleibt ein Skelett aus Verknüpfungen, eine Gesprächsskulptur,
die den gesamten zeitlichen Ablauf im Raum darstellt- was aus Gründen
der Übersichtlichkeit wohl dreidimensional erfolgen muss. Versuche,
dieses Skelett vorab zu simulieren, also am Reißbrett zu erstellen,
scheiterten allesamt kläglich.Häufig wird beim Entwurf des Linkgerüsts
auf bekannte Strukturierungsmuster zurückgegriffen, hierzu Heiko Idensen:
"Als strukturelle Modelle - interfaces - für solche Konstellationen
funktionieren bevorzugt räumliche Formationen, die asynchrone Vernetzungen
verschiedener Materialien, Medien und Handlungsprozesse zulassen: Landkarten,
wie etwa der (imaginierte) Plan einer Stadt oder eines Hauses in der klassischen
Gedächtniskunst (als kulturelle Speicherplätze), die sich in
vielfältiger Weise auch in der Literatur wiederfinden: etwa bei James
Joyce, der den ganz normalen Tag des 16. Juni 1904 auf den Stadtplan von
Dublin projiziert, oder der Querschnitt durch ein Pariser Wohnhaus, das
als Home-Page für einen Roman dient, in dem die Technik des mise
en abyme - verbunden mit vielfältigen Katalogisierungen und Indexlisten
- topographisches Lesen ermöglichen."[35]
Als wenig brauchbar erwies sich hingegen die Idee, Hypermedien nach dem
Vorbild der Verweissysteme von Wörterbüchern und Lexika zu strukturieren.
Einen nicht ganz ernstgemeinter Versuch damit ist
die
kleine Tour durch Otto Bests 'Handbuch literarischer Fachbegriffe'.Die
Hypermediakritik setzt zur Strukturbeschreibung in der Regel auf zwei Hauptbegriffe:
den Baum und das Rhizom. Der Baum steht hier für eine hierarchische
Ordnung der Dokumentteile in Klassen - wobei der Baum, im Bild, auf dem
Kopf steht. Diese Anordnung entspricht in etwa den gängigen Dateiablagestrukturen
der EDV. Als besonders geeignetes Modell gilt das von Barbara Minto 1991
für die Argument-Präsentation entwickelte "Pyramiden-Prinzip"
[36].
Rhizome, unter der Erde, verzichten hingegen auf eine beschreibbare Ordnung
und ermöglichen letztlich die Verbindung aller beteiligten Elemente.
"Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom nicht Gegenstand der Reproduktion:
weder einer äußeren Reproduktion als Bildbaum, noch einer inneren
Reproduktion als Baumstruktur. Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Das
Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor."[37]
Obwohl anscheinend ein nicht-deskriptiver Begriff, begegnet man ihm auf
Schritt und Tritt: 'das Web ist ein Rhizom' - die Struktur des assoziativen
Wildwuchses, die schon Vannevar Bush
[38]
zur alternativen bibliothekarischen Systematisierung empfahl.Außer
der Verknüpfungsstruktur selbst spielen für die 'komponierte Interaktivität'
zwei weitere Fragen eine herausragende Rolle:
- Ist es dem Benutzer (Leser, Konsument) möglich, die Dokumente
zu verändern, eigene Verknüpfungspfade anzulegen oder Notizen
anzufügen?
- Kann der Benutzer überhaupt erkennen, wohin ihn ein Link führt
- z.B.: geht es weiter oder folgt eine Fußnote?
