Neueste älteste Leiden Werthers


von Peter Gendolla


Spätestens mit Cervantes' Don Quijote wird eine Paradoxie für Literatur konstitutiv, die ihre Texte seitdem von anderen Texten unterscheidet, eine interne Selbstnegation, mit der sie ihr Publikum erst eigentlich an sich fesselt. Immer wieder warnt sie vor der pathogenen Wirkung der Lektüre, fordert dazu auf, aus den Texten heraus und ins wahre Leben zu treten. Nirgends wird diese Paradoxie deutlicher als in den Inszenierungen des literarischen Liebesgesprächs. "...bei der Stelle eines lieben Buchs" kommen Werthers "Herz und Lottens in einem zusammen", und das führt textintern in Ausweglosigkeit und Suicid - extern zum Wertherfieber, u.a. dem Mißverständnis des Romans als Handlungsanleitung. Ob neuere rechnergestützte und vernetzte Literatur diese Paradoxie oder ästhetische Differenz erhält, soll im Vergleich einiger ihrer Liebesgespräche mit jenen älteren skizziert und diskutiert werden.

1. Neueste älteste Leiden Werthers
2.
Das Fernrohr
3.
Wunderblock
4.
Anbahnung




Neueste älteste Leiden Werthers

Die mit diesem Titel angekündigten Leiden können mit den ältesten begonnen werden, beispielsweise mit denen des Ritters von der traurigen Gestalt aus der Mancha. Um das Jahr 1600 bezweifelt in Cervantes' Roman Sancho die Existenz der holden Dulcinea, der hohen Minne Don Quijotes. Dieser gibt ihm daraufhin die rechte Antwort.

"Sonach, Sancho, wozu ich Dulcinea lieb habe, dazu ist sie mir soviel wert wie die erhabenste Prinzessin auf Erden. So ist's, und nicht alle Poeten, welche eine Geliebte unter einem Namen besitzen, den sie ihr nach Belieben beilegen, haben eine solche in Wirklichkeit. ...Und so genügt es mir, dass ich denke und glaube, die treffliche Aldonza Lorenzo sei schön und sittig, und was ihren Stammbaum betrifft, das tut wenig zur Sache: ...Denn du musst wissen, Sancho, wenn du es nicht schon weißt: zwei Dinge allein vor allen bewegen das Herz zur Liebe, nämlich große Schönheit und guter Ruf, und beides findet sich in höchstem Grade bei Dulcinea; ...ich male sie mir in meinem Geiste, wie ich sie mir wünsche, ebenso an Schönheit wie an Vornehmheit; und ihr kommt Helena nicht nahe noch reicht Lucrezia an sie heran..." (Miguel de Cervantes Saavedra. Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. dt. Ludwig Braunfels. München: Winkler 1973, S.237)

Wir alle wissen, wie solche Einbildung endet. Sancho versucht Don Quijote durch die Konfrontation mit einer gräßlich-häßlichen Bäuerin zu 'heilen', also seine Einbildung zu 'entzaubern'. Er scheitert aber schmälich an Don Quijotes Phantasie, an dessen Imaginationssystem ist einfach nicht zu rütteln. Don Quijote starrt auf die abstoßende Realität, ein kurzes Nachdenken, nun, dann muss diese halt verzaubert sein.

"Sancho, was bedünket dich, wie verhasst ich den Zauberern bin? Und sieh, wie weit sich ihre Bosheit erstreckt und die Feindseligkeit, die sie gegen mich hegen, da sie mich der Freude berauben wollten, die es mir bereitet hätte, meine Gebieterin in ihrer wahren Wesenheit zu erschauen. In der Tat, ich bin geboren, um das Vorbild aller vom Glück Verlassenen zu sein, Zielpunkt und Schießscheibe für alle Pfeile des Mißgeschicks." (a.a.O., S.617f.)

An der Bedeutung oder Funktion dieser unerschütterlichen Einbildungskraft für das allgemeine Thema des Symposions soll hier festgehalten werden. Wenn also von 'Leiden' die Rede ist - vom Fieber etwa, in dem der junge Werther verbrennt, in das sein Buch seine Leser versetzt, und das jetzt vom Modem ersetzt werden soll - dann ist damit doch wohl ein bestimmtes Spiel der Phantasie am Kreuzungspunkt von (Außen-)Wahrnehmung und (Innen-)Konzept gemeint, ein Schnittpunkt, an dem diese beiden Dinge nicht übereinstimmen. Eben an der Auflösung dieser Spannung, Reibung, Nichtentsprechung arbeitet Don Quijotes Phantasie, darin besteht ihr Leiden. Nicht allein seines.Wir Leserinnen oder Leser etwa weinen oder lachen über ihn, weil wir ja eben so vollkommen verrückt wie er auf etwas starren und darin sehen, was da einfach, jedenfalls so einfach nicht ist: Ritterheere statt banaler Windmühlen, schöne Frauen statt häßlicher Bäuerinnen, dünne oder dicke Männer, das Leben Don Quijotes eben statt der dünnen oder dicken Buchstaben auf dem Papier.


