Odysseen im Schreibraum
Utopien, Abgründe und Möglichkeiten des Schreibens
im Netz.
... aus der Werkstatt zweier kollaborativer
Schreibprojekte
von Heiko Idensen
log.in
Im Gegensatz zu den rechtlichen und kulturpolitischen
Auseinandersetzungen um Copyright und Distributionsrechte im musikalischen
Bereich, ...
cut. blöder anfang!
Lieber direkt einsteigen in die Praxis gegenwärtig laufender
Projekte. Die Hintergrund-Theorien und netzpolitischen Interventionen
fallen dann nebenbei ab ...
Trotz aller Experimente im Bereich der Medien- und Netz-Kunst bzw.
kommunikationsorientierter Kunst-Projekte, trotz der Versuche, durch
mediale Schaltungen und Vernetzungen Gruppen, Populationen, Kollektive,
Vielheiten zum Sprechen zu bringen, anstatt isolierte Werke und Texte
einzelner Subjekte zu präsentieren, trotz dezidiert demokratischer
Gebrauchsweisen neuer Medien, trotz Gruppenarbeit in neueren Ausbildungs-Szenarien
und kollaborativer Strukturen in weiten Bereichen von Natur- und Technik-Wissenschaften
und trotz community-basierter Kommunikationsformen in mailing-lists,
Webforen ...
... basiert der Diskurs der Kulturwissenschaften noch immer hauptsächlich
auf Aussagen und Texten, die aus ganz klassischen Autorenfunktionen
generiert und in der Folge dann auch unter dem Namen eben jener Autoren
kommuniziert werden.
Das ist umso verwunderlicher, als gerade die Kultur- und Geisteswissenschaften
es eigentlich besser wissen müssten, werden sie doch seit den
60er Jahren permanent und nachhaltig infiziert vom einem Virus, das
das Ende des Autors, des Buches, des Subjekts, ja der hierarchischen
Baumstrukturen genealogischer Macht-Verhältnisse überhaupt
verheißt.
Aber weder Kommune-Erfahrungen, Künstlergruppen, Filmkollektive,
Schreib- und Therapiegruppen, weder Mitbestimmungsinitiativen, kollegial
geführte Unternehmen, Universitäten, weder Schriftstellerkollektive,
noch auf Gruppenarbeit basierende Arbeitsorganisationen (etwa in der
Autoindustrie), weder Gruppenimproviationen im freien Theater, noch
chorische mehrstimmige Inszenierungen, ganz zu schweigen von den Team-basierten
Arbeits- und Organisationsformen unzählicher start-ups in den
Informationstechnologien, dem Kommunikationssektor und den klassischen
kreativen Produktions-Bereichen (etwa der Werbung, Film- und TV-Produktion)
...
... haben ihm etwas anhaben können - dem Autor.
Animositäten des Rest-Bildungsbürgertums oder des absteigenden
Mittelstands, Sehnsucht nach Ruhm und Erfolg können ja wohl kauf
dahinter stecken.
Totgesagte leben länger - und es sind ja auch immer wieder berühmte
Autoren gewesen, die sich mit eben jenen Theorien vom Ende der Autorschaft
einen Namen als Autor gemacht haben.
Was tun?
Man könnte/müsste einerseits bessere community-software,
bessere Tools für Text-Kollaborationen entwickeln bzw. bestehende
Systeme auf breiterer Basis installieren und an laufende Forschungs-
und Publikations-Projekte anbinden, man könnte eine Dissertation
über "kollaborative Text- und Theoriearbeit in digitalen Diskursen"
schreiben und dabei in der Form schon einmal entsprechende dynamische
Text-Operationen und -Flüsse simulieren ...
... aber frei nach der Devise des CREW-Kollektivs
ist es besser, etwas direkt in der Praxis auszuprobieren, als nur
darüber zu schreiben:
Im Science Fiction wird seltsamerweise kaum geschrieben. Das
scheint in der Zukunft nicht mehr nötig zu sein. Es tauchen sprachliche
Viren als Kommunikationswaffen auf, immer wieder direkte Anschlüsse
an diverse Körperschnittstellen, nicht zu übersehen die
auch überall anzutreffenden Monitordisplays, die aber größtenteils
für visuelle Kontrollfunktionen benutzt werden, dann und wann
müssen Kennungen eingegeben werden, abgeschnittenen Daumen fingieren
als kleine Hackerhilfe zum Eindringen in Gebäude mit intelligenten
Türen, die Fingerabdrücke einscannen, verschiedenste Arten
der Seherweiterungen, Augenaufsätze und -adapter verhelfen den
Usern zu einer erweiterten Weltsicht, Literatur wird von Automaten
produziert, Lesen ist verboten, Bücher werden auswendig gelernt,
Hacker loggen sich ein in die labyrinthischen Datenbanken multinationaler
Multimedia- und Netzwerkkonzerne, die User vor den Monitoren stellen
fest, dass sie eigentlich auch nichts weiter als eine Software-Routine
im Arbeitsspeicher eines übergeordneten Computersystems sind,
ab und zu wird eine Abwandlung des Turing-Spiels gespielt, philosophische
Fragen werden an überdimensionale Elektronengehirne abgeschickt,
ständig klingeln Handies, sogar in Krimiserien wird im Internet
nach Täterprofilen recherchiert, emails für den Kommissar,
immerhin existiert ein elektronischer Reiseführer durch die Galaxis,
in philosophischen Mailinglisten wird darüber spekuliert, was
wäre wenn z.B. Nietzsche ein Modem gehabt hätte, auch James
Joyce, Roland Barthes, Michel Foucault, Deleuze&Guattari wird
eine virtuelle Adresse in den Gefilden der Netzkultur zugewiesen ...
