Eine Ausstellung des Kunstvereins Uelzen in Zusammenarbeit mit dem BBK
Uelzen.
[Eröffnung 22.5.1999]
von Reinhard Döhl
Meine Damen, die Musen der ausstellenden Künstler besonders herzlich
eingeschlossen, meine Herren, -
Soweit Sie der Einladungskarte gefolgt sind, erwarten Sie - und dies
mit Recht - eine Aufklärung der Wörter Kunstraum und
Sprachraum, die, durch einen Querstrich getrennt und verbunden,
der heutigen Ausstellung die Überschrift geben.
Sie werden diese beiden Wörter weder im Grimmschen Wörterbuch
noch in Meyers Enzyklopädischem Lexikon noch im Brockhaus hergeleitet,
erklärt oder geschrieben finden. Und auch der Duden der "neuen
Regeln" und der "neuen Rechtschreibung" kennt - ohne weitere Erläuterung
- nur den Sprachraum als kartographische Bezeichnung eines Raumes, in
dem eine einheitliche Sprache gesprochen wird, zum Beispiel den deutschsprachigen
Raum. Künstliche Sprachen, die es ja auch gibt, - von der Sprache
der Kunst ganz zu schweigen, - hätten demnach keinen Raum in der
Herberge.
Analog wäre der Kunstraum ein der Kunst vorbehaltener Raum, wie
ihn zum Beispiel die Hamburger Kunsthalle vorstellen könnte. Kunstraum
ließe sich aber auch als ein künstlicher Raum verstehen,
wie zum Beispiel Kunststoff ein künstlicher Stoff ist, und wäre
damit wiederum ein Nichtraum.
Ich will dies, so reizvoll es wäre, nicht weiter durchspielen,
sondern definiere für die heutige Ausstellung, daß Kunstraum/Sprachraum
erstens einen konkreter Raum bezeichnet, in Uelzen sind es gleich
mehrere, in dem, in denen die aktuelle Sprache der Künste und aktuelle
Kunstformen der Sprache Platz finden können.
Daß zweitens Kunstraum/Sprachraum den ästhetischen
Raum meint, in dem sich aktuelle bildende Kunst und Literatur nicht
nur begegnen sondern sich auch - wie noch zu erläutern sein wird
- vermischen und gegenseitig aufheben können.
Um mit dem Erstens zu beginnen, präsentiert sich die heutige
Ausstellung zunächst in Überblick und Querschnitt im Ausstellungsraum
des Uelzener Kunstvereins. In ihm sind alle Aussteller von Brög,
Hans bis Tarnow, Wilhelm B. mit repräsentativen Arbeiten vertreten.
Was die Ausstellung insgesamt an Vielstimmigkeit, Korrespondenz aber
auch Kontrast entfaltet, ist hier also in nuce, wie in einer Nußschale
vorhanden.
Die Ausstellung setzt sich - jeweils auf die Räume abgestimmt -
fort in der BBK-Galerie Oldenstadt und im Langhaus, wo Sho-Arbeiten
Kei Suzukis, transparent skripturale Schriftzwitter Carlfriedrich Claus'
und ein Buchobjekt Wil Frenkens vor allem den Akzent setzen.
Die Ausstellung konfrontiert in der Stadtbücherei das Buch mit
der Kalligraphie, auf verschiedene Art Geschriebenes mit Letter und
Gedrucktem,
um sich schließlich im Rathaus off line, im Medien-Café
on line in einen virtuellen Ausstellungsraum zu öffnen, der auf
einem Server in Stuttgart von Johannes Auer für diese Uelzener
Ausstellung mit virtuellen Exponaten bestückt wurde.
Es ist übrigens, von einem früheren Stuttgarter Experiment
abgesehen, das erste Mal, daß in einem derartigen Umfang traditionelle
und virtuelle Kunstpräsentation verbunden sind. Und dies nicht
willkürlich, sondern folgerichtig deshalb, weil knapp die Hälfte
der Aussteller seit Jahren bereits auch im Internet künstlerisch
experimentieren. Ganz abgesehen davon, daß mit Großrechenanlagen
hergestellte Texte und computergenerierte Grafiken seit Ende der 50er
Jahre ein kontrovers diskutiertes Wasserzeichen der international ausgerichteten
Stuttgarter Gruppe/Schule, einer fluktuierenden losen Gruppierung von
Schriftstellern, Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern um Max
Bense waren.