Wenn wir mit Marshall McLuhan den Menschen als "Fortpflanzungsorgan der Welt der Technik" darstellen

  • er formuliert das anläßlich der Entwicklung des Buchdrucks und des damit verbundenen Bewußtseins für einen Begriff des Unendlichen: "Erst als der Buchdruck das Sehvermögen zur sehr großen Genauigkeit, Einheitlichkeit und Intensität einer spezialisierten Ordnung erweitert hatte, konnten die anderen Sinne hinreichend eingeschränkt und unterdrückt werden, um erst den Begriff Unendlich bewußt werden zu lassen. Als ein Aspekt der Perspektive und der Schrift dient der Begriff der mathematischen und numerischen Unendlichkeit als Beispiel, um zu zeigen, wie unsere verschiedenen Ausweitungen oder Medien einender durch das Wirken unserer Sinne beeinflussen. So erscheint der Mensch als Fortpflanzungsorgan der Welt der Technik,..." Marshall McLuhan. Die magischen Kanäle. Understanding Media, dt. Meinrad Amann. Frankfurt/M.: Fischer Bücherei 1970, S.119)

d.h. also

  1. der Mensch stellt es, dieses Fortpflanzungsorgan, d.h. sich in immer neuen Inszenierungen vor, und
  2. er bildet es selbst, er ist dieses Organ, über das Technik sich fortpflanzt,

dann könnte man den Weg, auf dem der Schriftstellermensch die Schrift, also die Technik der Erzeugung, Übermittlung und Aufbewahrung von Kommunikationen 'stellt' oder fortpflanzt, vielleicht mit einem umgekehrten und etwas variierten Derrida als Weg

"Von der Differenz zur Anbahnung"

beschreiben.

Manche werden sich wohl noch an den Klassiker der Dekonstruktion "Die Schrift und die Differenz" erinnern, zumindest an den zentralen Abschnitt über "Freud und der Schauplatz der Schrift". Hier rekonstruiert Derrida Freuds Versuche, die Seelenarbeit oder den psychischen Apparat zu beschreiben, als Weg von der "Bahnung" zur "Differenz".

Freud - und mit ihm Derrida - nutzt drei Modelle:

erstens ein neurologisches, dem Forschungsstand der damaligen Zeit entsprechend, das die Psyche als Zusammensetzung sog. "Wahrnehmungs-" und "Gedächtnisneuronen" vorstellt, welche Wahrnehmungsspuren, sogenannte Engramme aufschreiben und festhalten

zweitens einen optischen Apparat, das Seh- oder Fernrohr, in dem die Wahrnehmungen als eine Art Strahlen eingefangen und gebrochen werden (mit dem Problem, wie dann wo 'gespeichert' wird), und

drittens eine kleine Schreibapparatur, den sog. 'Wunderblock', der es endlich erlaubt, sowohl die frischen, immer neuen Eindrücke wie auch das Festhalten dieser Eindrücke, die Dauerspuren des Gedächtnisses, eben den 'Speicher' zu konzipieren.

Derrida stellt nun die drei Modelle nicht als Metaphern, bloße Bilder für etwas in Frage. Apriori sind Psyche, Technik und Text in einem Prozeß amalgamiert. Seine Fragen lauten somit:

"Nicht, ob das Psychische tatsächlich eine Art von Text ist, , sondern was ein Text ist und was das Psychische sein muss, um vermittels eines Textes dargestellt werden zu können. Denn wenn es weder Maschine noch Text ohne psychischen Ursprung gibt, dann gibt es keine textlose Psyche. Welcher Art muss schließlich das Verhältnis zwischen dem Psychischen, der Schrift und der Verräumlichung sein, damit ein solcher metaphorischer Durchgang möglich wird; und das nicht nur in erster Linie im Innern eines theoretischen Diskurses, sondern in der Geschichte des Psychischen, des Textes und der Technik?" (Jacques Derrida. Die Schrift und die Differenz. dt. Rodolphe Gasché. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S.306)

