Neueste älteste Leiden Werthers
Neueste älteste Leiden Werthers Die mit diesem Titel angekündigten Leiden können mit den ältesten begonnen werden, beispielsweise mit denen des Ritters von der traurigen Gestalt aus der Mancha. Um das Jahr 1600 bezweifelt in Cervantes' Roman Sancho die Existenz der holden Dulcinea, der hohen Minne Don Quijotes. Dieser gibt ihm daraufhin die rechte Antwort. "Sonach, Sancho, wozu ich Dulcinea lieb habe, dazu ist sie mir soviel wert wie die erhabenste Prinzessin auf Erden. So ist's, und nicht alle Poeten, welche eine Geliebte unter einem Namen besitzen, den sie ihr nach Belieben beilegen, haben eine solche in Wirklichkeit. ...Und so genügt es mir, dass ich denke und glaube, die treffliche Aldonza Lorenzo sei schön und sittig, und was ihren Stammbaum betrifft, das tut wenig zur Sache: ...Denn du musst wissen, Sancho, wenn du es nicht schon weißt: zwei Dinge allein vor allen bewegen das Herz zur Liebe, nämlich große Schönheit und guter Ruf, und beides findet sich in höchstem Grade bei Dulcinea; ...ich male sie mir in meinem Geiste, wie ich sie mir wünsche, ebenso an Schönheit wie an Vornehmheit; und ihr kommt Helena nicht nahe noch reicht Lucrezia an sie heran..." (Miguel de Cervantes Saavedra. Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. dt. Ludwig Braunfels. München: Winkler 1973, S.237) Wir alle wissen, wie solche Einbildung endet. Sancho versucht Don Quijote durch die Konfrontation mit einer gräßlich-häßlichen Bäuerin zu 'heilen', also seine Einbildung zu 'entzaubern'. Er scheitert aber schmälich an Don Quijotes Phantasie, an dessen Imaginationssystem ist einfach nicht zu rütteln. Don Quijote starrt auf die abstoßende Realität, ein kurzes Nachdenken, nun, dann muss diese halt verzaubert sein. "Sancho, was bedünket dich, wie verhasst ich den Zauberern bin? Und sieh, wie weit sich ihre Bosheit erstreckt und die Feindseligkeit, die sie gegen mich hegen, da sie mich der Freude berauben wollten, die es mir bereitet hätte, meine Gebieterin in ihrer wahren Wesenheit zu erschauen. In der Tat, ich bin geboren, um das Vorbild aller vom Glück Verlassenen zu sein, Zielpunkt und Schießscheibe für alle Pfeile des Mißgeschicks." (a.a.O., S.617f.) An der Bedeutung oder Funktion dieser unerschütterlichen Einbildungskraft für das allgemeine Thema des Symposions soll hier festgehalten werden. Wenn also von 'Leiden' die Rede ist - vom Fieber etwa, in dem der junge Werther verbrennt, in das sein Buch seine Leser versetzt, und das jetzt vom Modem ersetzt werden soll - dann ist damit doch wohl ein bestimmtes Spiel der Phantasie am Kreuzungspunkt von (Außen-)Wahrnehmung und (Innen-)Konzept gemeint, ein Schnittpunkt, an dem diese beiden Dinge nicht übereinstimmen. Eben an der Auflösung dieser Spannung, Reibung, Nichtentsprechung arbeitet Don Quijotes Phantasie, darin besteht ihr Leiden. Nicht allein seines.Wir Leserinnen oder Leser etwa weinen oder lachen über ihn, weil wir ja eben so vollkommen verrückt wie er auf etwas starren und darin sehen, was da einfach, jedenfalls so einfach nicht ist: Ritterheere statt banaler Windmühlen, schöne Frauen statt häßlicher Bäuerinnen, dünne oder dicke Männer, das Leben Don Quijotes eben statt der dünnen oder dicken Buchstaben auf dem Papier.