Daß ein Großteil der in der Ausstellung "Kunstraum / Sprachraum"
vertretenen Künstler zur Stuttgarter Gruppe/Schule gehörten
oder doch zu ihr und untereinander Kontakt hielten und halten, sei wenigstens
angemerkt.
Ich schiebe hier eine e-mail vom 18. Mai ein, die mich aus Novosibirsk
erreichte, von Johannes Auer stammt, und zitiere:
Betreff:
mail from novosibirsk direkt to uelzen
Datum:
Tue, 18 May 1999 16:31:27 -0700
Von:
guest10 <guest10@rstlib.nsc.ru>
Firma:
NSRS Library
An:
reinhard.doehl@po.uni-stuttgart.de
lieber reinhard,
novosibirsk gibt es, ich bin hier. ob es uelzen gibt
weiss ich nicht,
da bin ich nicht...
alles gute fuer die ausstellung!
ich habe keine ahnung ob die mail vom ob ankommt,
der versuch zaehlt...
worte fuer uelzen
herzlichen gruss
hannes
Wenn
zweitens "Kunstraum/Sprachraum" den ästhetischen Raum
bezeichnet, in dem sich aktuelle bildende Kunst und Literatur in den unterschiedlichsten
Medien nicht nur bewegen und begegnen sondern auch vermischen können,
treten Kunst und Sprache, Literatur und bildende Kunst in einen Dialog,
der als ästhetisches Phänomen des 20. Jahrhunderts Ende der
50er / Anfang der 60er Jahre mit der in Amsterdam zusammengestellten,
von der Kunsthalle Baden-Baden übernommenen Ausstellung "Schrift
und Bild" erstmals öffentlich wurde.
Dietrich Mahlow, der damalige Leiter der Baden-Badener Kunsthalle blieb
von der Aktualität dieser Grenzverschiebung und -verwischung zwischen
Schrift und Bild sogar so überzeugt, daß er 1987 im
Mainzer Gutemberg-Museum und anderen Orts unter dem Titel "- auf ein
Wort!" eine zweite Bestandaufnahme versuchte, die in der ersten Ausstellung
Übersehenes nachtrug und die Entwicklung aufzeigte, die sich aus
der wechselseitigen Begegnung von bildender Kunst und Literatur, zum
Beispiel im Umfeld von Concept art und Rauminstallation, inzwischen
ergeben hatte.
Dieses Interesse an Bildern zum Lesen, an Poesie zum Anschauen oder
allgemeiner gesprochen: an Wechselbeziehungen zwischen Schrift und Bild
kam nicht aus heiterem Himmel. Es war vielmehr in der Entwicklung der
Künste vorbereitet. Mit dem Hannoveraner Kurt (Merz) Schwitters
(1887-1948) könnte hier ein Künstler benannt werden, der,
nachdem die Kubisten erstmals Schrift(zeichen) in ihre Bilder und Collagen
integriert hatten, mit seinen Gedichten, Collagen und Assemblagen zentral
ins Vorfeld der heutigen Ausstellung gehört.
Für Kurt Schwitters und seine Künstlerfreunde hatten sich
die bürgerlichen Kunst- und Moralvorstellungen durch die Brutalität
des 1. Weltkriegs selbst desavouiert, hatten die spätbürgerlichen
Wert- und Sinnvorstellungen - kaum noch nackten Materialismus verschleiernd
- durch Indienstnahme für nationale und Kriegspropaganda ihre moralische
und ästhetische Integrität verloren.
Für seinen ausgestopften Schiller, beklagte es z.B. Hans
Arp, sei der Bürger bereit, jederzeit ein Blutbad zu veranstalten.
Und Richard Huelsenbeck schimpfte die Deutschen gar eine kulturelle
Vereinigung von Psychopathen [...], die, wie im deutschen "Vaterlande",
mit dem Goetheband im Tornister auszogen, um Franzosen und Russen auf
Bajonette zu spießen. [Ein Bemerkung, über die im Goetherummel
dieses Jahres nachzudenken sich bestimmt lohnen könnte.]
Einen derartigen gesellschaftspolitischen Mißbrauch der Kunst
durch willkürliche Indienstnahme wollte Schwitters nach dem 1.