Hier soll ebenfalls nicht von oder über etwas 'bloß Metaphorisches' geredet werden, sowieso eine abwertende Redewendung, die der "Macht der Metapher" (Gerhard Gamm) in keiner Weise gerecht wird. Vielmehr werden Psyche, Texte und Apparate oder Maschinen als untrennbar in- oder miteinander prozessierend behandelt. D.h. Texte - das, was wir lesen und schreiben können - werden im obigen Sinne verstanden als jene genannten Kreuzungspunkte oder Schnittstellen von äußeren Wahrnehmungen durch sensorische Maschinen mit den inneren Konzepten der sogenannten Psyche. An diesen Schnittstellen werden deren Nichtübereinstimmung, ihre Konflikte oder Reibungen, eben als "Leiden", als Lust oder Schmerz oder beides artikuliert. Wortwörtlich werden hier die Empfindungen in differenzierbare Abschnitte geteilt, in Artikel gebracht, das heißt genau in eine Schrift, in eine Buchstaben-, Bilder-, eine Zeichenreihe.


Das Fernrohr

Man kann das mittlere der genannten Modelle nehmen, die Sehmaschine oder das Fernrohr, um daran zwei Qualitäten der anderen abzusetzen und ihren Übergang deutlicher zu machen. Das 4.Vorkapitel - insgesamt gibt es davon sechs, plus den umfangreichen "Anhang der ernsten Ausschweifungen für Leserinnen" von Jean Pauls letztem, Fragment gebliebenen Roman "Der Komet" -, überschrieben "Liebschaften aus der Ferne nebst dem Prinzessinenraub", beginnt mit folgender Urszene:

"Bis auf diese Zeile wurde mit keiner der Liebe des Helden gedacht, und die Welt wartet noch auf das erste Wort davon; - und das soll auch kommen - denn ob wir alle gleich in den Zeiten der Vorkapitel leben, wo die Helden nirgends zum Vorschein kommen als im Hintergrunde: so wieß doch jeder Leser, was Liebe ist, nämlich der hebende Sauerteig der Jugend - die Bienekönigin des jugendlichen Gedankenschwarms (...) Auch brauchte Nikolaus nicht erst auf die Zufuhr zu warten, welche etwan die oben gedachten Wagen voll Prinzessinnen in seinem Herzen auszuladen hatten, um es zu füllen. Wahrhaftig, es stand nie lehr, und er liebte hinlänglich; nur wußt' es keine Geliebte, denn er betete jede Dulzinea immer in solcher Ferne an und hielt ihr in so tiefem Hintergrunde auf den Knien sich als personifizierten Liebhaber hin, dass keine etwas erwidern konnte, die nicht ein Sehrohr der Blicke und ein Hörrohr der Seufzer in der Tasche hatte. (...) Ja er hatte sogar einmal (verwegen genug) seine Liebe einer himmlischen jungen Freiin von ....innerlich erklärt und sich kein Bedenken daraus gemacht, sie jeden Morgen während ihrer Sing- und Klavierstunden zu sehen, indem er auf den Turm stieg, und aus dem Schalloch heraus solche mit einem schlechten Fernglase aus ihrer Stube zu sich hinan- und hinaufzog."(Jean Paul. Der Komet oder Nikolaus Marggraf. in: Werke in zwölf Bänden. hrsg. v. Norbert Miller. München: Hanser 1975, Bd.11, S.625f.)

Man bemerkt leicht, dass es sich um einen weiteren Don Quijote handelt. Wieder lesen wir von einem, der auszieht, sich die anderen so zurecht zu machen, dass er sie zu sich hinan und hinauf zu ziehen vermag, und das Fürchten dabei jedenfalls nicht lernt. Es handelt sich eben nur um eine einfache, triviale Sehmaschine, ein schlechtes Fernglas, das die Distanz zwischen der Seele und dem Objekt ihrer Begierde erst herstellt und dann festhält, das eine Projektion, eine Übermittlung erlaubt und fixiert, einen Entwurf und seine Speicherung. Wir Leserinnen/Leser freuen uns und lachen, wir halten eben dieses schlechte Fernglas, das Jean Paulsche Fragment in Händen und schauen aus sicherer Distanz durch die Buchstaben hindurch auf einen Entwurf von uns.


