Vorbemerkung
Der Titel unseres kleinen Beitrags ist, wie unschwer erkennbar, ein um
die erste 'Innenwelt' verkürzter früher Handke-Titel. Wir habe ihn programmatisch
verkürzt, ganz bewußt eine Leerstelle da lassend, wo Handke - der späte
auf jeden Fall - durchaus pathetisch von einer Innenwelt redet, und wo
wir, vorsichtig und unabgesichert, von einem Zwischen, eventuell einer
'Zwischenwelt' sprechen würden: den literarischen oder ästhetischen Prozessen
zwischen Menschen, Medien und Maschinen, Programmen, paradoxen Prozessen,
geregelt, unerwartet, unerwartet geregelt. In Handkes Textsammlung von
1969 - dem linguistic turn dieser Zeit gehorchend sollen hier keine Geschichten
erzählt werden, höchstens das Entstehen von Geschichten aus "grammatischen
Modellen"
(1) - findet sich als eine Art
short story die Nr. 18 mit der Überschrift
Die Buchstabenformen,
die metaliterarisch so beginnt:
(2)
Peter Handke soll hier jetzt um Gottes Willen nicht als Urvater interaktiver
Literatur vorgestellt werden. Am Ende beharrte Handke ja doch sehr konsequent
auf der klassischen Autorposition, und auch in Die Innenwelt der
Außenwelt der Innenwelt ging es schließlich um pure Imaginationsräume,
die von der Materialität der Zeichen, hier also etwa den Buchstabenformen,
der sichtbaren Letterngestalt, immer nur angestoßen, ein wenig geöffnet
werden können, evtl. produktiv gestört...
(3)
Diese Buchstaben werden im Verlauf des Textes immer größer, aufdringlicher,
störender, hindern den Kapitän schließlich an der Lektüre,
(4)
In der Folge hat Handke solche störenden Lettern ebenfalls beiseite gelegt
und wieder eindeutig lange oder kurze, jedenfalls ordentliche Bücher geschrieben,
Anstöße, Ermöglichungen, Öffnungen von Innenwelten. Handkes "Satzspiele"
allerdings sind auch ohne ihn weitergegangen, die Lettern haben sich in
gewisser Weise noch selbständiger gemacht, das L etwa - mit dem alle
Literatur
ja beginnt - hat sich aus dem Buch heraus in ganz andere Medien begeben,
etwa zeitgleich mit der Publikation der frühen und wie man sieht bis heute
anregenden Handke-Sammlung wie folgt:
"Es war keine leichte Geburt, als am 1. Oktober 1969 erstmals zwei
Rechner lernten, miteinander zu kommunizieren.", beginnt ein Bericht
über "Die Zukunft des Internets". Der erste Buchstabe dieser Kommunikation
scheint ihr jedenfalls direkt entsprungen.
"'Ich tippe jetzt ein > L <!' brüllte Kline in den Hörer.
...Dann drückte er auf seine Tastatur, und per Modem wurde das >
L < über eine Standleitung zum Rechner nach Menlo Park geschickt.
...Das >ARPAnet< war geboren, der Vorläufer des Internets."(5)
Krise der Mimesis
1969 markiert in gewissem Sinne eine extreme Krise der Mimesis in der
Dichtkunst, versteht man mit Aristoteles, für den sie ja "insgesamt Nachahmungen"
praktiziert, darunter eben Nachahmungen
- "in verschiedenem Material"
- "oder verschiedenen Gegenständen"
- "oder auf verschiedene Art und Weise".(6)
Wie man sehen kann treten die Buchstabenformen aus der Erzählung heraus,
sie stören die Lektüre. D.h. genauer, sie ahmen mit ihren Formen Raum-
oder Körperformen nach, diskrete Zeichenfolgen werden in analoge Elemente
übersetzt, in einer dem Referenzobjekt visuell ähnlichen Form präsentiert.