Weltkrieg ausschließen durch eine Verkürzung des Weges
von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes. In einem
schon 1919 geschriebenen Aufsatz "Merz" erklärte Schwitters deshalb
Kunst als einen Urbegriff, erhaben wie die Gottheit, unerklärlich
wie das Leben, undefinierbar und zwecklos. [Hervorhebungen
R.D.]
Eine solche Kunst, erhaben und banal, unerklärlich, undefinierbar
und zwecklos, läßt aber für den, der sie herstellen
will, für den Künstler die Beschränkung auf nur eine
Kunstart nicht mehr zu.
Die Beschäftigung, fährt Schwitters denn auch fort,
mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis.
Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes
meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart,
sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk,
das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit.
Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt.
Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß
die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt.
Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze
gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben
der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht.
Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.
Damit hatte Schwitters entschieden die Weichen gestellt für Künstler,
die nach den Erfahrungen der Nazidiktatur, in der für die Macht
nicht verwertbare Kunst als entartet erklärt und ausgemerzt wurde,
-
Damit hatte Schwitters, sage ich, entschieden die Weichen gestellt für
Künstler, die nach dem 2. Weltkrieg erneut versuchten, Dichtung
und bildende Kunst zu verbinden. Das gilt im Rahmen der heutigen Ausstellung
z.B. für den 1914 geborenen, seit den 70er Jahren in Paris lebenden
Tschechen Jírí Kolár, der Ende der 50er Jahre als
bereits renommierter Dichter plötzlich das Medium wechselte und
heute fast nurmehr als Collagist bekannt ist. Er muß wie andere
Künstler der Ausstellung "Kunstraum / Sprachraum", wie aber schon
Schwitters, Hans Arp, Wassily Kandinsky, Arnold Schönberg und weitere
Maler, Musiker und Dichter zu Beginn des Jahrhunderts, den Doppelbegabungen
und damit einer Tradition zugerechnet werden, die sich seit Ende des
18. Jahrhunderts herschreibt.
Ich nenne stellvertretend erstens Johann Wolfgang Goethe, der lange
Zeit nicht wußte, ob er bildender Künstler oder Dichter sein
wollte. Der Corpus seiner erhaltenen Zeichnungen ist nicht nur erstaunlich
umfangreich sondern teilweise von frappanter Modernität.
Ich nenne zweitens den Schweizer Johann Heinrich Füssli, der, wie
Jírí Kolár ursprünglich Dichter, seine literarischen
Ambitionen nach einem Medienwechsel in der Historienmalerei befriedigte
und bis zum Direktor der Londoner Royal Academy aufstieg.
Füsslis Entscheidung für die Malerei, Goethes nach der italienischen
Reise dann entschiedenes Dichtertum müssen dabei auch verstanden
werden vor dem Hintergrund von Überlegungen Moshe Mendelssohns,
dem Modell Nathan des Weisen, und Gotthold Ephraim Lessings.
Nach Lessings 1766 in "Laokoon oder Über die Gränzen der Mahlerey
und Poesie" getroffener, berühmter und folgenreicher Unterscheidung
sind die Zeichen der bildenden Künste Farben und Formen im Raum,
ist ihr Bereich daher das Nebeneinander von Körpern. Die Poesie
dagegen benutze artikulierte Töne in der Zeit, die ein Nacheinander
von Handlungen fordern. Zwar gebe es Grenzüberschreitungen, doch
seien diese bei jeder der beiden Kunstarten durch ihre Mittel nur andeutungsweise
möglich.
Hatte Lessing damit die altehrwürdige Formel des Horaz, ut
pictura poesis erit, wie das Bild sei die Poesie, außer
Kraft gesetzt, setzten in ausgehenden 18. Jahrhundert Goethe und Füssli,
im 19. Jahrhundert dann die Doppelbegabungen Adalbert Stifter, Gottfried
Keller oder Wilhelm Busch, um wenigstens ein paar Namen zu nennen, setzt
nach 1918 Kurt Schwitters mit seinen lesbaren Bildern und anschaubaren
Texten, setzen die ihm folgenden Collagisten und Decollagisten mit ihren
Grenzüberschreitungen immer entschiedener Lessings Außerkraftsetzung
außer Kraft, restituieren sie erneut - wenn auch unter anderen
Konditionen -
ein ut pictura poesis erit. - Das Wort und das Bild sind eins.
Maler und Dichter gehören zusammen, schreibt es Hugo Ball am
13.VI.1916 in sein Tagebuch "Die Flucht aus der Zeit".