Wunderblock

"Der Wunderblock ist eine in einem Papierrand gefasste Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am oberen Ende der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr frei anliegend. Dieses Blatt ist der interesantere Teil des kleinen Apparates. Es besteht selbst aus zwei Schichten, die außer an den beiden queren Rändern voneinander abgehoben werden können. Die obere Schicht ist eine durchsichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durchscheinendes Wachspapier." (Sigmund Freud. Notiz über den 'Wunderblock'. in: Gesammelte Werke.hrsg.v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey?. Frankfurt/M.: Fischer 1975, Bd.14, S.5. Bei Derrida a.a.O.,S.339)

Man erinnert sich der wunderbaren Möglichkeiten, die der Apparat bei Freud bereitstellt, nämlich "das unerklärliche Phänomen des Bewusstseins" zu erklären. Es "entstehe im Wahrnehmungssystem an Stelle der Dauerspuren"(Freud, a.a.O.S.4f.), im Moment des Abhebens, Auflegens und Neubeschreibens der oberen Schicht auf der unteren, als "Aufleuchten und Vergehen des Bewusstseins bei der Wahrnehmung"(S.7), also bei der Überkreuzung der Dauerspuren mit den neuen akuten Eindrücken, ideales Modell der Differenz:

Differenz des Bewusstseins zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis bei Freud
Differenz der Schrift zwischen Speichern und Übermittlung bei Derrida.

Ohne auf die weitere Schriftmetaphysik einzugehen - die Schrift als "Beziehung von Leben und Tod, von Präsenz und Repräsentation"(Derrida, S.347) -, können wir doch eine nicht unwichtige Differenz hier hinzufügen, nämlich die Differenz des Buchs, in oder an dessen Blättern das Bewusstsein aufleuchtet, wenn seine Schrift gelesen wird. Nicht irgendeine Schrift, vielmehr die Geschichte ihrer Entstehung durch die Herstellung eines Wunderblocks, des Buchs, von der Entstehung des Bewusstseins durch Bücher, durch den Don Quijote, den Werther, den Kometen Nikolaus Marggraf, Madame Bovary...

Im 20.Jhdt. wird solche gebrochene Autopoiesis zum Programm ganzer Schulen, den seriellen Texten des Nouveau Roman etwa, sie treibt den "Schatten des Körpers des Kutschers" (1960) v. Peter Weiss, die "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt"(1969) Peter Handkes, auch noch Wolf Wondratscheks "Bauer(n)", der "mit der Bäuerin einen Bauernjungen zeugt, der unbedingt Knecht werden will."(1970)

Das Buch bildet keine einfache Maschine mehr, jedes Abheben des Blattes und Auflegen auf das zurückliegende läßt tausendundeine anderer Geschichten durchscheinen, und beleuchtet wird dabei immer eines: die Differenz zwischen den schwarzen Buchstabenreihen auf dem weißen Papier zu den 'lebendigen Vorstellungen' dahinter, zu unserer Phantasie.


Anbahnung

Bereits Jean Paul hattte seine Texte als eine Art Hypertext gebaut: vielfache Ab- und Ausschweifungen, Fußnoten und Einschübe, ständige Digressionen wie bei Lawrence Sterne, Geschichten in der Geschichte...

Nur: In Büchern verlaufen diese weiter ganz ordentlich von Blatt zu Blatt, und so lesen wir alles dann auch. Wer - ausgenommen vielleicht die Literaturwissenschaftler - liest den tatsächlich vor und zurück, mal hier und dann da? Möglicherweise mal eine Stelle, zur Absicherung einer Erinnerung vielleicht.

Das Leiden, der erregende Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Einbildung wird dabei allerdings stärker. Die Einbildung gibt sich immer weniger mit dem bösen Schein der Zauberer zufrieden, sie sucht ihn selbst immer effektiver zu bearbeiten. Don Quijote dreht sich angesichts einer hässlichen Außenwelt, für ihn nur das durchsichtige Spiel der Zauberer gegen seine idealen Vorstellungen, noch resigniert um und geht. Bei "der Stelle eines lieben Buches" treffen Werther und Lottens Herz "in einem zusammen".(Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werther. hrsg.v. Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S.75)

Es genügt vollkommen, dass sie "Klopstock" sagt, um beide in einem "Strome von Empfindungen"(S.27) versinken zu lassen - eine Quelle großer Heiterkeit für uns Nachgeborene - für Werther allerdings, Emma Bovary, einige andere noch Ursache oder letzter Auslöser des Suicids, wo nun einmal die lieben Bücher und das banale Leben einfach nicht zur Übereinstimung zu bringen sind.

