Einführung in das Panel: "Netzautoren auf der Suche nach dem User", Stuttgarter Filmwinter, 09.01.1998
Schreiben und Lesen im Internet von Johannes Auer Kürzlich, bei einer Podiumsdiskussion, fragte eine Dame aus dem Publikum: "Wer will denn schon ein Mörike-Gedicht am Bildschirm lesen?" Ich glaube, wie diese Dame, niemand. Es sei denn, er ist Literaturwissenschaftler, der sich mit Wortfeldanalysen o.ä. befaßt, bei denen ein Computer wichtige Dienste leisten kann. Wenn ich also im Folgenden über Lesen und Schreiben im Internet, d.h. über Literatur in einem neuen Medium, berichte 1, kann es nicht um Fließtexte gehen. Der grüne Heinrich ist im Internet im Volltext abrufbar, aber provokant gefragt, wen juckt's? Vielleicht Studenten, die mit Computerhilfe ein bestimmtes Zitat suchen. Ein "normaler" Leser, der weder Kopfschmerzen noch Augenschäden riskieren will, wird das Buch vorziehen. Wenn wir also über Internet und Literatur - und mit Literatur meine ich im folgenden "nur" künstlerische, gestaltete Texte (als Dokumentliefersystem ist das Internet natürlich schon heute unschätzbar, beispielsweise habe ich, Ehrensache, fast alle Veröffentlichungen, auf die ich mich beziehe, aus dem Internet besorgt und dann ausgedruckt) - wenn wir also über Internet und Literatur nachdenken, wird schnell deutlich, daß es sich um eine neue Form von Literatur (oder Kunst) handeln muß, die die spezifischen Qualitäten und Möglichkeiten des neuen Mediums ästhetisch nutzt. Die gute alte ZEIT hat nun im zweiten Jahr zusammen mit
IBM einen Internetliteraturpreis ausgelobt und Sieger prämiert. Der Mitjuror und Literaturwissenschaftler Hermann Rotermund begründete in seiner Laudatio 3 zur Preisverleihung am 29.10.97 im Literaturhaus Hamburg die Position der Jury und kommt dabei zu einer Charakterisierung der Internetliteratur. Er unterscheidet vier Typen: "1. Gedichte und Erzählungen, die sich von ihrer medialen Umgebung noch in keiner Weise beeindrucken oder beeinflussen lassen. (Also kurz gesagt: traditioneller Fließtext, J. A.). 2. Hypertext-Literatur im Sinne der von Michael Joyce (Begründer und Guru der amerikanischen Hypertext-Literatur, J. A.) und anderen entwickelten Hyperfiction: navigierbarer Text mit einer häufig recht komplexen und häufig nicht-linearen Struktur; aber wohlgemerkt: nur Text. 3. Die in der Tradition der barocken Lyrikmaschinen und der Konkreten Poesie der letzten fünfzig Jahre stehenden Text- und Sprachexperimente, die an den visuellen und akustischen Eigenschaften von Texten mindestens ebensosehr interessiert sind wie an ihren semantischen. 4. Multimediale, scriptgesteuerte Kunstwerke mit Anteilen
von Text, Bild, Animation und Audio, im Idealfall WWW-Gesamtkunstwerke."
Ich möchte an dieser Stelle, zunächst der Rotermundschen Matrix (Fließtext - Hypertext - visueller Text - multimediales Gesamtkunstwerk) folgend, das bisher Gesagte zusammenfassen und präzisieren, bevor ich mich der Autorenkollaboration oder "Tendenz zum Dialog" (letzteres ist der umfassendere Begriff) zuwende.
Hypertexte liest man (noch) mit der Maus. D.h. einzelne Wörter sind im aktuell angezeigten Text i.d.R. farbig - als Sprungpunkt zu einer neuen Textquelle - adressiert, die mit Mausclick aufrufbar ist. Bernd Wingert konstatiert eine mögliche Aufmerksamkeitsverschiebung vom Text zum Sprung, also, so könnte man das wohl nennen, die Gefahr einer hypertextuellen Zapp-Mentalität, die er zurecht als die "zentrifugalen Kräfte" 5 bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert.
Ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder Skript, die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft, neue (technische) Möglichkeiten werden hinzukommen.