Die Transparenz von Linkangeboten spielt natürlich in narrativ angelegter
Webfiction eine andere Rolle als in ergodischer, dort wären benutzerseitig
erstellbare Verknüpfungen auch zu unterbinden - wenn sie möglich
wären. Tatsächlich erlaubt das Web nahezu keine Benutzereingriffe
in bestehende Strukturen, es sei denn, der jeweilige Server wäre für
Schreibzugriffe freigegeben. Aus Sicherheitsbedenken heraus unterbleibt
dies zumeist. Ausnahmen bieten CGI-Schnittstellen, die durch vordefinierte
Skripte das Einfügen von Text und Grafiken an eindeutig bestimmten
Stellen ermöglichen, wie etwa in Gästebüchern oder Webforen
(WWW-Boards). Eine weitere, und bedeutsame, Ausnahme: Third Voice
[39],
eine Software samt Online-Datenbank für das Anlegen von Notizen und
Kommentaren zu beliebigen Websites. Dazu reicht es, irgendeine Textstelle
zu markieren und einen Kommentar hinzuzufügen. Dieser wird in der Datenbank
von Third Voice gespeichert und ist für alle Besucher des bezogenen
Site, die die Third Voice-Software benutzen, abrufbar. Im markierten Text
selbst wird eine kleine Hinweisgrafik eingeblendet. Dabei wird die Originalseite
natürlich nicht verändert. So ließe sich beispielsweise
an die Präsentation eines neuen Automobils ein persönlicher Fahrbericht
anfügen. Die Third Voice Inc. verspricht, keinerlei Zensur auszuüben.Die
Transparenz von Links wiederum ließe sich durch eine entsprechende
Kennzeichnung erreichen. Dies setzt allerdings ein Klassifizierung der verschiedenen
Linktypen voraus. Hierzu bestehen derzeit drei verschiedene Ansätze:
Auf welchen Ort wird verwiesen?
z.B. intern/extern Auf welchen Medien-/Aktionstyp wird verwiesen?
z.B. auf eine Illustration oder eine E-Mail-Adresse Auf welchen Inhalt
wird verwiesen - und warum?
z.B. auf ein Argument oder ein Beispiel
Die Firma Matterform bietet mit den Q-Bullets
[40]
ein Kennzeichnungssystem aus kleinen Symbolen, die zumindest Aufschluss
über den hinter dem Verweis zu erwartenden Mediatyp geben und es erlauben,
intratextuelle, intertextuelle und extratextuelle Links zu unterscheiden.
Insgesamt gibt es folgende Kategorien:
1. |
Navigationshinweise
|
|
|
- OutLink |
Link zu einer anderen Web Site |
|
- Scroll Up /Down |
Link zu einer anderen Stelle auf derselben Seite |
2. |
Multimediahinweise |
|
|
- Picture Link |
zu einer eigenständigen Abbildung |
|
- Movie Download |
lädt eine Filmdatei und spielt sie |
3. |
Seitentypenhinweise |
|
|
- Fill-Out Form |
Link zu einer Seite mit interaktivem Formular |
|
- E-Mail Link |
ruft das Emailprogramm auf |
|
- Search Links |
zu einer Suchseite |
|
- Note |
Link zu einer erläuternden Seite, ohne weitere Links |
|
- Help Links |
zu hilfreichen Verweisen oder Informationen |
4. |
Netzdiensthinweise |
|
|
- Downloadable File |
verweist auf ein Ftp-Archiv |
|
- Telnet |
Link zu einem Telnet-Server |
Die Grafiken und eine durchdachte Anleitung stehen auf dem Website von Matterform
zur kostenlosen Benutzung zur Verfügung.
[41]Bereits
1983 versuchte Randell Trigg
[42]
eine Klassifizierung von Links nach Inhalten und Verwendungszwecken. Er
unterscheidet mehr als 80 Linkklassen für den akademischen Gebrauch
nach vorwiegend rhetorischen Kriterien. Hier eine kleine Auswahl:
|
Normal Links
|
Commentary Links
|
|
Citation |
|
|
|
eponym |
|
|
deduction |
|
|
induction |
|
|
solution |
|
Continuation |
|
|
|
critical |
|
|
supportive |
...Triggs Linkklassen und ihre Weiterentwicklungen können
allerdings nur zur Beschreibung eines Hypermediasystems angewandt werden.
Eine Link-Kennzeichnung zur Orientierung der Benutzer ist bei dieser Fülle
nicht mehr sinnvoll.Neben bzw. anstelle der Linkauszeichnung werden -
vor allem beim Entwurf informationsreicher Websites - häufig auch
Metainformationen eingesetzt: Verzeichnisse, Indizes, Sitemaps. Dies würde
für Webfictions jedoch kaum mehr als eine Relinearisierung bringen.