Allerdings gibt es - im Zuge des laufenden Verrats der Literatur gegenüber ihrem bisherigen getreuen Medium, dem Buch, also mit ihrem sukzessiven Auszug aus diesem trauten Heim und der Übersiedelung in die fremde Welt elektromagnetischer Ladungen und lichtgeschwinder Übertragungen, sprich in die vollkommen promiskuitiven Verhältnisse der Rechner und ihrer Vernetzungen - erste Annäherungen. Hier gibt es endgültig nicht mehr ein einziges Fortpflanzungsorgan der Kommunikationstechnik, den Schriftsteller oder Autor, der sie, die Literatur, in die Welt stellt und darunter leidet, dass sie kein wirkliches Leben annehmen will. Hier schreiben möglicherweise gleich mehrere - Menschen, Männer, Frauen, Maschinen? Die Unsicherheit über die neuen Briefsteller ist am Anwachsen - den Text, und (zusammen-)gestellt wird er auch noch mehr oder weniger automatisch von Programmen, die zu allem Überfluss noch Bilder oder gar Töne dazwischenwerfen, die vom Lesen der Buchstabenreihen weg ins Sehen und Hören der ungewohnten Kombinationen führen. Als Beispiel mag Susanne Berkenhegers Hyperfiction "Zeit für die Bombe" dienen, vor allem, weil sie recht deutlich obigen Widerspruch, unser Leiden fortsetzt, aber im skizzierten Sinne auch transformiert, aus den Büchern heraus auf die Abwege des neuen Mediums führt. Dabei sollen Thomas Kamphusmann folgend keine Lesestränge herauspräpariert werden,

" Erst mit dem Herauspräparieren derartiger Lesestränge - die in diesem Fall eine Reihe klischeehafter motivischer Elemente und zusammengenommen eine ebenfalls klischeehafte Opposition von Liebe und Wahnsinn aktualisieren - ist die materiale Basis für eine Segmentierung gegeben, die örtlich, motivisch, inhaltlich oder nach anderen Kriterien in oppositionelle Beziehungen gesetzt werden können - ungeachtet der im vorliegenden Fall geringen Ergiebigkeit der Analyse."(Thomas Kamphusmann. Literatur auf dem Rechner. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S.180)

In diesem Text als Text, die Buchstabenreihen ablesend, bekommt der Leser/die Leserin im Dreieck Veronika/Vladimir/Iwan wohl Realisierungsangebote für seine Phantasien, die weit über die Lotte/Werther/Albert-Konstellation hinausgehen und ihren magischen 'Klopstock' hinausgehen:

"Das konnte Vladimir nicht überhören. Tausend Sägeblätter zerkleinerten die Luft - Veronika hatte geläutet. Der Türöffner befahl: Drück mich!' Genauso würde Veronika auch gleich dastehen. Stehen? Das wohl kaum. Geflogen kam sie - in hohem Bogen und in einer Wolke von Glück und Schweiß. Vladimir, der schon auf vielen abgetretenen Rasen im Tor gestanden hatte, versuchte redlich das jauchzende, fliegende Bündel zu fangen (...)

Eine Gabel sprang salto rückwärts auf den Boden, als die nackte Reiterin sich schließlich auf ihn setzte. Veronika war wieder da."







Hü oder
hott?
Rein
oder
raus?






den
Schwanz


Ihr wollt also wissen, wie es die vorigen Male mit Veronika war? Würdet mehr erfahren von ihren ungestümen Schlachten? t Ihr das wirklich wissen? Wollt Ihr wirklich sehen, wie Veronika ihr Lächeln senkrecht stellte, als sie - richtig heiß war es damals in Moskau us gegen einen hohen Russen gepreßt wurde, der Vladimir hieß. imir gefiel das und Veronika schämte sich ein bißchen. Sie hätte den Mann niemals wiedergesehen, wenn er sie nicht um einen Transport gebeten hätte:


Ein halbes Jahr später...
Jetzt laß mal die Bombe sehen', flüsterte Vladimir Veronika in den feuc t n Nacken, weil er dort - unterm schwarzen Haargestrüpp - ein offenes Ohr vermutete. ls' im Koffer... ', murmelte die soeben noch geliebte und jetzt schon wieder abgelegte Frau ins Kopfkissen." -
(entsprechende "dollar"knoten aus url einfügen)

Aber nicht solche Anregung sondern das "Drück mich!" hier ist wohl wichtiger, an einer der nicht bloß semantisch ausgezeichneten Stellen, da, wo der Text etwas mehr ist, wo er eben Hypertext ist und sagt, "Drück mich, ich bin ein Link!". Nach Kamphusmann sind das die winzigen aber wesentlichen durchscheinenden Stellen oder Interfaces, Berührungsstellen, die über das Augeninterface des Buches und seine Auslösungen imaginärer Prozesse hinausgehen, die die Kooperation von LeserIn und Text über solche Linkmaschine laufend erlauben. Sie erst transformieren den endlichen (Buch-)Text in den tendenziell unendlichen (Hyper)Text und machen den Leser zum direkten Auslöser - nein, eben nicht primär seiner Phantasieverläufe sondern eben - der Textverläufe, vieler verschiedener Textverläufe, Text-Bildverläufe.