So gerät die Literatur, geraten Texte, Buchstaben in eine irritierende
Vermischung mit Bildern, Räumen und Handlungen, Text und Kontext experimentieren
mit neuen Relationen. Ohne jetzt gleich die damals beginnenden Reden vom
"Ende der Schrift", dem "Schluß mit dem Erzählen", dem endgültigen Eintritt
des "visuellen Zeitalters" fortzusetzen, oder gar die als Medientheorien
daherkommenden voreiligen Behauptungen eines neuen Analphabetismus, sollen
folgend zwei Gedanken zu Entstehung und Effekten solcher Text-Bild-Mischungen
formuliert werden, zu Ursprung und Tendenzen der angesprochenen Krise
der Mimesis.
Der erste wäre in etwa dieser: die genannte Verwirrung tritt ganz unabwendbar
im Zuge der Evolution der neuen und neuesten Medien ein. In dem Maße
nämlich, wie sich technisch immer perfektere Formen der direkten
Aufzeichnung von Materie-Energie-Ereignissen in Materie-Energie-Ereignissen
entwickeln, eine Art extremer Mimesis möglich wird, die 1/1-Abbildung
etwa von Schall oder Licht auf Schallplatte, Zelluloid, Magnetband etc.,
die zudem zunehmend über Rechnertechnologien mit ihren digitalen Codierungen
gesteuert wird, deren Form wiederum absolut Nichts (0/1) zu tun hat
mit den übermittelten, übersetzten oder transportierten Formen, gibt
es tatsächlich ein extremes Auseinandertreten der Elemente des semiotischen
Prozesses. Digitale Zeichenfolgen steuern Abbildungsvorgänge, bei denen
sowohl Kopien entstehen können, die "besser" sind als das Original,
in welcher Hinsicht auch immer, genausogut aber auch Dinge, die mit
dem Original rein gar nichts mehr zu tun haben. So tritt die Verwirrung
also gerade dadurch ein, daß sich soetwas wie ein pures Abbild
herausfiltern läßt, das in einem zumindest logischen Gegensatz zu der
puren Information steht, die den Abbildungsprozeß steuert. Schließlich
ist so ein ganzes Spektrum von 1/1- Abbildungen über wahrscheinliche,
ähnliche, in Teilen entsprechende Formen bis zu vollkommen freien, gänzlich
unähnlichen Transformationen abschreitbar geworden, von der natura naturans
zur natura naturata wird tendenziell jede Version generierbar.
Liest man daraufhin Aristoteles Poetik nochmals, so ist man
damit eigentlich endlich bei der Realisierung seines Ideen angelangt,
sofern poetische Mimesis ja doch etwas anderes machen soll, als ihr
Vorbild "in Wirklichkeit" ist, nämlich "Handlungen erfinden", indem
es sie nachahmt.(7)
Hieran anschließend wäre ein zweiter Gedanke formulierbar, der unser
eigentliches Titelthema betrifft. Eine in der Evolution, der Ausdifferenzierung
der Künste oder des Systems Kunst - zumindest ihrer Geschichtsschreibung
und Theoretisierung - als Autonomiesierungsprozeß hinreichend beschriebenene
Tendenz zur Abtrennung der "oralen", "gestischen", "audio-visuellen"
Anteile von Literatur und Kunst kann unter den skizzierten medientechnischen
Bedingungen durchaus neu oder anders systematisiert werden. Der sogenannte
Autonomiesierungsprozeß ist ja sehr gut auch als Stillstellungsprozeß
der Rezipienten beschreibbar, als Weg von der lauten Aufführung von
Literatur zum still-in-sich-versenkten Lesen, ebenso in der Kunst als
Schritte von einer magisch-religiös-therapeutischen Praxis mit Bildern
zum auratischen, konzentrierten, eben bewegungslosen Bildverstehen.