Wenn, wie in der heutigen Ausstellung zu besichtigen, Ilse und Pierre
Garnier in den letzten Jahren ihre Texte durch ein einfaches, dennoch
komplexes Zeichensystem ergänzen, gar ersetzen, wäre dies,
vor allem bei Pierre Garnier, dem Begründer des "Spatialismus",
ein weiterer Beleg für den in den modernen Künsten aktuellen
(großen und kleinen) Grenzverkehr.
Handelt es sich in seinem Fall um einen Schriftwechsel in eine der arte
povera verwandte ikonographische Textur, die sich auf traditionelle
Weise nicht mehr lesen läßt, geht zum Beispiel Werner Steinbrecher
den umgekehrten Weg. Ganze Serien seiner Arbeiten auf Papier,
hat es Susanne Frenken festgehalten, sind mit Schriftzeichen bedeckt,
wobei der Text manchmal im konventionellen Sinne lesbar ist und sich
auf Künstler und Schriftsteller bezieht, die er [= Werner Steinbrecher]
liest, die er besonders schätzt.
Als noch radikaler wäre auf sein Brockhaus-Projekt zu verweisen,
für das - wiederum mit den Worten Susanne Frenkens - Steinbrecher
die einzelnen Seiten der vierundzwanzig Bände des Brockhaus-Konversationslexikons
beschreibt, bemalt, bezeichnet und zu jeweils ganz neuen Informationen
bearbeitet. Hier werden die im Brockhaus erklärten Begriffe auf
ganz andere Weise definiert. Es entsteht eine neue Begriffswelt, die
von äußerstem optischen Reiz ist, eine - und das möchte
ich jetzt besonders hervorheben - optische Philosophie der Wörter.
Mit Steinbrechers Bezugnahme auf Künstler und Schriftsteller, mit
den Doppelbegabungen Ilse und Pierre Garnier rückt aber noch ein
weiterer Aspekt dieser Ausstellung ins Blickfeld.
Was sich in der engen Zusammenarbeit zwischen George Braque und Pablo
Picasso, in der Korrespondenz zwischen Wassily Kandinsky und Arnold
Schönberg, im Dialog zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler
oder den Gemeinschaftsdichtungen der Dadaisten und Surrealisten anbahnt,
erfährt als Tendenz zum Dialogischen in den Künsten
seit den 50er Jahren, und hier wiederum in Theorie und Praxis der Stuttgarter
Gruppe/Schule um Max Bense, eine erneute Verstärkung.
Nicht nur in der Internationalität der konkret-visuellen
Poesie, auf die Hans Brög in seiner neuen Mappe "Visuelle Poesie
muß nicht konkret sein" kritisch Bezug nimmt,
oder im Prinzip Collage (in der heutigen Ausstellung z.B. bei
Reinhard Döhls "März 26" mit Bezug auf Kurt Schwitters),
sondern auch in einer zunehmenden Neigung zu gemeinsamer künstlerischer
Arbeit.
So verfaßte Pierre Garnier mit dem japanischen Dichter Seiichi
Niikuni in den 60er Jahren nicht nur ein spatialistisches Manifest sondern
schrieb mit ihm zusammen auch eine größere Menge französisch-japanischer
Gedichte, die in ihrer Mischung lateinischer Buchstaben mit Kanji-Zeichen
als exemplarischer Beleg für die Vielsprachigkeit visueller Poesie
gelesen werden können.
Eine andere Art von Zusammenarbeit praktizieren seit den 80er Jahren
der japanische Sho-Meister Kei Suzuki und Reinhard Döhl, indem
sie einmal im Sinne der Sho-Kunst miteinander schreiben und experimentieren,
aber auch, indem sie versuchen, die traditionelle Pinselschrift, deren
Charakteristikum die für den Betrachter stets erkennbare Linie
ist, mit dem abendländischen Prinzip der Collage zu verbinden,
also zwei heterogene, sich im Grunde ausschließende Verfahrensweisen
zu synthetisieren.
Diese Tendenz zum Dialogischen hat in den letzten Jahrzehnten die unterschiedlichsten
Formen künstlerischer Interaktion ausgebildet: poetische Korrespondenzen
in Tradition des japanischen Kettengedichts, in denen international
Künstler in ihren jeweiligen Nationalsprachen gemeinsam dichten.
Oder eine mail art, in der Künstler sich auf gestalteten
Postkarten über Konzepte, aber auch zu gemeinsamen Themen austauschen.