Was sich hier anbahnt - der Durch- oder Übergang des Lesens - wieder nein, nicht ins Schreiben, da bliebe obige Distanz oder Differenz zur (trivialen oder komplexen) Wahrnehmungsmaschine gewahrt - vielmehr ins direkte Codieren, ins Übersetzen einer energetischen, materiellen und/oder signifikanten Reihe in eine andere durch die direkte Koppelung von Wahrnehmungsprozess, Körpersensorik und -aktion und Wahrnehmungsmaschine oder Maschinen, das Zusammenspiel von Augen-Monitor und Finger-Tastatur mit dem Rechner, die Kontaktaufnahme zwischen Bewusstsein, Prozessieren und Speichern - das ist am ehesten am Schluss, d.h. an den "metanarrativen Schlussankündigungen"(Kamphusmann) von "Zeit für die Bombe" abzulesen - wortwörtlich ab-zulesen, vom Text zur Aktion wegzulesen.

"Der glückliche Iwan wurde vor Veronikas Augen in tausend Schmerzen zerrissen. (...) Das Ende? Veronika erwachte nie wieder. Sie träumte nur mehr von jener Zeit in Moskau, die sie nicht verstand, die wie ein Igel zusammengeschnurrt war. An der trügerisch festen Leine der Taxometer, erlebte Veronika die letzten Tage ihres Bewußtseins wieder und wieder - nur jedesmal anders und immer fehlte ihr die Hälfte. ' Wie hing das nur alles zusammen?' wollte sie wissen. Immer wieder explodierte in ihren Komaträumen das Ende der Geschichte und sie dachte dann: 'Das gibst doch nicht!' - und begann die Suche nach verstreuten roten Fetzen nochmal von vorn." (url bei 63Dollar 77 Dollar einfügen)

Das ist eben kein 'richtiger' Schluss, es ist wieder nur ein 'dichter' Link, Absprungspunkt für die "Rückkehr" wieder in ein "halbes Bewusstsein", eine halbierte Geschichte. Das andere, die andere Hälfte ist "Drück mich", "Klick mich", es könnte etwas ganz anderes passieren...

Auf die Anbahnung hat diese Überlegungen Uwe Wirth mit seinem "Schwatzhaften Schriftverkehr" gebracht, der das dieser Dokumentation vorausliegende Treffen in Romanmôtier wohl angebahnt hat. (Uwe Wirth. Chatten im Zeitalter des Modemfiebers", in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.). Praxis Internet. Frankfurt/M.:Suhrkamp 2002) Hier bestimmt er das Chatten im Unterschied zum Briefeschreiben, das Freundschaften erhält - bei der Liebe sind Zweifel angebracht, siehe Kafkas "Schriftverkehr" -, als eine Kommunikationsform, die Freundschaften anbahnt, und begreift den Nickname im Chat als ersten "indexikalischem Strohhalm"(Sassen), der erlaubt, einen Anderen etwas zu erkunden, "mit dem man noch nicht in Kontakt getreten ist"(Wirth, a.a.O., S.218).

Mag sein. So haben aber Augenzwinkern, geheime Zettel unter der Schulbank, Briefe an wen wo immer Gesehene etc. doch schon lange funktioniert, das trifft wohl nicht die entscheidende Transformation dieser bekannten Kommunikationen in rechnergestützten vernetzten Kommunikationsprozessen. Sie mag sich eventuell auch gar nicht im Chat abspielen, da gibts hin und wieder sogar Redeverbot

"5.Jun.2002, 12:57

Ich sage euch liebt euren nächsten und euch selbst und trinkt soviel ihr könnt denn ihr seid richtig cool!!!

3.Jun.2002, 15:44

Hi Frank, Claudio und alle andern! Mich würde das jetzt echt mal interessieren ob der gigi nun kommt oder was!?

3.Jun.2002, 8:07

ja gerne@urlaubschef will trinken!!!!!!!!!!!!!

3.Jun.2002, 8:07

Haltet doch endlich eure versauten Münder!!!"

<http://www.badenmedia.de/flirtin/gb.asp>

Eher findet sie auf oder mit jener "Frankenstein"-CD-ROM statt, die dem Spieler/der Spielerin erlaubt, sich sein Monster nach Wunsch zusammenzusetzen - Glied für Glied, Auge um Auge (http://www.geocities.com/Hollywood/Boulevard/3944/frankenstein.html) Hier wird die etymologische Bedeutung des Monsters - das Wort leitet sich ab vom lat. monstrare: zeigen, sich sich selbst zu zeigen, sich im Monster zu zeigen, eben wie lange gesagt Fortpflanzungsorgan von Technik zu sein.