Ein auf diesem Weg verdrängtes, jedenfalls von der Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung
lange Zeit verdrängtes Wechselspiel von Texten und Bildern in Räumen,
eben ein sehr vielfältiges, in seiner Komplexität noch keineswegs überschaubares
ästhetisches Handeln läßt sich nun an dem studieren, was wir - zugegebenermaßen
mit einem Hilfsbegriff - die Geschichte der interaktiven Literatur
nennen. Es handelt sich um ein Projekt, in dem wir, angeregt von
aktuellen Formen, die jene obige Vermischung praktizieren, zunächst
einmal so etwas wie die Archäologie des Zusammenwirkens und Auseinandertretens
von Texten und Bildern über Handlungen, das Interagieren von Menschen
über Medien mit ästhetischen Objekten, minimalen Elementen bis ausgeführten
Werken betreiben wollen, ihre Geschichte und Systematik zu eruieren
und zu beschreiben versuchen.
Seit 1969 haben sich dabei viele Dinge also eher im Sinne jener Buchstabenformen
weiterentwickelt, eher im Sinne solcher von Handke damals betriebenen
Visualisierung zum Beispiel, als Moment einer "visuellen Zeitenwende",
die ja von McLuhan über Flusser bis Bolz von vielen verkündet worden
ist. Auch ein Symposion "Krise der Mimesis" läßt sich wohl als eine
Art Fortsetzung oder Reaktion auf diese Verkündigungen verstehen, nach
den vorschnellen und kurzschlüssigen Reden vom "Ende der Schrift" als
Differenzierungen. So hat die Schrift, d.h. die gedruckte Schrift und
ihr Reich, die Gutenberg-Galaxis, nicht einfach die Oralität, Gestik,
Mimik etc. abgelöst, diesen Nachweis hat neben anderen Horst Wenzel
geführt.(8) Ebensowenig wird aktuell
die Schrift durch Multimedia, Netze, durchs Reich der sogenannten Turing-Galaxis
abgelöst, die reichen Innenwelten durch oberflächliche, platte Außenwelten,
durch "Krach mit Bildern", wie es eine meist wenig informierte Kulturkritik
gern hätte.
Solche Differenzierung soll hier also ein wenig vorangetrieben werden,
und zwar entlang theoretischer wie praktischer Möglichkeiten eines derzeit
kurrenten Begriffs, der sogenannten Interaktivität. Sie soll dabei allerdings
sehr eingegrenzt werden, eben auf eine der wohl ältesten ästhetischen
Tätigkeiten, die Literatur, das Erzählen, Geschichten machen.
Der Mouse-Klick
Die inzwischen ja bereits inflationäre Rede über interaktive Medien wird
bezeichnenderweise sehr unscharf, wo sie sich mit literarischen Medien
oder Literatur überhaupt verbindet. Was bisher - jedenfalls für ein breiteres
Publikum - an sogenannten interaktiven Möglichkeiten zur Verfügung gestellt
wird, ist klar definiert und beschränkt sich in der Regel auf einen einfachen
Maus-Klick: ja, hiermit bestelle ich Oberhemd-Nr. sowieso vom Otto-Versand;
312 DM umbuchen von Kto. hier auf Kto.da; (eventuell im Jahr ...2006:
nein, ich möchte Fischer nicht als Kanzler, Schröder soll bleiben?).
Für Literatur bezöge sich das auf die Distribution, also nichts als
Buchbestellung über die elektronischen Netze, vielleicht noch das individuelle
Ausdrucken - wohl nicht der Handkeschen Niemandsbucht (1066 Seiten),
aber wohl doch des Versuchs über die Müdigkeit (80 Seiten).
Das alles hat mit dem in der Idee der Interaktivität offenbar virulenten
Kern wenig zu tun, gehört wohl eher zu jenen Rationalisierungsstrategien,
in deren Zuge jeder sein Gemüse jetzt selbst abwiegen darf.
Weit interessanter - aber eben auch ungenauer - wird die Idee, sucht
man sie nicht in den neuen Distributionsmöglichkeiten für fertige Dinge,
hier etwa Zeitschriften oder Bücher, sondern im Unfertigen, in dem,
was während der Distribution mit den Zeichen und Bildern passiert.
