Vom Schreiben auf glatten Oberflächen
zur Geschichte des MehrautorenProjekts Tango und yber Schwierigkeiten
bei der Realisation eines mehrsprachigen Projekts.
von
Martina Kieninger
Dieser Vortrag dient nicht der Aufstellung eines Kriterienkatalogs zur Bildschirmtauglichkeit von Videotextclips wie der obige Titel vielleicht nahelegt, sondern soll nur yber einige Aspekte eines deutsch-uruguayischen Mehrautorenprojekts berichten, ein Experiment, das in Partnerschaft von Goetheinstitut Montevideo und Stadtbycherei Stuttgart durchgefyhrt wird. Zunaechst einige Worte zur Vorgeschichte des Projekts. Die Geburt des Tango-Projektes liegt genaugenommen schon einige Jahre zuryck, die Idee wurde an einem Sommerabend im Jahr 1993 von meiner russischen Freundin, Larissa und mir gemeinsam entwickelt, nachdem wir in einer Heidelberger Galerie einen Charms-Abend hinter uns hatten. Charms-Abend darf man so verstehen, dass wir einige Gedichte und Kurzgeschichten von Daniil Charms, einem russischen Autor mit Lebenszeit von 1905-1940 vortrugen, meine Freundin auf russisch, ich las dann die Ybersetzungen ins Deutsche. Das heisst, von Texten, fyr die uns gute Ybersetzungen vorlagen. Da das nicht immer der Fall war, ersetzten wir fehlende deutsche Texte durch raps, die ich noch aus meiner Stuttgarter Zeit in der Schublade hatte. Diese Daniil-Charms-Gedaechtnis-Auffyhrung wurde von uns nach Beschreibungen von Vortragsabenden des Oberiu szenisch gestaltet, soweit das uns, naemlich Larissa und mir, als Nichtschauspielern moeglich war. (Anmerkung: Oberiu ist ein Acronym fyr den Verein der realen Kunst, eine Kynstlergruppe im Sankt Petersburg der Zwanziger Jahre.) Jedenfalls sassen und standen und hypften und lasen und schwitzten Larissa und ich an einem Heidelberger Juliabend unter den Kaffeewaermern, die wir fyr diese Gelegenheit koiflich erworben. Alles zu Ehren des Autors, denn der Meister des Absurden las seine Texte nie oben ohne, wie wir aus der Literatur zu Charms erfahren hatten. Die Texte, die wir vortrugen, waren als Fotokopien in Zeitungblatter geklebt, die wir unmittelbar nach erfolgter Ablesung zusammenknyllten und mit der einem Nichtschauspieler bestmoeglich grosspurigen Miene hinter uns warfen. Ich erwaehne das, weil es nach dem Vortrag zwischen Larissa, mir, der zufaellig anwesenden Kulturamtsleiterin der Stadt und der Galeristin zu folgender aufschlussreicher Unterhaltung kam: Die Dame von der Kultur zeigte sich sehr angetan von dem Abend, endlich mal Avantgarde in Heidelberg, sagte sie, und das war nicht unlustig und Larissa ihrerseits dann doch herzlos genug, darauf hinzuweisen, dass Herr Charms seit den Vierziger Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt. Soviel zum Thema Avantgarde. Aber man kann ja nicht alles wissen. Danach bog die peinlich beryhrte Galeristin rasch auf das Thema russischerrrrr Seeele ein. Es haette etwas Grossartiges gehabt, bemerkte sie und meinte das Zusammenknyllen der Zeitungsblaetter, das sei echt russisch, dieses Verschwenderische, das sich in dem achtlosen Rumschmeissen von Papier sich ausdrycke. Der Russe denke nun einmal gross und verschwenderisch und in Bausch und zerknyllten Papierbogen, kymmere sich, kurzgesagt, nicht ums irdische, sobald sich seine Seele einmal aufgeschwungen habe undsoweiter. Dann schwirrte das engyltig in esoterischen Kitsch ab. Nun war es so, dass die Idee mit den Zeitungen nicht etwa von Larissa stammte, sondern von mir, einer echten Schwaebin, und die ganze Aktion mit dem Papierrumschmeissen bloss