Wenn wir mit Marshall McLuhan den Menschen als "Fortpflanzungsorgan der Welt der Technik" darstellen
d.h. also
dann könnte man den Weg, auf dem der Schriftstellermensch die Schrift, also die Technik der Erzeugung, Übermittlung und Aufbewahrung von Kommunikationen 'stellt' oder fortpflanzt, vielleicht mit einem umgekehrten und etwas variierten Derrida als Weg "Von der Differenz zur Anbahnung" beschreiben. Manche werden sich wohl noch an den Klassiker der Dekonstruktion "Die Schrift und die Differenz" erinnern, zumindest an den zentralen Abschnitt über "Freud und der Schauplatz der Schrift". Hier rekonstruiert Derrida Freuds Versuche, die Seelenarbeit oder den psychischen Apparat zu beschreiben, als Weg von der "Bahnung" zur "Differenz". Freud - und mit ihm Derrida - nutzt drei Modelle: erstens ein neurologisches, dem Forschungsstand der damaligen Zeit entsprechend, das die Psyche als Zusammensetzung sog. "Wahrnehmungs-" und "Gedächtnisneuronen" vorstellt, welche Wahrnehmungsspuren, sogenannte Engramme aufschreiben und festhalten Derrida stellt nun die drei Modelle nicht als Metaphern, bloße Bilder für etwas in Frage. Apriori sind Psyche, Technik und Text in einem Prozeß amalgamiert. Seine Fragen lauten somit: "Nicht, ob das Psychische tatsächlich eine Art von Text ist, , sondern was ein Text ist und was das Psychische sein muss, um vermittels eines Textes dargestellt werden zu können. Denn wenn es weder Maschine noch Text ohne psychischen Ursprung gibt, dann gibt es keine textlose Psyche. Welcher Art muss schließlich das Verhältnis zwischen dem Psychischen, der Schrift und der Verräumlichung sein, damit ein solcher metaphorischer Durchgang möglich wird; und das nicht nur in erster Linie im Innern eines theoretischen Diskurses, sondern in der Geschichte des Psychischen, des Textes und der Technik?" (Jacques Derrida. Die Schrift und die Differenz. dt. Rodolphe Gasché. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S.306) Hier soll ebenfalls nicht von oder über etwas 'bloß Metaphorisches' geredet werden, sowieso eine abwertende Redewendung, die der "Macht der Metapher" (Gerhard Gamm) in keiner Weise gerecht wird. Vielmehr werden Psyche, Texte und Apparate oder Maschinen als untrennbar in- oder miteinander prozessierend behandelt. D.h. Texte - das, was wir lesen und schreiben können - werden im obigen Sinne verstanden als jene genannten Kreuzungspunkte oder Schnittstellen von äußeren Wahrnehmungen durch sensorische Maschinen mit den inneren Konzepten der sogenannten Psyche. An diesen Schnittstellen werden deren Nichtübereinstimmung, ihre Konflikte oder Reibungen, eben als "Leiden", als Lust oder Schmerz oder beides artikuliert. Wortwörtlich werden hier die Empfindungen in differenzierbare Abschnitte geteilt, in Artikel gebracht, das heißt genau in eine Schrift, in eine Buchstaben-, Bilder-, eine Zeichenreihe.
