Nina Hautzingers "Vom Buch zum Internet?
Eine Analyse der Auswirkungen hypertextueller Strukturen auf Text und Literatur"


von Anja Rau


Nina Hautzinger hat sich für ihre Magisterarbeit, die 1999 unter dem Titel "Vom Buch zum Internet? Eine Analyse der Auswirkungen hypertextueller Strukturen auf Text und Literatur" erschien (Auszüge online in Berliner Zimmer), eine schwierige Aufgabe gestellt: "In dieser Arbeit sollen die Merkmale und Besonderheiten von Netzliteratur analysiert und ihre Konsequenzen für den Literaturbetrieb diskutiert werden." (9) Über dieses Thema haben schon seit den 60er Jahren, seit Ted Nelsons "Erfindung" des Hypertext-Konzepts, Informations- wie Literaturwissenschaftler ihre Tastaturen heiß geschrieben. Die Standardtexte zumindest der 90er Jahre (von Aarseth, Bolter, Joyce, Landow, Moulthrop) dürften den Lesern bekannt sein, die nicht ganz zufällig in DICHTUNG DIGITAL hineingeklickt haben.

Leider ignoriert Hautzinger die bestehende Forschung weitgehend und behauptet, es hätten sich noch "keine zwingenden Standardwerke herausgebildet" und man müsse "auf aktuelle Zeitschriftenartikel oder […] Texte aus dem Internet selbst zurückgreifen" (12/13). So stützt sie sich auf eine kleine, wenn auch eklektische Auswahl an Theorien und das ist auch der Grund, warum es ihr nicht gelingt, die von ihr rezipierten Texte oder ihren eigenen Ansatz zu kontextualisieren.

Hautzinger schreibt die Debatte um die Verdrängung des Buches durch den digitalen Text fort (mit all seinen Auswüchsen wie der Postman'schen Frage, ob der Bildtext den Leser verdumme) - und diese Debatte kann literaturwissenschaftlich nur auf dem Umweg über Kriterienkataloge zur Bestimmung hochwertiger Literatur geführt werden. Nicht umsonst bewegt sich Hautzinger im Dunstfeld der ZEIT/IBM-Internet-Literatur-Preise, deren Jury immer versucht und gefragt war, einen quantifizierbaren Kriterienkatalog aufzustellen, der nicht nur zur Bewertung der eingesandten Literatur, sondern auch zur Rechtfertigung ihrer Entscheidungen dienen konnte. Eine Pritchard-Skala für digitale Literatur …

Hautzingers eigene Hinweise an Autoren digitaler Texte, wie diese ihre Literatur ansprechender und hochwertiger gestalten könnten (z.B.: "Netzliteraten sollten […] visuelle Elemente in ihre Texte integrieren." [53]), erscheinen ungebeten und überheblich - gerade aus der Tastatur einer Kritikerin, der Online- und Offline-Literatur zu unterscheiden nicht in den Sinn kommt, die weder ASCII-Art (anläßlich ihrer Analyse von Martina Kieningers Der Schrank. Die Schranke.) noch einen Textgenerator (in Peter Berlichs CORE) erkennt und auch mit Frames wenig anfangen kann. Dennoch muß dieser Arbeit zugute gehalten werden, daß es dem Analysekapitel durchaus gelingt, ein Vokabular und eine Strategie zur Beschreibung eines noch nicht etablierten, sich rapide weiterentwickelnden literarischen Genres zu finden.

An dieser Stelle sollte man aber auch das Genre "Magisterarbeit" mit seinen Sachzwängen und Restriktionen mitdenken. Hautzinger muß zu viel Seiten-Zeit darauf verwenden, ihr Thema einem vermutlicherweise relativ unbeleckten Publikum nahezubringen und die inzwischen fast unüberschaubare Menge an sogenannter 'Sekundärliteratur' (On- und Off-line) in einen konzisen Forschungsüberblick zu pressen. Diese Aufgabe wird dadurch nicht leichter, daß schon die inzwischen etablierten Standardwerke dazu neigen, das Feld digitale Literatur unter jedem denkbaren Gesichtspunkt, nicht nur im Rahmen der Fachgebiete ihrer Autoren, abzudecken. Diese Unsitte übernimmt Hautzinger und wird gleichzeitig von den zeitlichen Vorgaben einer Magisterarbeit (ca. 6 Monate Bearbeitungszeit!) zu argen Verknappungen und Pauschalisierungen gezwungen, so daß ihre Arbeit unterkomplex erscheint.

Zu bedenken ist ebenso, daß in einer Magisterarbeit im Fachbereich Germanistik die Aufarbeitung amerikanischer Theorien nicht gefordert ist und vielleicht auch nicht goutiert wird. Die amerikanische Hypertextdebatte sowie generell amerikanistische Ansätze der Cultural Studies erscheinen mir jedoch zur Kontextualisierung der Hypertextszene unerläßlich. Nicht zuletzt hätten die Vorgaben ihrer Examensarbeit Hautzinger nicht davon abhalten müssen, den Text für die Veröffentlichung zu überarbeiten. Und auch ihre obsoleten Text- und Autorenbegriffe ("Text [...] konstituiert sich als schriftliche Form des Ausdrucks mit Hilfe von Buchstaben und Worten. Diese [...] Aussage besitzt einen vom Schreiber intendierten Sinn.") lassen sich nicht mit Genrezwängen begründen.

Ungeachtet dieser Mängel gelingt es Hautzinger, einige der aktuell wichtigsten Fragen zum Thema digitale Literatur zu stellen und dabei auch über den von ihr anfänglich gesteckten Rahmen der Ablösungs-Debatte hinauszugehen: sie fragt nach den konkreten Unterschieden zwischen Netzwerk- und Papier-Literatur, nach der Auswirkung von Netzliteratur auf den Literaturbetrieb, nach (Nicht-)Linearität und Geschlossenheit, nach der Rolle des Lesers digitaler Literatur und nach der Rolle des Autors, um nur einige der in dieser Arbeit angerissenen Themenstellungen zu nennen.

Es ist schade, daß Nina Hautzinger dem (laut Klappentext und eigener Aussage) wichtigsten Teil ihrer Arbeit, der Textanalyse, nur etwa ein Fünftel des Gesamttextes widmet und sich darüber hinaus weitgehend auf aus der Forschung zusammengetragene (aber inzwischen an anderer Stelle durchaus in Frage gestellte) Gemeinplätze über digitale Literatur beschränkt. Im Rahmen einer germanistischen Magisterarbeit ist es dennoch zu loben, daß die Autorin sich überhaupt dieser jungen Literaturform angenommen hat. - Und es ist zu hoffen, daß sich Hautzingers Erkenntnis, daß in der existierenden Theorie "[d]er konkrete Bezug zur Literatur und vor allem die Analyse und Interpretation von Netzliteratur […] fast immer [fehlt …]" (17), als Arbeitsansatz auch kommender Auseinandersetzungen mit digitaler Literatur durchsetzt.

Nina Hautzinger: Vom Buch zum Internet? Eine Analyse der Auswirkungen hypertextueller Strukturen auf Text und Literatur. Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 18. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 1999.131 S., DM. 32,-