... aber geschrieben wird im Science Fiction nicht.
Die Bertelsmann-Szenographen haben es für die Expo
2000 in ihren unerträglichen IT-Werbefilmen auf den Punkt gebracht:
Ein armer bosnischer Junge gibt ins Netzwerk die Frage ein "Wer bin
ich, woher komme ich?". Die Botschaft geht um die Welt, schwirrt durch
die Netze. Das Medium ist die Massage. Von überall antworten die
verschiedensten Menschen. D.h. sie antworten nicht im strengen Sinn
die Wortes, sondern das Netz selbst scheint die Antwort zu sein. (vgl.
das imaginäre Hack der " Planets
of Vision")
Und die Wissenschaftsfiktionen? Das, was man vielleicht
zu Unrecht das Imaginäre des Cyberspaces nennen können, das
Imaginäre der Medien?
log.in: Snow Crash. Simuliert einen kompletten
Systemabsturz, ein mentales Virus, auf so grundlegender kultureller
Ebene, dass gerade die Routinen des Computers infiziert werden, die
die Tastatur und den Elektrodenstrahl des Monitors kontrollieren. Derart
abgelenkt schweift er in ziellosen Bahnen über den Screen und verwandelt
jegliche Datenkonstellation in wirbelndes Schneegestöber. Schöner
Absturz. Das Material wird recycelt und aus dieser Unordnung des Datensalates
heraus können sich interessante Schreibaktionen entwickeln:
"Er greift in die Tasche und zieht eine Hypercard heraus.
Sie sieht aus wie eine Visitenkarte. Die Hypercard ist eine Art Avatar.
Sie dient im Metaversum dazu, eine Gruppe von Daten zu repräsentieren.
Dabei kann es sich um Text, Audio, Video, ein Standbild handeln oder
um jede andere Information, die digitalisiert werden kann. [...]
Eine Hypercard kann praktisch eine unendliche Anzahl von Informationen
enthalten. [...] auf dieser Hypercard könnten sämtliche
Bücher der Kongreßbibliothek gespeichert sein oder jede Folge
von Hawai Fünf - Null, die je gedreht wurde oder sämtliche
Aufnahmen von Jimi Hendrix oder die Volkszählungsergebnisse von
1950. Oder - wahrscheinlicher - eine große Vielfalt gemeiner Computerviren.
[...](die das eigene Gehirn als auch den eigenen Computer gleichermaßen
versauen')." (Neal Stephenson: Snow Crash, München 1994,
OT: New York 1992, S. 55-56)
Das klingt nach einen Cut-Up aus dem HyperCard-Handbuch
(einem der ersten massenhaft verbreiteten Hypertext-Autorensysteme,
das in den 80er Jahren kostenlos von Apple verbreitet wurde und zu einem
Pool von Public-Domain-Literatur-Hypertexten geführt hat - bis
auf wenige Ausnahmen hauptsächlich im amerikanischen Bereich) oder
einer Neuauflage des Knowledge-Navigators von Apple, der den
Grund-Mythos der so genannten Informationsgesellschaft in Szene setzt:
Ein Wissenschaftler wird von einem smarten Informationsagenten mit dem
allmorgendlichen alltäglichen Informationsterror versorgt: Katastrophen
aus aller Welt, Spiel-Ergebnisse des Lieblings-Football-Vereins, private
Korrespondenzen und Anzüglichkeiten, eine befreundete Wissenschaftlerin
überspielt Daten aus einem Referat, dass der universal User gleich
kopiert und in ein Vorlesungsmanuskript einpastet. Das Interface soll
intuitiv sein. Alle Aktionen werden direkt mit einem leichten Antippen
des Zeigefingers ausgelöst. Der Zeitmanager mahnt, und während
der User duscht, vollendet der Wissens-Agent die gleich benötigte
Vorlesung. ... Aber wie immer ist trotz avancierten Medieneinsatzes
die Zeit knapp und auch die Aufmerksamkeitsressourcen sind begrenzt.