dazu diente, die Texte, die wir nicht ganz auswendig konnten, in den Zeitungen vor den Zusachauern zu verstecken - sieht ja sonst bloed aus, wenn da in voller Maskerade und mit Kaffeewaermern auffem Kopf aus Fotokopien vorgelesen wird. Warum ich das erzaehle? Weil. Nach diesem Abend mit seinen lustigen Missverstaendnissen zum Thema Russland, Avantgarde, russischerrr Seeele deitscherrr Gemiiitlichkejt etcetera beschlossen wir, das sind meine Freundin und ich, einen Abend zum Thema Kitsch und Klischee zu veranstalten. So weit ist es leider nie gekommen, die Galeristin lehnte entsetzt ab, als sie unseren Entwurf zu einem entsprechenden Abend zu Gesicht bekam. Da warn wir traurig. Kitsch und Klischee haetten wir soooo gerne am Thema volksgesaenge vorgeturnt, ybrigens haette das Projekt auch damals schon den Tango, naemlich den russischen eingeschlossen & yberhaupt umfasst. Damals wusste ich noch nicht, dass ich mal in der Hauptstadt des Tango, das heisst in Montevideo leben wyrde. Es passierte aber. In der Zwischenzeit entwickelte sich das internet so weit, dass es mich in die Finger juckte, meine "Kitsch und Klischee" Idee aus dem Jahr 93 virtuell umzusetzen, zwar nicht im Originalzusammenhang und in Bezug auf Russland, dafyr aber unabhaengig von irgendeiner Galerie, unabhaengig von realexistierenden Roimen, Personen, Zeit, es sollte eine wahre Kitsch und Klischee Orgie werden. Wie Johannes Auer in seinem Vortrag bereits ausgefyhrt hat, koennen sich unter abstrakten Titeln wie "Kitsch & Klischee" internet-Mehrautoren-Projekte nicht entwickeln, bleibt das Ganze im Nirgendwo und erstickt wegen Sauerstoffmangel im Cyberspace noch schneller als es solchen Projekten in der Papierrealitaet unter Schirmherrschaft der Deutschen Bundespost beschieden ist. Die Aufgabe bestand also darin, einen Obertitel zu finden, unter dem sich Kitsch und Klischee beim Mitspieler/Leser ganz automatisch und zwanglos einstellen wyrden, ein Thema, unter dem sich die deutschseitige Autorenschaft sowieso genau das Falsche vorstellt. Solch ein optimaler Begriff fyr wunderschoene Missverstaendnisse fand ich ganz naheliegend im Tango. Es ging und geht bei dem TangoProjekt nicht etwa um Voelkerverstaendigung im yblichen Sinn, um das Finden eines kleinsten gemeinsamen KulturNenners etwa, sondern vielmehr um ein freundliches Sichtbarmachen von Vorurteilen gegenyber, von schiefen Vorstellungen von der jeweils fremden Kultur, von der Lebenswirklichkeit des Andern aber auch um ein Sicherkennen im Spiegel des Fremden, in den spiegelverkehrten Klischees des Partners, und damit im besten Fall um den Erwerb eines deutlicheren Bildes von der eigenen Identitaet mithilfe des guten alten Verfremdungseffekts. Dem Begriff "Tango" wurde in Montevideo ybrigens durch das Motto Schuhplattler, Walzer, Marsch! ersetzt, um den Montevideanern einen ebenso stark mit Klischees aufgeladenen Begriff zu bieten, an dem sich Vorurteile yber Deutsche festmachen konnten, wie es das Wort Tango fyr die deutschen Teilnehmer leistet. (siehe auch "jodel") Fyr Tango als Thema sprach aber ausser der schlagenden Kitschhaltigkeit des Begriffs, ausser der Verbindung vom spanischsprachigen Kulturraum mit dem deutschen noch ein anderer Grund. Tango ist altbacken, Tango ist Volksmusik der hundert Jahre alten Moderne, der neueste Modetanz von Gestern, Belle Epoque, Federboa, leicht schaebige Eleganz und geeignet, als Thema eines Webprojekts den Begriffen von global city und village und der blitzsauberen Maschinenaesthetik auf blitzender