Keinort Stuttgart von Reinhard Döhl 1994 begannen wir infolge eines Max Bense gewidmeten Symposiums (1), dessen Thema u.a. das internationale Beziehungsgeflecht der Stuttgarter Gruppe/Schule war, auch die produktiven Möglichkeiten der Internets zu diskutieren mit dem Ergebnis, daß Johannes Auer und ich 1996 erstmals mit zwei internationalen offenen Projekten ins Netz gingen: einem "Epitaph Gertrude Stein" (2) anläßlich ihres 50. Todestages und der "Fastschrift" "H.H.H." (3) zum 75. Geburtstag Helmut Heißenbüttels. Das "Epitaph" war gleichzeitig mit einer Ausstellung "Memorial Gertrude Stein" (4) vernetzt dergestalt, daß das "Epitaph" auch Teil der Ausstellung war, die Ausstellung andererseits den Schlußstein des "Epitaphs" setzte. Die Arbeit an der "Fastschrift" mußten wir, bedingt durch den plötzlichen Tod Heißenbüttels, schneller als gedacht, mit einem "Epilog" (5) abschließen. Andere, z.T. kleinere Projekte folgten schnell, u.a. eine Hypertextversion des "Buch[es] Gertrud" (6) aus den Jahren 1965/1966. Augenblicklich arbeiten wir an einem internationalen "Poemchess" (7). Projekte für die Zukunft gibt es genug. Was ich im folgenden skizzieren möchte, ist auch die Tradition dieser Experimente, die bis in die späten 50er Jahre und darüber hinaus zurückweist, was die Projekte bereits thematisch andeuten. So zählte Helmut Heißenbüttel zum engeren Kreis der Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense, über die wir in unserem Internet-Reader "Als Stuttgart Schule machte" (8) in Fortsetzung informieren wollen. Diese Stuttgarter Gruppe/Schule war sowohl theoretisch als auch praktisch interessiert an einer Verbindung von Experiment und Tendenz (9) im künstlerischen Bereich, an der Erhellung hier einschlägiger historischer Zusammenhänge (10), an einem offen gehaltenen internationalen Dialog (11) mit anderen Künstlern und Gruppierungen im Rahmen einer zunächst, aber nicht ausschließlich konkreten Literatur, sowie an den neuen Medien und durch sie möglichen neuen Aufschreibsystemen in den Bereichen der Literatur, bildenden Kunst und Musik (12). 1955 veröffentlichte Helmut Heißenbüttel in der Zeitschrift "augenblick" den Essay "Reduzierte Sprache. Über ein Stück Gertrude Steins" (13), der zugleich den Anfang der Stuttgarter Gertrude-Stein-Rezeption markiert (14). Was dieser Aufsatz nicht diskutierte, Gertrude Steins frühe Experimente mit automatischem Schreiben (15), wurde uns zusätzlich im Kontext der dadaistischen, später surrealistischen Versuche einer >écriture automatique< wichtig und führte zu eigenen Experimenten und Forschungen im Bereich der Aleatorik (16), zur zeitweiligen Präferenz permutationeller Texte (17) sowie zu Versuchen, mit Hilfe von Großrechenanlagen "Stochastische Texte" herzustellen (18), beides wiederum vor dem Hintergrund eines damals virulenten Interesse an konkreter Poesie, die im Wintersemester 1959/1960 ihre erste bereits internationale Ausstellung im Studium Generale der TH Stuttgart erfuhr (19). Während auf der einen Seite die Möglichkeiten des Lichtsatzes für literarische Präsentationen schnell genutzt wurden (20), wurde auf der anderen Seite mit computergenerierter Grafik (21) und in der Musik mit grafischen Partituren (22), konkreter und elektronischer, allgemein nicht instrumental erzeugter Musik (23) experimentiert. Daß dabei auch das Radio ins Blickfeld der Interessen rückte, lag bei dem Interesse der Stuttgarter Gruppe/Schule an akustischer Literatur und ihrer Geschichte (24) auf der Hand, zumal in den elektronischen und Rundfunkstudios in Paris (25) Köln (26), zu denen wir Beziehungen hatten, oder Mailand (27) - nach unserer Sicht der Dinge - auch an der Realisierung von Prospekten gearbeitet wurde, die bereits aus den Anfängen des Rundfunks stammten (28). Im Sinne einer solchen "Radiokunst", die elektronische und konkrete Musik einschloß und nur mit Hilfe der Rundfunktechnik verwirklicht werden konnte, konzipierte und realisierte Paul Pörtner, zunächst in einem elektronischen Studio der Hochschule für Gestaltung in Ulm, seine "Schallspiele" (29), inszenierte Heinz Hostnig Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" (1967) unter Einsatz eines Vocoders. In welchem Maße dies alles für uns nicht nur aktuell sondern zukunftweisend war, belegt das 1964 gemeinsam von Max Bense und mir verfaßte einzige Manifest der Stuttgarter Gruppe/Schule "Zur Lage" (30), das mit der Überzeugung schließt: "Der Künstler heute" realisiere "Zustände auf der Basis von bewußter Theorie und bewußtem Experiment. Wir sprechen von einer experimentellen Poesie [und Kunst, R.D.], insofern ihre jeweiligen singulären Realisationen ästhetische Verifikationen oder Falsifikationen bedeuten. Wir sprechen wieder von einer Poietike techne. Wir