Während der smarte Wissenschaftler schon auf dem Weg zu seiner
Vorlesung ist, läuft eine private Massage als Endlosschleife im
Abspann des Werbefilms: "Vergiss den Geburtstag deiner Mutter nicht!
Vergiss den Geburtstag deiner Mutter nicht!"
Ja, Ja, diese Werbefilme der IT-Konzerne, sie liegen in
dem, was sie zum Massenverkauf und zur Benutzung frei geben und auf
den Markt werfen, immer haarscharf daneben und schaffen es doch immer
wieder, einem fast das Gefühl zu vermitteln, diese aufbereiteten
Technik-Visionen seien genau das, was man sich schon immer gewünscht
hat.
Aber was man wirklich braucht, um gegen Infotainment und
Information-Overload ankämpfen zu können, ist ein brauchbarer
Informations-Agent.
"Der Bibliotheksdaemon sieht wie ein lebenswerter bärtiger
Mann Mitte Fünfzig aus, mit silbernem Haar und hellblauen Augen,
der einen Pullover mit V-Ausschnitt über einem Baumwollhemd und
dazu eine grob gewobene Krawatte trägt. Die Krawatte ist gelockert,
die Hemdsärmel hochgekrempelt. Obwohl er nur ein Stück Software
ist, hat er allen Anlaß, fröhlich zu sein; er kann sich so
behende wie eine Spinne durch die fast unvorstellbaren Informationsmengen
der Bibliothek bewegen, die durch ein weites Netz von Querverweisen
krabbelt. [...] das einzige, was er nicht kann, ist denken"
(Neal Stephenson: Snow Crash, München 1994, OT: New York 1992,
S.128).
Aber intelligente Such- und Filterroutinen sind auch schon
ganz nützlich - als Vorbereitung oder Vorstufe zum Denken vielleicht
...
"Ich besitze die einprogrammierte Fähigkeit, aus
Erfahrungen zu lernen. [...] Ich wurde nicht von einem professionellen
Hacker programmiert, sondern von einem Forscher der Kongreßbibliothek,
der sich das Programmieren selbst beigebracht hat [...] Er hatte
sich dem allgemeinen Problem gewidmet, daß man sich durch gewaltige
Mengen irrelevanter Details durcharbeiten muß, um wichtige Juwelen
an Informationen zu finden" (Snow Crash, S. 130).
Das zentrale Problem des Suchen, Findens und Selektierens
in komplexen Datenbeständen (seien es Bibliotheken, Datenbanken
oder schlichte sequentielle Files) stellt sich natürlich auch besonders
in kollaborativen Schreibprojekten, bei denen noch erschwerend hinzukommt,
dass die Daten hier auch noch von verschiedenen Nutzern nach durchaus
sehr unterschiedlichen Systematiken und Modellen abgelegt und modelliert
werden.
Die erste Frage für Neueinsteiger ist oft die nach
der Größe des schon kumulierten Datenbestandes.
"Wie viele Hypercards sind hier drinnen?"
"Zehntausendvierhundertdreiundsechzig", sagte der Bibliothekar.
"Ich habe keine Zeit, sie alle anzusehen", sagt Hiro.
"Können Sie mir einen Überblick darüber verschaffen [...]?"
(ebd., S. 248)
Der Informationsassistent kann neben der Anzahl lediglich
die Titel der einzelnen Informationseinheiten vorlesen. Auf die Frage
nach der Interpretation einzelner Sätze und nach der Gesamtstrategie
und -intention eines Textes, nach dem sprichwörtlichen Zusammenhang'
kommt als Antwortfloskel immer wieder: "Es gibt weitverzweigte Zusammenhänge.
Sie zusammenzufassen würde Kreativität und Urteilskraft erfordern.
Als mechanische Einheit besitze ich beides nicht" (ebd., S. 248).
Wer oder was schreibt also auf welche Art und Weise in kollaborativen
Schreibprojekten...
und auf welche Art und Weise arbeitet das "Schreibzeug" mit an den Online-Gedanken?
Eine Methode besteht darin, das "lost in hyperspace"-Syndrom
des Gesamt-Webs weiterzuschreiben, ästhetisch zu überhöhen
und nicht-intentionale zufällige Strukturen zum Prinzip zu erklären:
"Die Imaginäre Bibliothek ist ein Werkzeug des Verirrens",
sie soll die Leser von Ihrem Weg abbringen, zu Irrungen, Wirrungen,
Umwegen, Sub-Versionen verführen. Extreme Linkhäufigkeit
(ca. 10-30 Links pro Bildschirm-Seite) soll sprunghaftes Lesen erzeugen
und dem Leser bei der Entwicklung eigener Such- und Verknüpfungsstrategien
und Pfade helfen. (In der Offline-Installation haben wir Engführungen
zu den "offenen Büchern" zu erzeugen versucht. Obwohl die Animation
zum Mitschreiben kein Selbstzweck ist ...)