Easy writing
Hypertextähnliche Methoden zur Vereinfachung der ersten Niederschrift
noch ungeordneter Gedanken, wie etwa Gabriele Ricos Creative Writing-Verfahren
(Clustering)
[43] oder
Tony Buzans Mind-Mapping
[44]
, lassen sich leicht mit einem HTML-Editor umsetzen. Zu den ohnehin gängigen
computerbestimmten Arbeitsweisen vieler Autoren (Textbausteinverwaltung,
Copy&Paste, Filialdokumente) kommt nun die Chance, auf eine logische
Strukturierung der Notizen vorerst zu verzichten. Das Ergebnis sind mehr
oder weniger willkürlich verknüpfte Zettelsammlungen, Materialanhäufungen
ohne Ausformung zu einem Textganzen. Die bereits implementierten Verweise
dienen einzig dem Autor zum Wiederauffinden bestimmter Notizen. An diesem
Punkt zeigt sich, dass die bisher eingesparte Mühe nun nachgeholt
werden muss. Nicht wenige Autoren gehen daher umgekehrt vor, erstellen
zuerst einen geradezu printtauglichen Text und bereiten ihn dann für
die Hypertextfassung auf (Chunking). Ein gutes Beispiel für die Ergebnisse
dieser Arbeitsweise gibt die gelungene HTML-Version von Günter Hacks
Roman "Ich bin der Untergang der Bundesrepublik Deutschland"
[45].
Webfiction entsteht auf diese Weise jedoch nicht. Ihr ist die Einbeziehung
des Benutzers vordringlich. Dabei ist es entweder möglich, dem Benutzer
Pfade vorzuschlagen, ihm die Auswahl unter mehreren Versionen zu lassen
oder neben einem oder mehreren Hauptpfaden tatsächlich ungeordnetes
Material anzubieten, das nach Spuren oder Indizien durchsucht werden muss.
Zudem können extratextuelle Links endgültige oder vorübergehende
Ausflüge in das WWW anbieten. Jürgen Daibers Vorwurf der mangelnden
Formgebung ist gewiss teilweise berechtigt, im Ansatz aber falsch. Es
kann nicht Sinn des Hypermediaeinsatzes sein, quasilineare Strukturen
vorzugeben. Eine noch so gelungene Verknüpfungsstruktur allein reicht
nicht aus, den Benutzer zu fesseln. Auch ein Buch wird nicht zu Ende gelesen,
weil es leicht fällt, die Seiten umzublättern. Jeder Knoten
muss aufs Neue die Lust am Erforschen des Ganzen wecken, jeder Link muss
zum Anklicken verführen. Der Benutzer muss die "Geschichte"
zu seiner eigenen machen und sie sich selbst erzählen. Leider kennt
der Autor ihn gar nicht.Das verbreitete Computerspiel Riven
[46]
zeigt, worauf das hinausläuft: Eine Geschichte ist dort vorhanden,
aber sie wird nicht erzählt. Statt dessen findet der Spieler eine
plastisch ausgestaltete Insel vor, auf der er sich frei bewegen kann.
Je länger er das tut, desto besser lernt er nicht nur die Insel kennen,
desto näher kommt er auch der Geschichte - bis sie, die längst
dagewesene, in ihm neu entsteht.Den Leser als Detektiv wünscht sich
essayistisch Uwe Wirth
[47],
der zugleich darauf hinweist, wie sehr der Schaffensprozess der "Internetliteratur"
auf den Leser ausgerichtet ist, den Detektiv, dem nichts erzählt
wird, der Spuren sucht. Spuren sind keine bloßen Indizien, sie müssen
gelegt werden. Der Autor - aktueller: das Produktionsteam - gestaltet
Erlebnis-, Erfahrungs-, Besinnungsräume, die dem Besucher zurückgeben,
was das Netz ihm weggaukelt: einen Ort
[48].
Damit es sein Ort wird, muss er ihn in Begegnung mit anderen mitgestalten
dürfen - und sei es, für 1999, mit Third Voice-Graffiti.