sprechen noch einmal von einer progressiven Ästhetik bzw. Poetik, deren bewußte Anwendung ein Fortschreiten der Literatur demonstriert, wie es schon immer den Fortschritt der Wissenschaft gab." Dieses Manifest war entstanden in direktem Reflex auf Pierre Garniers "Plan pilote fondant le Spatialisme" (31) und im Kontext anderer Manifeste brasilianischer, tschechischer und japanischer Gruppierungen (32), die sich zwar graduell, nicht jedoch tendentiell voneinander unterschieden und so auch die dialogische Anlage aller dieser Unternehmen und Verlautbarungen andeuten können. Vor allem der internationale Dialog blieb offen und wurde fortgeführt, als sich in der aktuellen Kunstszene anderes zeitweilig in den Vordergrund schob. Er wurde fortgeführt in zahlreichen, oft internationalen Gemeinschaftsarbeiten, literarisch z.B. mit Kettengedichten in der Tradition des japanischen Renga/Renku/Renshi (33) oder auf dem Wege der Mail art (34). Und es waren/sind überwiegend dieselben Autoren und Künstlerfreunde aus den 60er Jahren, die jetzt, in Folge des Bense-Symposiums, wieder gemeinsam an den genannten Internetprojekten mitarbeiten, an Projekten, die ohne die skizzierte Vorgeschichte und ohne einen bis heute anhaltenden Dialog so nicht, wenn überhaupt entstanden wären. Nachzutragen bleibt, daß für unser augenblickliches Experimentieren
im und mit dem Internet eine Unterscheidung wichtig ist, die auch in unserer
theoretischen und praktischen Arbeit mit anderen Medien, speziell dem
Radio eine Rolle gespielt hat, die Unterscheidung zwischen reproduktiver
und produktiver Nutzung. Reproduktiv nutzen wir das Internet, wenn wir
Texte hineinstellen, die uns in diesem Zusammenhang wichtig sind (z.B.
die Beiträge "Als
Stuttgart Schule machte"). Sie stehen dem Benutzer auf Abruf zur Verfügung,
sollen ihn aber auch zu einem Dialog, zu eigenen Beiträgen einladen.
Produktiv sehen wir im Internet Möglichkeiten, die die traditionellen
Aufschreibsysteme nicht bzw. so nicht bieten, den offenen Dialog oder
konkret z.B. die Spielform der Permutation oder eine spielerische Verbindung
von Bild und Text, Grafik und Ton. Hier sind einige unserer Projekte über
ihren jeweils aktuellen Anlaß hinaus auch deshalb ins Internet gegeben
worden, um die These zu überprüfen, daß viele experimentelle
Textsorten und -systeme die Möglichkeiten des Internets bereits antizipierten.
Ich denke dabei speziell an die Permutationen in "Der
Tod eines Fauns" (35) oder "makkaronisch
für niedlich" (36), ein Textmobile, für das Johannes Auer
eine Präsentation entwickelte, die weder im Druck noch in einem anderen
Aufschreibsystem möglich gewesen wäre. Es ist uns dabei durchaus
deutlich, daß das, was wir momentan treiben, nur Schritte auf dem
Weg sind. Bei "makkaronisch" haben wir z.B. im linken Feld zwar die zugehörigen
Töne in einer anders nicht wiedergebbaren Form fixiert, suchen aber
noch nach Möglichkeiten, sie auch entsprechend laut werden zu lassen.
Ähnliches gilt für die einbezogene Grafik in unseren beiden
ersten, Gertrude Stein und Heißenbüttel gewidmeten Projekten.
Hier sind unsere Ansätze nach vorne durchaus offen in der Überzeugung,
daß das Internet, zu seinen Bedingungen genommen, ästhetische
Möglichkeiten eröffnet, die das Buch, der Rundfunk oder der
Film (den Zwitter Fernsehen vernachlässige ich) nicht bieten können,
allen interaktiven Experimenten und Beschwörungen zum Trotz. Sie
bleiben in dem Maße medial beschränkt, in dem das Internet
offen scheint. Guillaume Apollinaire hatte 1918 angesichts des Vordringens
von "cinéma" und "phonographe" die Prognose eines "sichtbare[n]
und hörbare[n] Buch[es] der Zukunft" gestellt, das sich ästhetisch
über die akustische und visuelle Gebrauchsware erheben werde (37).
Nach Film und Radio könnte das Internet in der Verbindung von beidem,
produktiv genutzt, durchaus so etwas wie ein virtuelles "Buch der Zukunft"
aufschlagen, das allen Künsten offensteht für Produktionen und
Resultate, die wir z.T. nur ahnen können. Insofern ist unsere Arbeit
durchaus utopisch. Utopie heißt wörtlich übersetzt "kein
Ort" oder "nirgends". Auch darum habe ich meine kleine Skizze "Keinort
Stuttgart" überschrieben und schließe sie, nicht ohne Ironie,
mit Stuttgart nirgends.
Anmerkungen 1) Stuttgart: Stadtbücherei im Wilhelmspalais 9./10.
September 1994. I Semiotik und Ästhetik, II Ungehorsam der Ideen,
III Wirkungen. Teilnehmer waren u.a. die Professoren Elisabeth Walther-Bense,
Helmut Kreuzer, Reinhard Döhl, die Künstler/ Autoren Eugen
Gomringer, Manfred Esser, Ilse und Pierre Garnier (Paris/Amiens), Bohumila
Grögerová, Josef Hiršal (Prag). |
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(http://www.reinhard-doehl.de).
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