Scott Lash hat kürzlich die These vertreten, wir gingen in eine 2-Technologien-Kultur:
eine monopolistisch organisierte Informations-Technologie, die alle
ökonomisch relevanten Kommunikationen nach und nach beherrscht (Stichwort
B. Gates Microsoft), und eine dezentrale, regionale...Multimedia-Kultur,
in der Teilnehmer nicht hier aktiv schreiben, filmen, musizieren...und
dann da passiv lesen, sehen, hören..., vielmehr (als User eines Systems)
interaktiv sind: ein verteilter, multisensorieller, die generierenden
und die rezipierenden Positionen ständig wechselnder Austausch von Ideen,
Konzepten, Stücken, ...auch Werken zwischen Menschen und Medien. Dieser
Austausch funktioniere eher nach Regeln des Spiels -Fußball, Schach,
Adventure-game... - als nach traditionellen linearen Modellen - etwa
dem einer zu lesenden Geschichte mit Anfang, Peripetie, katastrophalem
Ende. Wie beim Fußball mit seiner direkten, an momentaner Spannung interessierten
Teilnahme, einem eher energetischen Austausch, gehe es hier um blitzschnelle
Kombinationsgabe, intellektuelles Kräftemessen statt um distanzierte,
reflexive bis meditative Zeichenkommunikation.
Bei allen Zweifeln - an der behaupteten Differenz der zwei Technologien,
an der vorschnellen, strikten Opposition von Spiel vs. Narration...
- nähern sich diese Überlegungen den aktuellen Tendenzen: der Interaktivität
als momentaner, punktueller, am Kick, der plötzlichen, überraschenden
Assoziation orientierter Austauschbewegung zwischen Menschen-Medien-Maschinen-Programmen...
Innehalten
Wenn von interaktiver Literatur geredet wird, sollte zunächst einiges
auseinandergehalten werden, systematische Unterscheidungen wie historische
Entwicklungen. Nicht einfach aus philologischem Ordnungswahn - der ist
inzwischen in fleißigen Programmen implementiert, und wir dürfen ihm getrost
ein paar begrenzte Aufgaben überlassen - , vielmehr um nicht immer wieder
der Illusion aufzusitzen, hier würde das Rad neu erfunden, vor allem um
gegenwärtige Mischformen oder Integrationen, um die eigenartigen Hybridisierungen
situieren zu können, das ganz Alte und das tatsächlich Neue daran zu erkennen.
Versteht man Literatur systematisch als Reihe von Buchstaben (lat.
littera - Buchstabe, Schrift), allgemeiner als Zeichenfolge, mit der
eine Geschichte erzählt wird, und zwar nicht willkürlich, sondern nach
- von Fall zu Fall auch strengen - Regeln, so gibt es historisch durchaus
verschiedene Formen der 'Teilnahme' an dieser Erzählung, d.h. eine Entwicklung
von Möglichkeiten, Spielformen der Interaktivität. Sie könnte selbst
wieder als Geschichte erzählt werden, deren zentraler Antrieb lautet:
Wie gelangt der Leser ins Buch, wie kann er selbst zum Handelnden jener
aufregenden Ereignisse werden?