Das Feedback zur und in der Imaginären Bibliothek (nur
offline möglich in den verschiedensten Installationen - etwa
auf der Ars Electronica 1989 oder dem EMAF 1990) besteht hauptsächlich
aus kleinen Assoziationen, Ergänzungen, spontanen Einfällen
zu dem von uns inszenierten Imaginationsraum Bibliothek. Auch Schreibspiele
(Endlosreime und rekursive Sätze) werden ausprobiert und kombinatorische
Text-Generierungen (eine Sonettmaschine nach Queneau oder mesostichische
Wortgenerierungen à la Cage) durchgeführt. Bei einer durchschnittlichen
Verweildauer von 5 bis 15 Minuten werden allerdings die von uns auch
intendierten komplexeren Mitschreibemöglichkeiten (Romananfänge
weiterschreiben oder das Herstellen von Text-Cut-ups auf der Basis
eines Grundbestands von Science-Fiction Zitaten) wenig benutzt.
Nach weiteren schlechten Erfahrungen mit linearen Weiterschreibemöglichkeiten
(etwa in dem historischen Flop "Schreiben Sie ein Buch mit Herbert
Rosendorfer", das in Kooperation mit dem Goethe-Institut Luxemburg
durchgeführt wurde - Dokumentation unter http://www.hyperdis.de/txt/alte/goethe/)
wurde uns klar, dass das INTERFACE, d.h. die Möglichkeiten der
Textprozessierung, des direkten Online-Schreibens und vor allem des
Verknüpfens von kleinen Texteinheiten, von entscheidender Bedeutung
für die Art und Weise der Beteiligung der UserInnen sind - neben
den konzeptuellen ästhetischen Ansätzen, einer langfristigen
Betreuung und den sozialen Kontexten, in denen die jeweiligen Projekte
eingebettet sind.
In diesem Zusammenhang sind die Erfahrungen mit dem HYPERKNAST
interessant:
Als Replik auf die ersten Zensurmaßnahmen im Internet wurde
eine krasse ironische Benutzermetapher gewählt, die als Weiterführung
des amerikanischen Vorbilds des "Hypertext-Hotels" oder eben der doch
sehr literarischen Bibliotheksmetapher eher mit netzpolitischen und
netzkulturellen Strömungen interagieren konnte und zudem Bezug
nimmt auf das Foucaultsche Überwachungsmodell des PANOPTIKONS:
des Architekturmodells für Gefängnisse, Fabriken, Gesamtschulen
...
Auch thematisch ereignet sich hier einiges: Selbstbeschreibungen
der monadenhaften Situation vor dem Internet-Monitor, gepaart mit
der Sehnsucht nach weltkulturellen universellen Kommunikations- und
Vernetzungsutopien, Szenen aus Science-Fiction-Erzählungen ...
aber auch Materialien und Beschreibungen konkreter Knast-Situationen,
Texte zur Isolationshaft ...
Unmittelbar daran anschießend, auf derselben Software aufgesetzt,
läuft seit Sommer 2000 der kollaborative Science-Fiction "Odysseen
im Netzraum":
Hier haben wir - neben umfangreichen Vorrecherchen und einer dezidierten
Auswahl von Textmaterialien für mögliche Cut & Paste-Operationen
- das Hauptaugenmerk auf das Herstellen von Schnittstellen
gelegt:
- Schnittstellen zu anderen Schreib-Oberflächen und Online-Text-Generatoren
(etwa dem Assoziationsblaster, Florian Cramers Text-Maschinen, Cut-Up-Generatoren
oder auch Übersetzungsmaschinen),
- Schnittstellen zu thematischen Materialien (eingescannte Text-Materialien,
Suchmaschinen),
- Schnittstellen zu sozialen Kontexten, in denen das Projekt vorgestellt
wurde, teilweise auch Workshops und Schreibwerkstätten durchgeführt
wurden (log.in, Buchmaschinen, interfiction),
- Schnittstellen zu online communities durch das Versenden von newslettern
mit den neuesten Fortsetzungen und der Veröffentlichung von offenen
Stellen zum Weiterschreiben (Science-Fiction Mailing-Listen, rohrpost
und Mailing-List Netzliteratur, sowie an die Mitschreibenden, insofern
sie ihre email angegeben haben, vgl. www.hyperdis.de/txt/schnittstellen.html).