Viel wichtiger scheint mir die Tatsache, daß die Schriftsteller/Künstler des neuen Mediums überwiegend mit dem ganz traditionellen Autorbegriff: ein Autor - ein Werk arbeiten. Bezeichnenderweise sind von 161 Beiträgen zum ZEIT Literaturwettbewerb 1997
Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs stellt der Ingenieur
Vannevar Bush, zu jener Zeit wissenschaftlicher Berater des US-amerikanischen
Präsidenten Roosevelt, den Entwurf für eine Maschine vor. 12
Diese Maschine, MEMEX (MEM(ory)-EX(tender)) genannt von der Größe
eines Schreibtisches, sollte alle Schriftdokumente auf der Basis eines
Microfiche-Systems der Menschheit griffbereit halten. Und jeder Lesende
sollte die Dokumente miteinander verknüpfen und weitere Informationen
hinzufügen können. Der so gemeinsam gewobene "Welt-Text" 13
sollte alles Wissen verfüg- und handhabbar machen. Was Vannevar Bush und Bertolt Brecht nach dem jeweiligen
state of the art fordern ist letztlich der Übergang von der passiven
Mediennutzung zur interaktiven Mitautorschaft. Und genau diese Möglichkeit
bietet das Internet zum ersten Mal in der Mediengeschichte. Allerdings bleibt festzuhalten, daß allein aufgrund
der technischen Möglichkeiten der abgeschossene Text eines Individualautors
- und ich übertreibe an dieser Stelle - im Internet als Anachronismus
erscheint. Denn potentiell ist jeder, wie zitiert, im Cyberspace ein Autor.
Und in der Tat, was an täglich produzierten Texten die literarischen Newsgroups des Usenet überschwemmt oder private "literarische" Homepages ziert, ist selten avangardistischer Experimentaltext sondern überwiegend Herz- und Schmerzlyrik oder Betroffenheitsprosa. Von IRCs, in denen in Echtzeit via Tastatur dialogisiert wird, ganz zu schweigen. Also, bei allem Respekt vor der demokratischen Kommunikationsgewalt
des Internets - diese ist wohl kaum ein Indikator für eine Literatur
der Zukunft. Reinhard Döhl konstatiert in seinem Aufsatz "Ansätze
und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst"
im 20. Jahrhundert "eine Tendenz zum Dialog der Künstler und Künste".
Er erinnert "die Forderung einer unpersönlichen Poesie und Kunst"
nach (Lautréamont), "Versuche automatischer Niederschrift" (Lautréamont,
Gertrude Stein, Zürcher Dadaisten), "eine die Kunstarten überschreitende
Tendenz zu dialogischer Kunst" (Schönberg - Kandinsky, Picasso -
Braque, Franz Marc und Else Lasker-Schüler) "aber auch zu Gemeinschaftsarbeiten"
(Arp, Tzara, Serner) "und den Prospekt eines akustischen und visuellen
Buches der Zukunft" (Guilleaume Apollinaire). Folgt man der These Döhls, und ich halte sie für
richtig, dann muß die Tendenz zum Dialog der Künste auch für
das Internet zutreffen, dann werden die von Rotermund gewünschten
WWW-Gesamtkunstwerke entstehen, gerade auch weil die technischen Möglichkeiten
des Internets diese implizieren. Anmerkungen || weiterführende Links
zur Hyperfiction//Netzliteratur 1 Vgl. hierzu auch Reinhard Kaiser: Literarische Spaziergänge im Internet. Bücher und Bibliotheken online, Frankfurt a.M. 1996.
(http://www.weisses-rauschen.de/hero/97-10-laudatio.html). Ebenfalls abgedruckt in der ZEIT, Nr. 41 vom 3. Oktober 1997, S. 78, unter dem Titel "Warten auf den Online-Ulysses".
Walter Benjamin, dessen Radioexperimete und theoretischen Überlegungen sicherlich auch in diesen Kontext gehören würden, möchte ich an dieser Stelle nicht berücksichten. Vgl aber hierzu: Reinhard Döhl: Walter Benjamins Rundfunkarbeit (http://www.stuttgarter-schule.de/benjamin.htm) .
Links zur Hyperfiction//Netzliteratur netzliteratur.net
- Netzliteraturplattform |
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