Der diesjährige Preisträger des Klagenfurter I.Bachmann-Preises Peter Glaser hat - etwas weniger Rocky-Horror-mäßig - etwas näher an unseren literarischen Liebesdiskursen, diese Transformation als Chat mit der Maschine dargestellt. Seine Dulcinea heißt Rosa, sein Minnelied wird von POE (Poesie-Erzeugungs-Maschine) geschrieben. Die Liebesdiskurse hören nie auf, sie wechseln nur ihre PartnerInnen, eben genau so, wie die Literatur ihre Medien.

"Online zu sein ist eine Lebensart. Man läßt bei der Morgentoilette die Bade- zimmertür offen und den Modemlautsprecher aufgedreht, um sofort zu hören, wenn ein angewählter Rechner einen Trägerton schickt. Plötzlich hat man Be- kannte, die FRIMP, PAPPNASE, W.C.S. oder JUDAS heißen. Ich nenne mich POETRONIC, kurz POE, nach dem Dateinamen eines kleinen Basic-Programms, das ich mal vor Jahren geschrieben habe und das automatisch schlechte Gedichte erzeugt. ROSA hat sich nach ihrer Katze benannt (und die Katze nach Rosa Luxemburg); aber ich greife vor. (...)
Nach der Liebe ist das Licht die wunderbarste Zärtlichkeit der Welt. Licht berührt alles. Licht und Geist sind einander nah. Für mich war es eine Wohltat, von der Schreibmaschine auf den Rechner zu wechseln. Der Schrift- steller, seit jeher hart am Rand des Stofflichen tätig, rückt mit dem Schreiben am Computer seiner Bestimmung ein gutes Stück näher. Jetzt ist das Licht meine Tinte. (...)
Das System, in dem ich ROSA kennengelernt habe, heißt Tornado (heute TECS - Tornado Electronic Communications System). Vor zehn Jahren, im Dezember 1984, ging die Tornado als eine der ersten deutschen Mailboxen online. Die Software war von Sysop Thomas Schewe in Basic handgesägt und lief auf einem Sirius-1 mit 10 Megabyte Festplattenkapazität. Schewe hatte von seinem Vater einen Wollgroßhandel übernommen und konnte sich einen derartigen Riesenrechner leisten. Der Name der Mailbox stammt übrigens von einer Hose, welche die Firma in den Siebziger Jahren produziert hat: Tornado- Jeans. Im Herbst 1987 wechselte Schewe auf einen besseren Rechner, schloß acht Telefonports an und schrieb ein Konferenzprogramm, das Forum. (...)
Während Neulinge gewöhnlich einem Humorhärtetest ("User versenken") unterzogen wurden, sorgte ich dafür, daß man ROSA mit Artigkeit begegnete. Junge Männer, die zwei Stunden einem freien Port hinterhergewählt hatten, stürzten sich ritterlich zurück hinaus in die kalte Welt der Besetzzeichen, wenn es hieß: "ROSA will rein."
Der Wonnemonat Mai. Bis fünf Uhr früh streifte nun der Cursor jede Nacht wie eine kleine Textspachtel die Worte über den Schirm. Jeden Tag um Neun mußte ROSA, nach drei Stunden Schlaf, zur Arbeit, was unsere ungeteilte Bewunderung erregte.
Wir verliebten uns ineinander. Die Liebe ist wunderbar, wenn die Nacht wie eine Katze am Rand der hellen Lust sitzt. Ich hatte mich noch nie in eine Frau verliebt, die ich noch nie gesehen habe. Das Sonderbarste war meine Angst, es nicht ernst zu meinen, sondern irgendwo außerhalb der bewußten Kontrolle ein abgehobenes Spiel zu spielen. Die Kunst des Zitats, der Mehrdeutigkeiten, vielschichtigen Anspielungen und Feinheiten wurde von niemandem so obsessiv betrieben wie von den Mitgliedern der Midnight Crew. Was, wenn ich nun meinem eigenen Hang zur Subtilität aufgesessen war und mich nur selbst bespiegelte?
Nichts war sicher, vielleicht war das ganze Universum nur ein grausamer Scherz, eingerichtet einzig um Uwe Barschel eins auszuwischen, und seit er tot war, trudelte das Universum ebenso tot und sinnlos seinem Ende entgegen - aber wenn ich ein einziges, eigenes Stück Gewißheit hatte, dann das, daß ich verliebt war.
Wir telefonierten miteinander. Ich meine: ohne Modems und Rechner dazwischen. Per voice. Ein Mal hatte ich mich ehrlich an einen Rat gehalten, den alle Weisheitslehren der Menschheit geben: Du sollst Dir kein Bildnis machen, daher war ich weder überrascht noch enttäuscht. Wir waren beide nervös, aber die Nervosität ruhte auf einem soliden Fundament. Ich fühlte, daß längst alles klar war. Wir waren ein bißchen hilflos beim Reden, wie zwei, die schlecht englisch sprechen, es aber aus Rücksicht auf ausländische Gäste trotzdem tun. Die Art verbaler Wendigkeiten, die TBT erlaubt, funktionieren in gesprochener Form nicht; das ist ja grade der Witz daran.
Als ROSA und ich einander nach drei Monaten das erste Mal leibhaftig begegneten, war es ein wundervoller Triumph über ein Jahrhundert der Bilder. Wir küßten und umarmten uns schwerelos von dem schönsten Gefühl.
Am Tag darauf schrieb ich meiner damaligen Freundin, daß ich sie verlasse. Daß auch ROSA im Begriff war, von ihrem Freund wegzugehen, mit dem sie die letzten sechs Jahre zusammengelebt hatte, war mir schon ersichtlich geworden, wenn sie im Forum geschrieben hatte "ach, jetzt wird grade der türstock rausgetreten"und Sekunden später die Verbindung unterbrochen war. Ich vergegenwärtigte mir, daß dort am anderen Ende etwas Gespenstisches geschehen war. ROSAs Freund hatte sich einen Computer und ein Modem zugelegt, wogegen sie sich erst heftig gesträubt hatte ("kommunikationsfeindlich"). Drei Monate später stand sie vor dem Rechner auf und sagte: Ich verlasse Dich. Wie sonderbar, wenn einem jemand vor den eigenen Augen verlorengeht.
Ich habe die Frau fürs Leben in einer Mailbox gefunden. Eine moderne Liebesgeschichte, meinetwegen. Was ich bemerkenswert finde: daß all das rein durch Worte geschehen ist. Ich war beschämt, als ich erkannte, daß ich an der Sprache gezweifelt hatte. Der Computer hat mich davon abgehalten, ein Leben in Lüge zu führen. Ein paar Worte, reichen für ein Wunder. Heute gibt es keine Gedichte mehr, dafür POE und ROSA.