Auf der Schnittstellen-Seite (www.hyperdis.de/hyperfiction/gvoon/)
sind all diese Links und die Verweise auf die entsprechenden Arbeitsseiten
versammelt, wobei im linken Fenster jeweils die CUT-Materialien erscheinen
- während auf der rechten Seite die PASTE-Möglichkeiten
erscheinen, eben die offenen Stellen in der vernetzten Struktur, an
denen weitergeschrieben werden kann.
Das recht schlichte GVOON-Interface wurde somit durch den Einsatz
einfacher Frame-Strukturen um die oben genannten Schnittstellen erweitert
und somit den jeweiligen Anforderungen angepasst. Trotz der Wichtigkeit
von Online-Aktivitäten und den Verbreitungsmöglichkeiten
des Netzes hat sich gezeigt, dass die lokalen Aktivitäten gerade
für die Herausbildung etwas tiefer gehender narrativer Strukturen
eine sehr wichtige Rolle spielen. Auch aktuelle Ereignisse und Diskussionen
fließen immer wieder in die ODYSSEEN ein (etwa die EXPO-Kritik
/ Parodie oder auch Feuilleton-Kriege - mit Sloterdijk & Co).
Neben dieser spielerischen Geschichten erzählenden Netz-Kollaboration
läuft die Arbeit an einer kollaborativen
Enzyklopädie, eine Fortsetzung von Forschungen zu den Interfaces,
Tools und Oberflächen kulturwissenschaftlicher Diskurstechniken
im Netz.
Interaktion mit der Systemtheorie: Schreiben in nic-las
Das Wissenschaftsverständnis hat sich angesichts
der postmodernen Informationstechnologien von einem passiven deskriptiven
Paradigma (Relation zur Natur, Repräsentation von Fakten, Entdeckungen
von Geheimnissen' durch geniale Einzelwissenschaftler) zu einem
konstruktivistischen Ansatz hin entwickelt: Hier stehen die Prozesse
und Operationen im Vordergrund, durch die Erkenntnisse überhaupt
erst erzeugt werden. Diese Prozesse und Operationen sind von vornherein
als ein kollaboratives Netzwerk angelegt; komplexe Forschungen können
nur noch im Teamwork [ 1]
vollzogen werden.
Im Forschungsprojekt "Netz/Werk/Kultur/Techniken: kulturwissenschaftliche
Wissensproduktion in Netzwerken" [2]
suchte ich zusammen mit Studierenden der Kulturwissenschaften an der
Universität Hildesheim nach Möglichkeiten, Hypermedia und
Netzwerke nicht nur zu rezipieren (=lesen), sondern kulturkritische
hypermediale Diskurse selbst zu initiieren, zu entwerfen, zu gestalten
(=schreiben) und in die kommunikativen Strukturen der Netzwerke zurückzukoppeln
- d.h. Eingriffe in die Felder hypermedialer Diskurstechniken vorzunehmen.
Der oszillierende hybride Status von Netz-Texten im Spannungsfeld
von Lese- und Schreiboperationen wurde zum zentralen Kulminationspunkt
unserer Projektarbeit: Charakteristisch für Online-Texte ist
das kollaborative Entwerfen und Strukturieren von Ideen, die Beschleunigung
von Austausch- und Verteilungsprozessen, die Öffnung von Textstrukturen:
Die Erstellung und Überarbeitung von Texten sowie ihre Einbindung
in andere Kontexte vollziehen sich nicht mehr im Kopf einzelner Autoren,
sondern digitale Textnetzwerke konfigurieren sich von vornherein im
öffentlichen Raum. Jeder Teilnehmer an digitalen Diskursen ist
potentiell gleichermaßen Sender und Empfänger, Schreiber
und Leser, Produzent und Rezipient.