Man kann das mittlere der genannten Modelle nehmen, die Sehmaschine oder das Fernrohr, um daran zwei Qualitäten der anderen abzusetzen und ihren Übergang deutlicher zu machen. Das 4.Vorkapitel - insgesamt gibt es davon sechs, plus den umfangreichen "Anhang der ernsten Ausschweifungen für Leserinnen" von Jean Pauls letztem, Fragment gebliebenen Roman "Der Komet" -, überschrieben "Liebschaften aus der Ferne nebst dem Prinzessinenraub", beginnt mit folgender Urszene: "Bis auf diese Zeile wurde mit keiner der Liebe des Helden gedacht, und die Welt wartet noch auf das erste Wort davon; - und das soll auch kommen - denn ob wir alle gleich in den Zeiten der Vorkapitel leben, wo die Helden nirgends zum Vorschein kommen als im Hintergrunde: so wieß doch jeder Leser, was Liebe ist, nämlich der hebende Sauerteig der Jugend - die Bienekönigin des jugendlichen Gedankenschwarms (...) Auch brauchte Nikolaus nicht erst auf die Zufuhr zu warten, welche etwan die oben gedachten Wagen voll Prinzessinnen in seinem Herzen auszuladen hatten, um es zu füllen. Wahrhaftig, es stand nie lehr, und er liebte hinlänglich; nur wußt' es keine Geliebte, denn er betete jede Dulzinea immer in solcher Ferne an und hielt ihr in so tiefem Hintergrunde auf den Knien sich als personifizierten Liebhaber hin, dass keine etwas erwidern konnte, die nicht ein Sehrohr der Blicke und ein Hörrohr der Seufzer in der Tasche hatte. (...) Ja er hatte sogar einmal (verwegen genug) seine Liebe einer himmlischen jungen Freiin von ....innerlich erklärt und sich kein Bedenken daraus gemacht, sie jeden Morgen während ihrer Sing- und Klavierstunden zu sehen, indem er auf den Turm stieg, und aus dem Schalloch heraus solche mit einem schlechten Fernglase aus ihrer Stube zu sich hinan- und hinaufzog."(Jean Paul. Der Komet oder Nikolaus Marggraf. in: Werke in zwölf Bänden. hrsg. v. Norbert Miller. München: Hanser 1975, Bd.11, S.625f.) Man bemerkt leicht, dass es sich um einen weiteren Don Quijote handelt. Wieder lesen wir von einem, der auszieht, sich die anderen so zurecht zu machen, dass er sie zu sich hinan und hinauf zu ziehen vermag, und das Fürchten dabei jedenfalls nicht lernt. Es handelt sich eben nur um eine einfache, triviale Sehmaschine, ein schlechtes Fernglas, das die Distanz zwischen der Seele und dem Objekt ihrer Begierde erst herstellt und dann festhält, das eine Projektion, eine Übermittlung erlaubt und fixiert, einen Entwurf und seine Speicherung. Wir Leserinnen/Leser freuen uns und lachen, wir halten eben dieses schlechte Fernglas, das Jean Paulsche Fragment in Händen und schauen aus sicherer Distanz durch die Buchstaben hindurch auf einen Entwurf von uns.
"Der Wunderblock ist eine in einem Papierrand gefasste Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am oberen Ende der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr frei anliegend. Dieses Blatt ist der interesantere Teil des kleinen Apparates. Es besteht selbst aus zwei Schichten, die außer an den beiden queren Rändern voneinander abgehoben werden können. Die obere Schicht ist eine durchsichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durchscheinendes Wachspapier." (Sigmund Freud. Notiz über den 'Wunderblock'. in: Gesammelte Werke.hrsg.v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey?. Frankfurt/M.: Fischer 1975, Bd.14, S.5. Bei Derrida a.a.O.,S.339) Man erinnert sich der wunderbaren Möglichkeiten, die der Apparat bei Freud bereitstellt, nämlich "das unerklärliche Phänomen des Bewusstseins" zu erklären. Es "entstehe im Wahrnehmungssystem an Stelle