Creamus, ergo sumus
Ansätze zu einer Netz-Ästhetik von Christiane Heibach
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Bewegung. Kunst und ästhetisches Denken wurden in ihrer Entwicklung wesentlich durch das Aufkommen der neuen Medien Photographie und Film geprägt, deren mimetisch größeres Vermögen die Abbildung einer feststehenden Wirklichkeit als primäre Aufgabe ästhetischen Ausdrucks in Frage stellte. Gleichzeitig standen Schriftsteller und Künstler vor dem Problem, der zunehmenden Schnelligkeit des Alltags mit den durch den abgeschlossenen Werkcharakter letztlich statischen, traditionellen ästhetischen Konzepten zu begegnen. Die Reflexion über diese Fragen führte schließlich auch zu einem immer stärker werdenden selbstreferentiellen Charakter von Kunst und Literatur. Resultat dieser fundamentalen Sinnkrise war eine zunehmende Tendenz, die Abgeschlossenheit des Werkes zugunsten einer Öffnung und Prozeduralisierung zu durchbrechen: James Joyces materielle Sprachvariationsexzesse zeugen davon, ebenso die akzelerierenden Stilmittel des Expressionismus. Wurde hier der Werkcharakter noch bewahrt, gehen spätere Autoren wie Julio Cortázar in Rayuela und Raymond Queneau mit Cent milles milliards des poèmes schon weit darüber hinaus - Rayuela besteht aus einzelnen Textsegmenten, bei denen der Leser die Reihenfolge, in der er liest, selbst bestimmen kann (der Autor gibt nur Empfehlungen); Cent milles milliards des poèmes räumt ihm die Möglichkeit ein, sich die Gedichte aus vorgegebenen Segmenten selbst zusammenzustellen. Eine ähnliche Öffnung vollzieht sich in der bildenden Kunst, in der die Werkgrenzen durch Prozeduralität - Kunst als Happening und bewegte Installation - gesprengt werden. Deutlich wird in beiden Entwicklungssträngen eine Bewegung von Innen nach Außen, weg von der statischen Repräsentation hin zu Prozeß und Transformation. Damit einher geht eine explizite Suche nach Kommunikation, nach direkter Interaktion mit dem Rezipienten, der möglichst integraler Bestandteil des Werkes werden soll. Die Grenze zwischen Werk und Betrachter, zwischen Ästhetik und Sozialsystem, soll in letzter Konsequenz aufgehoben werden. Doch schon durch die Verbannung der Kunst in eigens für sie vorbehaltene Räume (Museen und Galerien) und - im Falle der Literatur - durch die Bindung der Schrift an das Papier und die Grenzen des Buches bleibt die Systemtrennung erhalten. Dieser Entwicklungsbogen führt gegenwärtig zu einer Kunstform, die diese Versuche der Avant-Garde-Kunst in einem neuen Medium aufgreift und zu realisieren scheint: Der Netzkunst. Der Computer als zunächst rein technisches Instrument fungiert heute als das Meta-Medium für die Kunstproduktion, d.h., er stellt die technischen Mittel für die neue Form der Multimediakunst zur Verfügung. Ihr sind Prozeß und Transformation als Grundprinzipien auf allen Ebenen tatsächlich inhärent: zunächst auf der technischen Ebene als digitale Signalgebung ebenso wie auf der visuell manifestierten Bildschirmoberfläche, die sich dem Nutzer präsentiert. Und sie ist Prozeß auf der Metaebene, indem sie ihre Bedeutungsformen aus der Oszil lation verschiedener Zeichensysteme generiert. Und dennoch ist Netzkunst nochmal etwas anderes als reine Multimedia-Koppelung: Sie unterscheidet sich von Multimediakunst zunächst vor allem durch die Möglichkeit der Einschreibung in den sozialen Kommunikationsraum Internet. Eingebunden in dessen rhizomatische Netzstruktur eröffnet sich zusätzlich zur Arbeit mit dem Medium - im Gegensatz zur Avant-Garde-Kunst, die gegen ihre Medien arbeitete, - durch Nutzung der technischen Mittel eine neue Transformationsmöglichkeit: durch Kommunikation in Form von wirklicher Partizipation. Dieser "virtuelle Raum" des Internet unterscheidet sich in vielem von den Räumen, in denen Kunst und Literatur sich bisher formuliert und formiert haben. Durch fehlende Abgrenzungen erlaubt dieser Raum die explizite Intertextualität in Form von Vernetzung mit anderen Dokumenten, gleichgültig welcher Provenienz. Eine Separierung des Kunstwerks von anderen Teilen des Netzes ist schon dadurch nicht möglich, daß - im Unterschied zum real life - Information über das Werk und das Werk selbst sich in demselben System befinden; die Struktur des Netzes verhindert Sozial-Systemtrennungen. Aus dem Wegfall dieser Abgrenzungen resultiert eine für die Netzkunst und -literatur konstitutive Verknüpfung von Technik, Ästhetik und Sozialem, drei Ebenen, die Reinhold Grether treffend als Tech (die technische Programmier- und Prozeßebene) - Desk (die Bildschirmoberfläche, also die ästhetische Realisierung) - Soz (die Interaktion der Nutzer) charakterisiert hat. Die Hypertextpioniere Michael Joyce, Jay David Bolter und George Landow versuchten als erste, eine Theorie des elektronischen Schreibens zu formulieren - zunächst abgekoppelt vom Internet. Ihre Thesen über den neuen Charakter dieser Literaturform entwickeln sie allerdings aus einem Blickwinkel, der sich noch stark an der Printliteratur orientiert - allein dadurch, daß sie Hypertextliteratur in explizite Opposition zur gedruckten Literatur setzen, verschließen sie sich der Möglichkeit, eine mediumspezifische Ästhetik zu entwickeln. Der Versuch, poststrukturalistische und semiotische Theorien auf ein neues Medium zu transferieren, muß zu kurz greifen, da diese sich letztlich nur mit der Zeichen- und Bedeutungsebene auseinandersetzen, Netzliteratur aber durch die Oszillation von Tech, Desk und Soz bestimmt wird. Neuere Ansätze wie der Espen Aarseths sehen dieses Defizit und bringen explizit ihre Unzufriedenheit mit den bisherigen theoretischen Ansätzen zum Ausdruck. Sie fordern eine neue, an der bestehenden Netzkunst orientierte Theorie mit entsprechend innovativer Terminologie. Um diese zu entwickeln, ist es meines Erachtens notwendig, sich genauer vor Augen zu führen, durch welche Prozesse ästhetische Netzprojekte charakterisiert werden können. Streift man durch die Netzkunstlandschaft, so begegnen einem diverse Experimente mit Grenzüberschreitungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Das Phänomen "Inter-" charakterisiert diese verbindenden Sprünge. Was sich hier abspielt, ist ein Prozeß der Koppelung von ehemals abgetrennten Kategorien, allerdings nicht in Form einer dialektischen Bewegung, die aus These und Antithese eine Synthese herstellt, sondern ein Vorgang, der sich am besten mit Richard Lanhams Begriff der Oszillation fassen läßt. Dieser besagt letztlich, daß die Zusammenführung verschiedener Kategorien so erfolgt, daß aus der Interferenz der jeweiligen Elemente neue, "dritte" Phänomene entstehen, die sich durch kontinuierliche Interaktion zwischen den sie erzeugenden Teilen in andauernder Transformation befinden. Ihre Beschreibung verlangt es, sie zunächst einmal als Ganzes zu betrachten und nicht als Summe ihrer Teile, da aus dieser vor- und zurückschwingenden Bewegung eine eigene, neue Bedeutungs- und Beschreibungsebene generiert wird - ein Gesamtdatenwerk (Roy Ascott prägte diesen Begriff schon 1989). Die Oppositionen werden dabei durch den Rückkopplungsprozeß zwischen Trennung und Verbindung aufgehoben - der Link ist dafür letztlich die expliziteste Metapher. Diesen so gearteten Prozeß habe ich vorläufig - in Anlehnung an die bisher vorhandene