Eine weitere Spielart, im Internet visuell und akustisch, literarisch,
grafisch und musikalisch miteinander in den Dialog zu treten, deutet
sich seit 1996 an in international ausgelegten Projekten: in einem
internationalen "Poem
Chess", das sich auch unter den virtuellen Exponaten dieser
Ausstellung befindet, in einer internationalen Heißenbüttel-F@stschrift
mit Epilog
und in einem internationalen Gertrude-Stein-Epit@ph,
das gleichzeitig mit einer Ausstellung, einem Gertrude-Stein-Memorial
in der Galerie Buch Julius vernetzt war.
Für die Stuttgarter Schule/Gruppe, in der über den Grenzbereich
zwischen bildender Kunst und Literatur seit den 50er/60er Jahren praktisch
und theoretisch gearbeitet wurde, ist in den letzten 15 Jahren neben
der Stadtbücherei Stuttgart vor allem die Galerie Buch Julius ein
entscheidender Ort der Begegnung und Interaktion geworden. Hier wurde
Max Benses gedacht, die erste Carlfriedrich Claus-Ausstellung nach der
Wende gezeigt, Arbeiten Ilse und Pierre Garniers, Arbeiten unserer japanischen
(Kei und Syun Suzuki, Hiroo Kamimura u.a.) und tschechischen Freunde
(Bohumila Grögerová, Josef Hirsal, Eduard Ovcacek u.a.)
vorgestellt und diskutiert. Hier verabredete man mail-art-Projekte und
traf sich zu mail-art-Präsentationen oder thematisch fixierten
oder personal ausgerichteten Gruppenausstellungen, nicht zuletzt zu
einem dem russischen Tänzer und Debussy-Interpreten Nijinski gewidmeten
Prospekt, bei dem auch Werner Steinbrecher, Wilhelm B. Tarnow und Valeri
Scherstjenoi mit von der Partie waren, ferner Watscheslaw Kuprijanow,
Hans Brög, Susanne und natürlich Wil Frenken.
Zu den künstlerischen Aktivitäten Wil Frenkens, der für
die Konzeption der heutigen Ausstellung verantwortlich zeichnet, die
eine gleichnamige Ausstellung des Pforzheimer Kunstvereins aus dem Jahre
1997 wesentlich erweitert und modifiziert -
Zu den künstlerischen Aktivitäten Wil Frenkens - und ich weiß,
daß ich damit zwar nicht Eulen nach Athen, wohl aber Schnucken
in die Heide trage - gehören in letzter Zeit - zugleich die formale
Breite der heutigen Ausstellung andeutend -
1. ein offen angelegtes Chlebnikov-Projekt, an dem von Anfang an wesentlich
Peter Stobbe Teil hat, aus dem Arbeiten von Pierre Garnier in der heutigen
Ausstellung hängen. Es ist dies ein Projekt, das eine weitere Traditionslinie,
nämlich zum russischen Futurismus andeutet, um dessen Vermittlung
sich Valeri Scherstjenoi seit 1979 intensiv bemüht, auf den aber
auch die Aleksej Krucenych gewidmeten Arbeiten Peter Stobbes in der
heutigen Ausstellung verweisen.
2. gehört zu den künstlerischen Aktivitäten Wil Frenkens
das Drucken, das, in Folge des holländischen, von den Nationalsozialisten
ermordeten Druckers Hendrik Nikolaas Werkman, in Stuttgart durch Klaus
Burkhardt, Hansjörg Mayer und eben Wil Frenken eine vielfältige
Ausformung erfahren hat.
3. und schließlich ist nicht nur für Wil Frenken eine sich
in zahlreichen Objekten abzeichnende Idee des Buches von Bedeutung,
in der sich Stéphane Mallarmés Livre-Konzeption und Guillaume
Apollinaires Prospekt des sichtbaren und hörbaren Buches der
Zukunft bündeln. (Wil Frenkens im Langhaus ausgefaltetes Buchobjekt
habe ich bereits genannt.)