(Peter Glaser: SEI ONLINE, SEI MEIN. Hightech und Hohe Minne: Die Geschichte von POE und ROSA. Der ganze Text unter http://www.chscene.ch/ccc/contrib/glaser/poe_rosa.html)

//

aus beliebig mit stichwort gesuchten urls:

/* Liebe: weder adelige Liebesauffassung (Ehefrau

+ Maîtresse) noch Streben nach bürgerlicher Ehe) >

Liebe bewirkt v.a. eine Steigerung des Lebensgefühls, Erlebnisfülle

bei der Spiegelung in der EINZIGEN (..."wie ich mich selbst

anbete, seit sie mich liebt!")

http://www.librator.de/metagrolove/32n.htm

*3.1.4. AGGRESSION (LIEBE) IST HITZE - Weitere Sprachen [1]

Die Ermittlung von Metaphern für Aggression und Liebe erfolgte vermittels phraseologischer Wörterbücher (soweit vorhanden) sowie ein- und zweisprachiger Großwörterbücher. Für jede der fünf untersuchten domains wurde eine begrenzte Anzahl von Stichwörtern nachgeschlagen. Lücken ergeben sich also sowohl durch die Unzulänglichkeit einiger Nachschlagewerke hinsichtlich metaphorischer Redewendungen, als auch durch die Begrenzung der Stichwörter, so daß seltenere und mit weniger prototypischen Stichwörtern gebildete Metaphern nicht aufgenommen werden konnten. Es folgt nun eine Auflistung der berücksichtigten Stichwörter, die nach den zugehörigen domains geordnet sind:

1. Hitze, heiß, kalt, Feuer, Flamme, brennen, Glut, glühen, Fieber, Funken, brennen, kochen, platzen, explodieren.

2. Feind, Schlacht, Kampf, kämpfen, Gegner, ringen, Krieg, Mord, töten, erobern, Spiel, Hexerei, zaubern, Gewalt, Kraft, überwältigen, Blitz, Donner, Sturm.

3. Tier, Bestie, wild, fressen sowie einige bestimmte Tiere wie Hengst, Stier, Wolf, Hahn, Schwein, Löwe, Katze, Maus, Taube.

4. krank, Schmerz, Wahnsinn, Irrsinn, Plage, blind, verrückt, Galle, Herz, Adern, Blut.

5. essen, Speise, Nahrung, Futter, Appetit, süß, Fleisch, trinken.

Darüber hinaus wurde unter den Stichwörtern
Liebe, Lust, Begierde, Sex, Ärger, Aggression, Zorn, Wut und Haß gesucht.

Latein:

- irarum ardor- ardere furore (iracundia)- ardere odio- inflammare odium suum