der Dauerspuren"(Freud, a.a.O.S.4f.), im Moment des Abhebens, Auflegens und Neubeschreibens der oberen Schicht auf der unteren, als "Aufleuchten und Vergehen des Bewusstseins bei der Wahrnehmung"(S.7), also bei der Überkreuzung der Dauerspuren mit den neuen akuten Eindrücken, ideales Modell der Differenz: Differenz des Bewusstseins zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis bei Freud Ohne auf die weitere Schriftmetaphysik einzugehen - die Schrift als "Beziehung von Leben und Tod, von Präsenz und Repräsentation"(Derrida, S.347) -, können wir doch eine nicht unwichtige Differenz hier hinzufügen, nämlich die Differenz des Buchs, in oder an dessen Blättern das Bewusstsein aufleuchtet, wenn seine Schrift gelesen wird. Nicht irgendeine Schrift, vielmehr die Geschichte ihrer Entstehung durch die Herstellung eines Wunderblocks, des Buchs, von der Entstehung des Bewusstseins durch Bücher, durch den Don Quijote, den Werther, den Kometen Nikolaus Marggraf, Madame Bovary... Im 20.Jhdt. wird solche gebrochene Autopoiesis zum Programm ganzer Schulen, den seriellen Texten des Nouveau Roman etwa, sie treibt den "Schatten des Körpers des Kutschers" (1960) v. Peter Weiss, die "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt"(1969) Peter Handkes, auch noch Wolf Wondratscheks "Bauer(n)", der "mit der Bäuerin einen Bauernjungen zeugt, der unbedingt Knecht werden will."(1970) Das Buch bildet keine einfache Maschine mehr, jedes Abheben des Blattes und Auflegen auf das zurückliegende läßt tausendundeine anderer Geschichten durchscheinen, und beleuchtet wird dabei immer eines: die Differenz zwischen den schwarzen Buchstabenreihen auf dem weißen Papier zu den 'lebendigen Vorstellungen' dahinter, zu unserer Phantasie.
Bereits Jean Paul hattte seine Texte als eine Art Hypertext gebaut: vielfache Ab- und Ausschweifungen, Fußnoten und Einschübe, ständige Digressionen wie bei Lawrence Sterne, Geschichten in der Geschichte... Nur: In Büchern verlaufen diese weiter ganz ordentlich von Blatt zu Blatt, und so lesen wir alles dann auch. Wer - ausgenommen vielleicht die Literaturwissenschaftler - liest den tatsächlich vor und zurück, mal hier und dann da? Möglicherweise mal eine Stelle, zur Absicherung einer Erinnerung vielleicht. Das Leiden, der erregende Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Einbildung wird dabei allerdings stärker. Die Einbildung gibt sich immer weniger mit dem bösen Schein der Zauberer zufrieden, sie sucht ihn selbst immer effektiver zu bearbeiten. Don Quijote dreht sich angesichts einer hässlichen Außenwelt, für ihn nur das durchsichtige Spiel der Zauberer gegen seine idealen Vorstellungen, noch resigniert um und geht. Bei "der Stelle eines lieben Buches" treffen Werther und Lottens Herz "in einem zusammen".(Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werther. hrsg.v. Erich Trunz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S.75) Es genügt vollkommen, dass sie "Klopstock" sagt, um beide in einem "Strome von Empfindungen"(S.27) versinken zu lassen - eine Quelle großer Heiterkeit für uns Nachgeborene - für Werther allerdings, Emma Bovary, einige andere noch Ursache oder letzter Auslöser des Suicids, wo nun einmal die lieben Bücher und das banale Leben einfach nicht zur Übereinstimung zu bringen sind. Allerdings gibt es - im Zuge des laufenden Verrats der Literatur gegenüber ihrem bisherigen getreuen Medium, dem Buch, also mit ihrem sukzessiven Auszug aus diesem trauten Heim und der Übersiedelung in die fremde Welt elektromagnetischer Ladungen und