In einer Verschränkung von inhaltlicher Recherche und Aufbereitung
aller im Forschungsprojekt angefallenen Materialien und Dokumente
arbeiten wir gemeinsam mit Kooperationspartnern an der Optimierung
und Adaption einer offenen Informationslandschaft nic-las:
[3] :)
Basierend auf der Systemtheorie von Niklas Luhmann liegen die Basisoperationen
in vielfältigen nicht-linearen Verknüpfungsmöglichkeiten
von Textstellen und Zitaten (automatische Verknüpfungen nach
keywords ebenso wie ein differenziertes Meta-Auszeichnungssystem etwa
für Personen- und Sachregister oder Zuordnungen und Zugriffsrechte
für verschiedene AutorInnen) und in dynamischen diskursiven und
kommunikativen Operationen (wie intuitive und assoziative Annotation
und Kommentierung). Gerade diese Verbindung von hierarchischen und
rhizomatisch-chaotischen Strukturen ermöglicht eine intertextuelle
Praxis des Schreibens mit Synergieeffekten zwischen Lesen und Schreiben
wie sie in den emphatischen Debatten um den Text-Begriff in den 60er
Jahren und dem Poststrukturalismus theoretisch entwickelt wurde. Die
große Flexibilität im Interface-Design liegt vor allem
darin begründet, dass für die Online-Schreib-, Kommunikations-
und Archivprozesse keine neuen Metaphern oder Datenstrukturen vorgegeben
werden, sondern dass jede Aktivität des Benutzers in der einfachsten
möglichen Aktion besteht: im Anlegen einer ,Unterscheidung'.[4]
Verschiedene AutorInnen schreiben nicht nur zeitversetzt am selben
Dokument, tauschen nicht nur ihre Zettelkästen, Zitatdatenbanken
oder Referenzen aus oder annotieren, kommentieren und ergänzen
feststehende Texteinheiten, sondern entwerfen verschiedene Perspektiven,
konstruieren Ein-, Aus- und Übergänge zwischen den Texten
und re- und dekontextualisieren ihre Eingaben dabei permanent: Der
Text wird zu einer Oberfläche, zu einer Schnittstelle
für die Begegnung von Leser und Schreiber, Anbieter und Nutzer,
Sender und Empfänger.
Ob solche Versuche wirklich längerfristig und nachhaltig neue
Diskursformen herausbilden helfen, vielleicht sogar helfen, die von
Hypertext-Theoretikern immer wieder geforderte (und von den Programmentwicklern
bisher nie eingelöste) Hybridisierung zwischen Form und Inhalt,
zwischen Text und Kontext, zwischen Produktion und Rezeption, zwischen
Autorfiktionen und Leserimaginationen zu bearbeiten und zu managen
- das wird die Zukunft gezeigt haben werden.
immer interagieren: brechen, dekonstruieren, programmieren?
Der epistemologische Bruch, der sich angesichts
digitaler Interaktionsformen mit Texten, Bildern und Tönen in
den kulturellen Wissenssystemen vollzieht, liegt weniger in den Interaktionsformen
als solchen begründet - denn Texte wurden und werden schon immer
mittels der jeweiligen medialen Aufschreibesysteme traktiert, umgeschrieben,
zerschnitten und wieder neu zusammengeklebt [ 5]
-, als vielmehr in den Ausformungen dieser Interaktionsformen. D.h.
die Art und Weise wie sich diese Interaktionen im Netzwerk digitaler
Diskurse vollziehen, ihre freie Gestalt- und Verfügbarkeit sind
der springende Punkt. Die Unterscheidung zwischen Schreiben und Lesen,
genauer gesagt zwischen den Akten des Schreibens und Lesens, ist in
digitalen Umgebungen zunächst einmal medial verschoben: Wir können
im Netz direkt auf jede Seite schreiben, ohne noch irgendwelche Werkzeuge
wie Schere, Bleistift, Druckerpresse hinzuziehen zu müssen, weil
eben genau diese Werkzeuge als Tools und Programme, als Client Plug-Ins,
Server-Programme in derselben Medienkonfiguration ausführbar
sind, die auch für das Anzeigen der Seite verantwortlich ist.
Es vollzieht sich also nicht die Begegnung des Regenschirms mit der
Nähmaschine auf dem Bildschirm der Worte, sondern es handelt
sich um ein Verschalten der (virtuellen) Lesemaschinen und anderer
konzeptueller Aufforderungen als Angebot zur Mitarbeit der LeserInnen
mittels neuer ,Schreibmaschinen', ,Druckerpressen' und Aufschreibesysteme. [ 6]
Der vom Dekonstruktivismus endlos durchkonjugierte Bruch, dass
alle Texte aus anderen Texten zusammengeschnitten sind, dass in
jedem Buch ein weiteres steckt, das heraus will, dass die Texte
nicht bei den Lesern ankommen, sondern sich als aktive Rezeptionsprozesse
genau um die Leerstellen der Texte, Bücher und Diskurse herum
neu konstituieren, ist jetzt in den digitalen Diskursen universell
in den Code selbst eingeschrieben:
Crossreadings auf Serverebene,[7]
Cut-Up-Maschinen zwischen Online-Zeitschriften, postmoderne Thesis-Generatoren,
Sonettmaschinen, universelle Annotationstools, kollaborative Mitschreibeprojekte
[8] feiern auf verschiedenen
Levels einen interkulturellen Textbegriff, die ältere offene
Textverarbeitungen aus literarischen Experimenten [9]
und ästhetisch-sozialen Aufbruchsbewegungen wie Surrealismus
und Situationismus als allgemeine Nutzerparadigmen wieder auferstehen
lassen. Die in der Literaturgeschichte vielfach wieder aufgenommene
Parole Lautréamonts: "Die Poesie soll von allem gemacht werden,
nicht von einem", hallt jetzt als vielfach gebrochenes Echo aus
den Untiefen des Netzes wieder:
Die Texte, Index-Systeme, Meta-Informationen, Verknüpfungsstrukturen
zwischen den Texten liegen als open source' im Netz bereit.