4. Wil Frenkens kalligraphische Ambitionen (ich denke hier speziell
an das von der Presse gründlich mißverstandene, Hildegard
von Bingen gewidmete Schreibprojekt), die vor allem im Langhaus gezeigten
Einzelarbeiten Kei Suzukis schlagen schließlich den Bogen zurück
zum Stichwort Schrift. Schrift, so hatten es die von mir einleitend
genannten Ausstellungen "Schrift und Bild" und "- auf ein Wort!" gezeigt,
kann in ihrer Begegnung mit Bild auf vielfache Weise in Erscheinung
treten: als Schriftbild, Bilderschrift, Schrift zum und Schrift im Bild
oder Schrift als Bild, um die in diesem Zusammenhang wichtigsten Möglichkeiten
zu nennen. Jede Schriftkultur hat hier ihre eigenen Traditionen ausgebildet
und dabei auch von anderen gelernt.
In Europa wird man, wenn man in diesem Sinne von Schrift spricht, an
Johann Neudörffer und andere berühmte Schreibmeister denken,
an Kalligraphie. Ihr ging es, vor allem nach der Erfindung des
Buchdrucks, darum, eine Balance zu finden zwischen der dienenden Aufgabe
der Schrift, das heißt ihrer Lesbarkeit, und einem möglichst
ansprechenden Schriftbild, das zugleich Ausdruck der künstlerischen
Fähigkeiten ihres Schreibers war.
Im Falle der Sho-Kunst, die hartnäckig als japanische Kalligraphie
(was ja wörtlich übersetzt Schönschrift meint) mißverstanden
wird, geht es jedoch genau darum nicht. Im Gegenteil: indem der Sho-Meister
sich die größte Freiheit beim Schreiben der Kanji, der Bildzeichen
nehmen kann und nimmt, um sich, seine Befindlichkeit, seinen inneren
Zustand auszudrücken, entstehen oft Schriftbilder, die selbst ein
Kenner kaum mehr zu lesen vermag. Wobei hinzukommt, daß nach einem
Satz des Zen-Philosophen Daisetz Suzuki Kunst erst vollkommen
ist, wo sie aufhört, Kunst zu sein, das heißt, wenn sie
die Vollkommenheit des Kunstlosen erreicht hat. Eine Überzeugung,
die sich auf merkwürdige Weise mit dem Schwitterschen Diktum berührt,
daß man den Begriff Kunst erst los werden müsse, um
zur Kunst zu gelangen.
Beide Traditionen aber, die der europäischen Kalligraphie und
die der japanischen Sho-Kunst, des sho-do, treffen in der heutigen
Ausstellung kontrastiv zusammen in den Arbeiten Kei Suzukis und Thomas
Kubischs, in Arbeiten, die in einzelnen Beispielen den ihnen traditionell
zugewiesenen Rahmen, die ihnen traditionell zugewiesenen Gestaltungsmöglichkeiten
durchaus sprengen können. Nachvollziebar etwa beim Vergleich der
Arbeiten Kubischs mit den hierher gehörigen radikaleren Blättern
Wil Frenkens.
Die aber laden - wie alle anderen Exponate - den lesenden Betrachter
und betrachtenden Leser ein, im Vergleich die Unterschiede, aber auch
die Gemeinsamkeiten sehen und verstehen zu lernen. Wobei es letztlich
Sache des Betrachter/Lesers bleibt, sich in den Kunsträumen, die
in der heutigen Ausstellung auch Sprachräume sind, dem Grenzphänomen
Schrift und Bild ein wenig zu nähern.
Widmen wollen wir die heutige Ausstellung dem Andenken des 1910 in Straßburg
geborenen, 1990 in Stuttgart verstorbenen Philosophen, Ästhetikers
und Poeten Max Bense, der deshalb auch das letzte Wort haben soll. Nicht
mit seinen Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Texttheorie.
Sie würden den Rahmen einer Ausstellungseröffnung sprengen.
Sondern mit zwei Gedichten aus dem Jahre 1980.
Wie es ist, wenn es so wäre,
wie es sein würde, wenn es so ist,
wie es nicht war, als es war,
um zu sein, wie es sein müßte,
wenn es wäre, um so zu sein.
Ich, 1980
werde am 7.2. des Jahres 2000
neunzig Jahr alt sein,
und du wirst nicht wissen,
wie alt das ist,
wenn ich nicht mehr älter werden kann.
Denke daran und denke an mich
Am 7.2. des Jahres 2000.
Einundzwanzig Jahre danach
als deine Mutter starb
und neunzig Jahre nach meiner Geburt,
vielleicht auch am 23. Juni
des Jahres zweitausendsechsunddreißig,
neunzig Jahre nach deiner Geburt.
Eine der Uhren ist immer wach.