lichtgeschwinder Übertragungen, sprich in die vollkommen promiskuitiven Verhältnisse der Rechner und ihrer Vernetzungen - erste Annäherungen. Hier gibt es endgültig nicht mehr ein einziges Fortpflanzungsorgan der Kommunikationstechnik, den Schriftsteller oder Autor, der sie, die Literatur, in die Welt stellt und darunter leidet, dass sie kein wirkliches Leben annehmen will. Hier schreiben möglicherweise gleich mehrere - Menschen, Männer, Frauen, Maschinen? Die Unsicherheit über die neuen Briefsteller ist am Anwachsen - den Text, und (zusammen-)gestellt wird er auch noch mehr oder weniger automatisch von Programmen, die zu allem Überfluss noch Bilder oder gar Töne dazwischenwerfen, die vom Lesen der Buchstabenreihen weg ins Sehen und Hören der ungewohnten Kombinationen führen. Als Beispiel mag Susanne Berkenhegers Hyperfiction "Zeit für die Bombe" dienen, vor allem, weil sie recht deutlich obigen Widerspruch, unser Leiden fortsetzt, aber im skizzierten Sinne auch transformiert, aus den Büchern heraus auf die Abwege des neuen Mediums führt. Dabei sollen Thomas Kamphusmann folgend keine Lesestränge herauspräpariert werden, " Erst mit dem Herauspräparieren derartiger Lesestränge - die in diesem Fall eine Reihe klischeehafter motivischer Elemente und zusammengenommen eine ebenfalls klischeehafte Opposition von Liebe und Wahnsinn aktualisieren - ist die materiale Basis für eine Segmentierung gegeben, die örtlich, motivisch, inhaltlich oder nach anderen Kriterien in oppositionelle Beziehungen gesetzt werden können - ungeachtet der im vorliegenden Fall geringen Ergiebigkeit der Analyse."(Thomas Kamphusmann. Literatur auf dem Rechner. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S.180) In diesem Text als Text, die Buchstabenreihen ablesend, bekommt der Leser/die Leserin im Dreieck Veronika/Vladimir/Iwan wohl Realisierungsangebote für seine Phantasien, die weit über die Lotte/Werther/Albert-Konstellation hinausgehen und ihren magischen 'Klopstock' hinausgehen: "Das konnte Vladimir nicht überhören. Tausend Sägeblätter zerkleinerten die Luft - Veronika hatte geläutet. Der Türöffner befahl: Drück mich!' Genauso würde Veronika auch gleich dastehen. Stehen? Das wohl kaum. Geflogen kam sie - in hohem Bogen und in einer Wolke von Glück und Schweiß. Vladimir, der schon auf vielen abgetretenen Rasen im Tor gestanden hatte, versuchte redlich das jauchzende, fliegende Bündel zu fangen (...)
Aber nicht solche Anregung sondern das "Drück mich!" hier ist wohl wichtiger, an einer der nicht bloß semantisch ausgezeichneten Stellen, da, wo der Text etwas mehr ist, wo er eben Hypertext ist und sagt, "Drück mich, ich bin ein Link!". Nach Kamphusmann sind das die winzigen aber wesentlichen durchscheinenden Stellen oder Interfaces, Berührungsstellen, die über das Augeninterface des Buches und seine Auslösungen imaginärer Prozesse hinausgehen, die die Kooperation von LeserIn und Text über solche Linkmaschine laufend erlauben. Sie erst transformieren den endlichen (Buch-)Text in den tendenziell unendlichen (Hyper)Text und machen den Leser zum direkten Auslöser - nein, eben nicht primär seiner Phantasieverläufe sondern eben - der Textverläufe, vieler verschiedener Textverläufe, Text-Bildverläufe. Was sich hier anbahnt - der Durch- oder Übergang des Lesens - wieder nein, nicht ins Schreiben, da bliebe obige Distanz oder Differenz zur (trivialen oder komplexen) Wahrnehmungsmaschine gewahrt - vielmehr ins direkte Codieren, ins Übersetzen einer energetischen, materiellen und/oder signifikanten Reihe in eine andere durch die