Hören wir endlich auf, zu lesen und zu schreiben und die Geschichte
immer wieder zu wiederholen, und fangen wir an, gemeinsam zu Schreib/Lesern
zu werden, d.h. unsere kulturellen, mentalen, diskursiven Wissenssysteme
zu verknüpfen, unsere Lieblingsstellen und Lektüre-Momente,
Lesezeichen, Randbemerkungen, Fußnoten auszutauschen und das
Internet als einen interkulturellen intertextuellen Diskursraum
zu benutzen.
Nicht mailbox, ebook, publishing on demand oder Hypertext sind
revolutionär, sondern der Gebrauch, den wir davon machen!
Sicherlich wäre es verfehlt, diese Gebrauchsweisen von Texten
als Interface für kulturelle, soziale und ökonomische
Datenströme, Austauschprozesse und Kommunikationsweisen schon
selbst für eine utopische Verwirklichung der Träume und
Konzepte von offenen Kunstwerken, für eine ,Verwirklichung'
ästhetischer Utopien zu halten. Doch stellen sie sicherlich
Momente der Öffnung dar, durch die hindurch Textrevolutionen
und Utopien der verschiedensten künstlerischen und sozialen
Bewegungen neue Antriebe bekommen und vor allem neue Modelle und
Strukturen außerhalb rein ästhetischer oder literarischer
Kontexte praktiziert werden können. Durch solche Synergieeffekte
nehmen Prozesse, die vielleicht als Text-Kollaboration im Netz begonnen
haben, wiederum Einfluss auf die Gestaltung' gesellschaftlicher
Felder (virtuelle Arbeit, virtuelles Geld, virtuelle Wissenschaft,
direkte Demokratie ...).[10]
... denn die Texte im Netz sind niemals geschlossen, finden kein
definitives Ende [11]
, keinen Schlußpunkt wie dieser Text ... [12]
links
http://www.hyperdis.de/enzyklopaedie/
Odysseen des Wissens: vernetzte multilineare wissenschaftliche Schreibweisen
in digitalen Diskursen; work in progress gemeinschaftlicher Recherche-,
Schreib-, Editier- und Kommentierungsprozesse an einer Enzyklopädie,
die von WissenschafterInnen und KünstlerInnen aus den verschiedensten
Bereichen zusammengeschrieben wird.
http://www.hyperfiction.de
Im gemeinschaftlichen Science/Fiction "Odysseen im Netzraum" werden
(ausgehend von verschiedenen Anfängen, Strängen, verschiedenen
Ebenen einer Grunderzählung aus verschiedenen Materialien/Zitaten
...) weit verzweigte Geschichten zusammengeschrieben, -getragen
und -gesammelt, in denen die Utopien, Szenarien, Wünsche und
Erfahrungen des "Lebens im und um das Netz herum" von den BenutzerInnen
direkt einfließen: an jeder Stelle dieses stetig wachsenden
"Textbaumes" ("treefiction") kann eingehakt, weitergeschrieben,
eine Umleitung eingeschlagen, können Kommentare, eigene Ideen
... eingefügt ... werden - auch eigene Erzählstränge
können begonnen werden ...
http://www.hyperdis.de/pool/
Die "Imaginäre Bibliothek" (ein vernetzter Hypertext, in dem
sich die LeserInnen wie in einer labyrinthischen Bibliothek verirren
können ...), nebst Materialien zum Projekt "PooL-Processing"
(mit Matthias Krohn), darunter Texte, die die UserInnen innnerhalb
der Installation der "Imaginären Bibliothek" in den Jahren
1990-1994 wirklich in das System zurückgekoppelt haben:
http://www.hyperdis.de/netkult
"Ästhetische Strategien in Multimedia und Netzwerken" Texte,
Materialien und Links zu kollaborativen Arbeitsoberflächen
im Kontext eines Forschungsprojekts zur Netzwerkkultur und zur kulturwissenschaftlichen
Wissensproduktion in Netzwerken.
http://www.hyperdis.de/txt/
Texte, Interviews, Artikel, Vorträge von Hei&co (Idensen),
z.B. auch die Mitschriften von Workshops und Tagungen der letzten
Zeit, u.a. auch des Forums "Ästhetik Digitaler Literatur" ("poetics
of digital text") vom 20.-21. Oktober 2000 in Kassel, sowie Interviews,
Pressematerialien und Feedback. Eine ausführliche Bio-Bibliographie
findet sich im netz als pdf-datei (adobe acrobat) http://www.hyperdis.de/txt/heiko_idensen.pdf.