Oberflaeche einen dekadenten Garaus zu machen, nach dem Motto: Nix iss neu!! An die leicht kitschigen Visionen eines Peter Weibel bezyglich Aufloesung des Koerpers zugunsten eines frei in den Draehten flottierenden Bewusstseins stellt Tango als Titel bereits eine Absage dar: Bitte fass mich an. Um hilfreiche Missverstaendnisse gleich von Anfang an zu foerdern, stellte ich einige Texte ins Netz, die fyr entsprechende Verwirrung sorgen sollten: "Aehh, Martina, quaee aess aesteee!!!!" "wassollndas???" Zum einen gibts da die Einladung, die ich fyr die Titelseite des Projektes entworfen hatte, die allein schon eine Ansammlung von entsprechenden Klischees aus den Zeiten des Dampfradio, der Tanztees, der Kurkonzerte und Kurpromenaden, Kurschatten und Eintaenzer, ist, sowie einige weitere Textbeispiele. Auf der naechsten Ebene findet sich die Tango-Matrix, ein Inhaltsverzeichnis als Tanzformation im Adventskalenderdesign, zwar kein Zufallsgenerator, der den Leser irgendwohin ins Textlabyrinth fyhrt, aber von aehnlicher Wirkung. Die Tango-Matrix war eigentlich als ein zweites Inhaltsverzeichnis gedacht, nicht als Haupteinstiegsseite. Ursprynglich war die dreidimensionale Ansicht einer altaegyptischen Grabkammer, das Grab des Menna als Einstiegspunkt vorgesehen. Diese in VRML geschriebene Datei sollte dem Leser yber Navigation mit der Maus ein gewisses haptisches Vergnygen beim Erkunden von Satzbauten und beim Durchdringen der Textwaende bereiten, im Sinne eines Videotextgames, da es aber immer wieder Probleme mit der VRML Datei unter netscape 4.0 gab, ist die Datei zur Zeit sozusagen nur ein versteckter Seiteneingang ins Projekt. Unter der TangoMatrix stellte ich gleich zu Anfang des Projekts einige Beispiele als Anschauungsmaterial bereit. Ich bitte Johannes Auer, rebus.htm anzuklicken: Rebus ist ein Zitat aus einem Liedtext der Comedian Harmonists als Bilderraetsel - Rebus aufbereitet. Der Liedtext ist vielleicht weniger bekannt als der kleine gryne Kaktus, stammt ebenfalls aus den Dreissiegern und heisst: Kannst Du tanzen Johanna, gewiss kann ich das. Ein weiteres ist konditor.htm - auch ein Schlager aus den Zwanzigern, als Formular mit Wahlmoeglichkeiten. Daneben stellte ich natyrlich auch Spanisches ins Netz, allerdings war von vornherein klar und geplant,dass nicht alle Texte in beiden Sprachen zur Verfygung stehen konnten und sollten - Sprachspiele, die stark an die Kultur des anderen Landes gebunden sind und nicht direkt zu einem sprachlichen Weltkulturerbe gehoeren, koennen von vornherein nicht Gegenstand von Ybersetzungen sein. Das betrifft beispielsweise Liedtexte der eben erwaehnten Comedian Harmonists, aber auch verfremdete Volksliedtexte, wie etwa die Wurmlinger Kapelle von Uhland, die mit dem Kinderlied Wiedele Wedele zwangsverheiratet wurde. Oder den Einladungstext, da er einerseits zu viele deutsche Schlagertexte aus den Zwanzigern bis hin zu den Fynfzigern zitiert, zum anderen, da der Text auf typisch deutsche Gewohnheiten und Gegebenheiten anspielt, fyr die es in der Gesellschaft am Rio de la Plata keine Entsprechung gibt. Ich meine damit Anspielungen auf das deutsche Vereinswesen oder Anspielungen auf Sport und Leistungsgedanken, die beryhmt-berychtigen Tanzturniere. Auf Unverstaendnis stoesst auch ein Spruch wie: Morgens Fango abends
Tango. Da diese Begriffe am Rio de la Plata keine Bedeutung besitzen,
kann die entsprechende Ybersetzung ins Spanische ohne einen Riesenapparat
von Fussnoten natyrlich nicht funktionieren und muss deshalb entfallen.