direkte Koppelung von Wahrnehmungsprozess, Körpersensorik und -aktion und Wahrnehmungsmaschine oder Maschinen, das Zusammenspiel von Augen-Monitor und Finger-Tastatur mit dem Rechner, die Kontaktaufnahme zwischen Bewusstsein, Prozessieren und Speichern - das ist am ehesten am Schluss, d.h. an den "metanarrativen Schlussankündigungen"(Kamphusmann) von "Zeit für die Bombe" abzulesen - wortwörtlich ab-zulesen, vom Text zur Aktion wegzulesen. "Der glückliche Iwan wurde vor Veronikas Augen in tausend Schmerzen zerrissen. (...) Das Ende? Veronika erwachte nie wieder. Sie träumte nur mehr von jener Zeit in Moskau, die sie nicht verstand, die wie ein Igel zusammengeschnurrt war. An der trügerisch festen Leine der Taxometer, erlebte Veronika die letzten Tage ihres Bewußtseins wieder und wieder - nur jedesmal anders und immer fehlte ihr die Hälfte. ' Wie hing das nur alles zusammen?' wollte sie wissen. Immer wieder explodierte in ihren Komaträumen das Ende der Geschichte und sie dachte dann: 'Das gibst doch nicht!' - und begann die Suche nach verstreuten roten Fetzen nochmal von vorn." (url bei 63Dollar 77 Dollar einfügen) Das ist eben kein 'richtiger' Schluss, es ist wieder nur ein 'dichter' Link, Absprungspunkt für die "Rückkehr" wieder in ein "halbes Bewusstsein", eine halbierte Geschichte. Das andere, die andere Hälfte ist "Drück mich", "Klick mich", es könnte etwas ganz anderes passieren... Auf die Anbahnung hat diese Überlegungen Uwe Wirth mit seinem "Schwatzhaften Schriftverkehr" gebracht, der das dieser Dokumentation vorausliegende Treffen in Romanmôtier wohl angebahnt hat. (Uwe Wirth. Chatten im Zeitalter des Modemfiebers", in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.). Praxis Internet. Frankfurt/M.:Suhrkamp 2002) Hier bestimmt er das Chatten im Unterschied zum Briefeschreiben, das Freundschaften erhält - bei der Liebe sind Zweifel angebracht, siehe Kafkas "Schriftverkehr" -, als eine Kommunikationsform, die Freundschaften anbahnt, und begreift den Nickname im Chat als ersten "indexikalischem Strohhalm"(Sassen), der erlaubt, einen Anderen etwas zu erkunden, "mit dem man noch nicht in Kontakt getreten ist"(Wirth, a.a.O., S.218). Mag sein. So haben aber Augenzwinkern, geheime Zettel unter der Schulbank, Briefe an wen wo immer Gesehene etc. doch schon lange funktioniert, das trifft wohl nicht die entscheidende Transformation dieser bekannten Kommunikationen in rechnergestützten vernetzten Kommunikationsprozessen. Sie mag sich eventuell auch gar nicht im Chat abspielen, da gibts hin und wieder sogar Redeverbot "5.Jun.2002, 12:57 Eher findet sie auf oder mit jener "Frankenstein"-CD-ROM statt, die dem Spieler/der Spielerin erlaubt, sich sein Monster nach Wunsch zusammenzusetzen - Glied für Glied, Auge um Auge (http://www.geocities.com/Hollywood/Boulevard/3944/frankenstein.html) Hier wird die etymologische Bedeutung des Monsters - das Wort leitet sich ab vom lat. monstrare: zeigen, sich sich selbst zu zeigen, sich im Monster zu zeigen, eben wie lange gesagt Fortpflanzungsorgan von Technik zu sein. Der diesjährige Preisträger des Klagenfurter I.Bachmann-Preises Peter Glaser hat - etwas weniger Rocky-Horror-mäßig - etwas näher an unseren literarischen Liebesdiskursen, diese Transformation als Chat mit der Maschine dargestellt. Seine Dulcinea heißt Rosa, sein Minnelied wird von POE (Poesie-Erzeugungs-Maschine) geschrieben. Die Liebesdiskurse hören nie auf, sie wechseln nur ihre PartnerInnen, eben genau so, wie die Literatur ihre Medien.
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