Anmerkungen
[01] Ein Blick
etwa in physikalische Forschungsliteratur zeigt Teams von mehr als
2000 WissenschaftlerInnen, die über Jahrzehnte zusammenarbeiten.
Selbst bei einer Dissertation in einem solchen Arbeitskontext tauchen
dann etwa die Namen von über 500 Mitautoren' (in alphabetischer
Reihenfolge) auf, so dass - trotz der restriktiven Regeln des zunftartig
organisierten Wissenschaftsbetriebs - der einzelne Forscher ganz deutlich
als Knoten in einem Geflecht von Querbeziehungen positioniert wird.
Der Konzeption des WWW-Standards am CERN lag u.a. der Wunsch und die
Notwendigkeit der Entwicklung eines einfachen Austauschformats für
wissenschaftliche Texte im Netz zugrunde.
http://hoshi.cic.sfu.ca/~guay/Paradigm/History.html
gibt einen sehr fundierten Überblick über die historischen
Entwicklungen des Web-Konzepts aus den verschiedensten Quellen - (Bush,
Nelson, Engelbart, CERN) nebst medientheoretischen Hintergrund (Mc
Luhan, Landow). Siehe auch: Tim Berners-Lee (Ted Nelson and Xanadu),
http://www.w3.org/pub/WWW/Xanadu.htm
[02] Alle Dokumente und
Materialien des Projekts sind archiviert unter: http://www.hyperdis.de/netkult/
[03] Die Entwickler bezeichnen
nic-las als autopoetische Informationslandschaft': Das Akronym
nic-las steht für nowledge integrating communication-based labelling
and access system. http://www.nic-las.com/enzyklopaedie/
[04] Diese Unterscheidungen
strukturieren schon während der Texteingabe den Datenbestand
dynamisch und schreiben somit jede Veränderung in einem kleinen
Detail in den Gesamtkontext ein und differenzieren so die Wissensstrukturen
immer weiter aus. Personen-, Themen- und Zeitreferenzen vernetzen
jede Texteinheit innerhalb verschiedener Kontexte.
[05] Die Imaginäre
Bibliothek zeigt diese Prozesse auf: http://www.hyperdis.de/pool/
[06] Aufschreibesysteme
im erweiterten Kittlerschen Verständnis als kulturell-mediale Diskursnetzwerke.
[07] Das CaterCapillar-Network:
http://student.merz-akademie.de/catercapillar/
ermöglicht eine automatische Indizierung und Verknüpfung von
Dateien auf verschiedenen Servern, eine Art Fortsetzung des Assoziationsblasters
auf der Ebene der Netztopologien.
[08] Vgl. http://www.hyperdis.de.
[09] Solche Proto-Hypertexte
sind im Detail beschrieben in: Idensen, Heiko, "Die Poesie soll von
allen gemacht werden! Von literarischen Hypertexten zu virtuellen Schreibräumen
der Netzwerkkultur", in: Literatur im Informationszeitalter, hg. v.
Friedrich A. Kittler u. Dirk Matejovski, Frankfurt a. M. 1996, S. 143-184,
online unter: http://www.hyperdis.de/txt/alte/poesie.htm
[10] So ist es auch kein
Zufall, dass gerade die Macher des Assoziationsblasters sich engagieren
für die "Freiheit von Links" im Netz und zur gemeinschaftlichen
Durchsetzung ihrer Forderungen Instrumente für "Online-Demonstrationen"
(http://www.online-demonstration.org/)
entwickelt haben. Auch die längst fällige Ausdehnung der Ansätze
freier Software auf den Inhalt der im Netzwerk zirkulierenden Dokumente
("open content") verweist auf die Entwicklung vielfacher Anschlüsse
zwischen Initiativen und Projekten aus den verschiedensten Bereichen
(etwa im Projekt Open Theory: http://www.opentheory.org/ oder Rolux:
http://rolux.org/) Vgl. Volker Grassmuck: Die Wissensalmende: http://mikro.org/Events/OS/interface5/wissens-almende.html.
- So nähern sich im Netz auch ästhetisch-künstlerische
und netzpolitische Arbeit einander an.
[11] ... verkünden
auch nicht einmal das "Ende des Buches oder der Literatur" wie die gängige
Geste in avantgardistischen Kunstproduktionen, etwa, wenn am Ende von
Godard-Filmen emphatisch das "Ende des Kinos" verkündet wird ...
[12] ... der im Netz
kritisiert, ergänzt, weitergeführt, kommentiert ... werden
kann unter: http://www.hyperdis.de/txt/feedback
|