Zunaechst aber einige Beispiele, die nur mit Erklaerungen zur hiesigen Kultur funktionieren, um das Problem - obwohl es um Ybersetzungen geht und nicht um Netzliteratur - auch von der spanischsprachigen Seite aus zu verdeutlichen. Tangotexte wurden und werden nicht nur von Schlagertextern verfasst, es gibt grosse Namen unter den Tangoautoren, ein solcher Autor ist Jorge Borges, ich zitiere einen seiner Tangos, Johannes wird ihn zusammen mit einer - zugegeben holprigen - Ybersetzung ins Deutsche Zeile um Zeile vorlesen. Alto lo veo, y cavalGross seh ich ihn, und ritterlich Noch zwei Beispiele zum Problem Ybersetzungen: Schach, Geschlechterkampf und der Walzer sind so sehr weltweites Allgemeingut, dass eine Textcollage, aus einer Beschreibung der Schrittfolge und Tanzhaltung des Wiener Walzers mit der Kommentierung einer Schachpartie - einschliesslich spanischer Eroeffnung - zusammengesetzt, sich myhelos aus dem Deutschen ins Spanische ybersetzen laesst. Umgekehrt ist es natyrlich sinnlos, einen Text wie die sogenannte Sammelbiografie, eine Textcollage von Textschnipseln aus Bunte bis Frau im Spiegel, biografische Abfallstyckchen aus den Leben von Maria und Margot Hellwig, Heino, und den Oberkrainern zusammengebastelt und angereichert durch biografische Schallplattenhylleninformation zu Mozart, Chopin, Strauss und Schubert aus dem Deutschen ins Spanische ybersetzen zu wollen. Ein andere Moeglichkeit, wie kulturybergreifende Kunststycke aussehen koennen, bietet Oliver Gassners yberzeugende Arbeit TangoRGB - colors of passion. Ich hoffe, Oliver wird sein Kunststyckchen vorfyhren! Oliver ist auf Englisch ausgewichen - das enthebt ihn natyrlich der Ybersetzungsarbeit, ausserdem greift er auf ein cineastisches Masterpiece zuryck, das sich eben auch bis nach Montevideo hin durchgesetzt hat. Doch zuryck zum Problem Deutsch-Spanisch. Zwischen beiden Extremen - hie verlustfreie Ybersetzung, dort mission impossible, gibt es NonsenseVerse, die sich aus Sprachelementen beider Sprachen zusammensetzen: VALSE GERMANICO Herren empujen estrujen y valsen mujeren valsen el vals tu con mich ich con Dich Herren valsen mujeren valsen el vals de la Schnee tu conmigo yo contigo y Herren bajen mujeren Nach Tango verlango nach Lied von Bandoneon besucho senorita besuchote auf media Mundo en Stundo de Daemmerung at cinco o Glock danza del Tee punctualmente hay Musik und gibt Amor und alles a media luz segundo Stock y todo triste en Daemmerung nach Tango verlango nach Lied von Bandoneon Es bleibt andererseits eine Frage, die sich natyrlich auch in Bezug auf Papierpublikationen stellt, naemlich: Wie weit muss auf den Leser Rycksicht genommen werden, was darf an Allgemeinwissen vorausgesetzt werden, ist es wirklich noetig, auf Titel wie etwa "Schroedingers cat has the blues" zu verzichten, nur weil nicht jeder weiss, wer Schroedinger war? Da der Autor in Webprojekten immer auch sein eigener Publisher ist, muss er sich diese Frage, fyr die normalerweise ein Lektor zustaendig ist, selbst stellen. Gute Karten hat er, wenn er die Top 100 der Weltliteratur zitiert, verwendet, verwurstet. Oder den Filmbestand Hollywood. Ich wyrde yberhaupt vorschlagen, analog zu den tapes und disks der Techno-Szene, CDs und mixtapes von Filmklassikern anzubieten. Welche Binsenweisheiten noch? Der grafische Teil eines Webprojekts haengt natyrlich noch sehr von der Aufloesung der verfygbaren Bildschirme ab, die Technik bestimmt die Aesthetik NOCH sehr stark mit, Papierarbeiten lassen sich oft nur mit Verlust im Netz wiedergeben (als Beispiel zeige ich hier gauguin.gif und carneval.gif ), umgekehrt verlieren Computerarbeiten auf Papier, aber auch dazu gibts Gegenbeispiele, mir faellt dazu das wanzntanzn ein. Die computergenerierte DNA wirkt auf Papier dagegen nicht, waehrend die Papierarbeit von Reinhard Doehl, der Fingerabdruck, webcompatibel ist. Was nun das Spektrum der Webprojekte im Netz selbst betrifft, hat das Netz meiner Meinung nach einen gewissen Spielzeugcharakter vom PC ybernommen und behalten. Der Netznutzer fordert vom literarischen Webprojekt mehr Leichtigkeit, Witz, Unterhaltung, Esprit und Verspieltheit, als derselbe Nutzer von der Papierliteratur fordern wyrde. Er hat sich eben daran gewoehnt, dass ein Buch durchzuarbeiten ist, waehrend Netzliteratur genossen werden kann. Selbst relativ schwierige Themen werden sehr viel leichtfysseiger abgehandelt, als das in der Literaturliteratur geschieht, vielleicht steht webart da der comic art naeher als der Literaturliteratur. Die Tangomatrix wird jedenfalls noch durch einige Webstyckchen erweitert werden, durch batman macht die Fledermaus
Saludos Martina E-mail Vortrag zum Symposium: Digitaler Diskurs (Internet und Literatur), Atelier de recherche et de création artistiques (ARC) Romainmôtier, 21. Januar bis Sonntag 24. Januar 1999 |