Netzterminologie - "hyperlektische" Oszillation getauft. In Abgrenzung zur Dialektik, die zwar prozedural ist, aber eine vorerst statische Synthese hervorbringt, stellt die Hyperlektik einen unendlichen Prozeß auf verschiedenen Ebenen dar, der aus dem Zusammenspiel diskreter Einzelelemente Neues erzeugt. Die so entstehenden Szenarien erlangen aufgrund der vielfältigen Interaktionen niemals einen endgültigen, abgeschlossenen Status, sondern leben von den Transformationsbewegungen. In dem Bewußtsein über ihren vorläufigen und versuchsweisen Charakter möchte ich nun als möglichen Ansatz einer Phänomenologie der Netzkunst auf der Basis des hyperlektischen Prozesses einerseits, der Ebenenkennzeichnung von Tech, Desk und Soz andererseits, eine Kategorisierung der Oszillationsprozesse anhand von Beispielen versuchen. Dabei scheint es nützlich, eine räumliche Unterscheidung in horizontale und vertikale Oszillationen zu treffen. Horizontale Oszillationen finden auf einer der drei Ebenen zwischen dort angesiedelten Kategorien statt, vertikale Oszillationen beruhen auf der Interaktion der drei Ebenen untereinander. Die Beschreibung der horizontalen Oszillationen werde ich auf der Desk-Ebene durchführen, weil sie dort am deutlichsten werden und neu emergierende ästhetische Elemente einer Netzkunst daran transparent gemacht werden können:
Auf der vertikalen Achse kann schon heute eine zunehmende Oszillation der drei Ebenen Tech - Desk - Soz beobachtet werden, in deren Vertiefung und Ausarbeitung meines Erachtens die Zukunft einer spezifischen Netzkunst liegt, da sie die dem Netz inhärenten Strukturen für die ästhetische Produktion fruchtbar macht. Auch hier kann nochmals unterschieden werden zwischen Oszillation der Ebenen Tech und Desk einerseits, zwischen den Ebenen Desk und Soz andererseits, wobei bei letzterer häufig die Tech-Ebene in unterschiedlichster Weise thematisiert wird. Tech-Desk-Oszillationen können folgendermaßen aussehen:
Die Oszillation zwischen den Ebenen Desk und Soz schließlich führt in letzter Konsequenz zu partizipativen Projekten, die ich in den Gegensatz zur reinen Klickkultur der oft inflationär angepriesenen Interaktivität stellen möchte. Dabei kann die Partizipation unterschiedliche Formen annehmen:
Betrachtet man diesen kurzen Abriß der Einordnung von Netzkunst
in die Kunstgeschichte als logische Folge der immer stärker gewordenen
Verbindungstendenzen von Ästhetik und Sozialem und akzeptiert
man die These, daß das wirklich Netzspezifische eben in der
Verflechtung von Technik, Ästhetik und Sozialem liegt - genauer
gesagt: einerseits das "Wir suchen, kurz gesagt, nach einem GESAMTDATENWERK. Ort der Arbeit an und der Handlung für ein solches Werk muß der Planet als Ganzes sein, sein Datenraum, seine elektronische Noosphäre. Die Dauer des Werkes wird letztlich unendlich sein müssen, da das Werk, das eine Unendlichkeit von Interaktionen, Inputs und Outputs, Zusammenarbeit und Verbindungen zwischen seinen zahlreichen Mitarbeitern haben muß, stets in Bewegung und im Fluß sein müßte. Nachdem Wechselseitigkeit und Interaktion die Essenz darstellen, kann ein solches Werk nicht zwischen "Künstler" und "Betrachter", zwischen Produzenten und Konsumenten unterscheiden. An einem solchen Netzwerk teilzunehmen, bedeutet stets, an der Schaffung von Bedeutung und Erfahrung mitzuwirken. Die Rollen können nicht auseinandergelegt werden. Man kann nicht mehr länger am Fenster stehen und die von jemand anderem komponierte Szene betrachten, man ist vielmehr eingeladen, die Tür zu einer Welt zu durchschreiten, in der Interaktion alles ist."
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