Eine erste Antwort, die von Literaturwissenschaftlern schon lange gegeben
und mit Beispielen von Cervantes bis Pirandello illustriert wird, lautet:
Der Leser ist doch längst darin, er selbst ist es ja, dem all die gefährlichen,
unwahrscheinlichen, wunderbaren Dinge zustoßen. Die Helden der Bücher
sind doch immer schon die Leser! Und zwar ideale Leser, Leseratten,
Buchgläubige. Don Quijote hat zuviele Ritterromane gelesen, hält sich
selbst für einen Ritter und gerät mit dieser Selbstverwechslung prompt
in die verrücktesten Situationen. Emma Bovary liest zuviele Liebesromane
- Schund, Schmöker, gefährlichen Kitsch -, hält ihre Liebhaber für direkte
Nachkommen der edlen Ritter..., und bringt sich verzeifelt um, als sie
ihren Irrtum bemerken muß. Adson, Bruder William... wir alle lesen gebannt
in den blutigen Zeichen im "Namen der Rose" und werden zu Experten im
Spurenlesen und Täterprofile erstellen, "Zeichen von Zeichen weitergebend"
heißt es bei Eco. Indem wir lesen, schreiben wir, assoziieren erst die
Geschichten auf unsere Weise zusammen oder zuende, und alle Schreiber
waren und sind natürlich excessive Leser. Die Bücher sprechen miteinander,
alle Texte sind auf gewisse Weise ineinander verwoben. Von Bachtins
Dialogizität über Kristevas Intertextualität zur aktuellen
Intermedialität wird dieser Dialog der Zeichen ja seit längerem
systematisiert. Aber das ist noch keine Interaktivität, oder nur eine
sehr spirituelle. Die körperlichen Positionen und physischen Bewegungen
bleiben klar verteilt: Jemand schreibt; über ein Medium - Papier, Buch,
Zeitung...- gelangt das in die Hände von jemand, der es liest, eventuell
auch selber schreibt, und immer so weiter.
Etwas deutlicher werden die Verhältnisse, wenn man auf die Kunst schaut,
die seit der Antike den Buchstaben zum Leben, d.h. zum Handeln, zur
actio bringen will, aufs Theater. Aus Zeitgründen muß ich all die Formen,
Bewegungen, Initiativen ignorieren, die den Zuschauer, das Volk, die
Straße... ins Geschehen einzubeziehen trachteten und trachten, von der
commedia del arte zu Fluxus, Happening oder Performance.
Stattdessen beschränke ich mich auf eine Linie, die obiger selbstreflexiver
Literatur parallel läuft, vom Hamlet über den Gestiefelten
Kater zu Sechs Personen suchen einen Autor. Das Spiel im
Spiel, das hier getrieben wird, ist komplex motiviert und zeitigt diverse
Effekte, von denen ich auch wieder nur einen benennen will, eine Art
Übersprungseffekt. Wenn Hamlets Mutter und Onkel in dem ihnen vorgeführten
Stück eine Anspielung auf ihr eigenes verbrecherisches Tun zu erkennen
glauben und sich entsprechend als Ertappte verhalten, wenn also Hamlets
Vermutung zur Gewißheit wird, ist ja nicht bloß ein kriminalistischer
Verdacht mit theatralischen Mitteln abgesichert. Vielmehr führen innere
Bewegungen (Gefühle und Gedanken, Ideen, Konzepte...) ganz traditionell
zu äußeren (Kopfschütteln, erbost aufstehn, die Vorstellung abbrechen...),
und doch ganz anders. Die Worte - "my words fly up, my thoughts remain
below", Claudius - , über die hier der Beweis geführt wird, d.h. die
plötzlich für beide Paare gelten, für Mutter und Onkel wie für
die Verbrecher des Stücks im Stück, verlieren im Moment dieses
Identifizierungsakts ihren Status als bloße Umsetzungsmittel, einfache
Medien, Transportkanäle zwischen Ideen und Taten. Indem sie das Spiel
ins Leben übersetzen sollen, schwer belastend, bedeutend werden, werden
sie auch in besonderer Weise ungewiß, etwas eigenes außerhalb
der Taten des Lebens wie des Spiels, über das plötzlich beide umgebogen,
gelenkt, beherrscht... werden können. Genau dies bewirkt das berüchtigte
Innehalten, erregt die sich ausbreitende Pest der Melancholie, macht
Hamlet zum ewigen Zauderer... und springt vor allem über auf uns, die
Zuschauer, bis heute. Daß das ganze Gequassel eben in dem Augenblick,
wo es sich selbst als Theater, gespielt, vorgetäuscht... bezeichnet,
als pure leere Hülse, in ein Tun wie von Sinnen umschlagen könnte und
-schlägt, läßt unsern Geist bis heute nicht ruhn.
Immer wenn sich wie hier also die Schachtel in der Schachtel nach außen
stülpt und wir uns, die Zuschauer, darin sitzen sehen, gibt es besagten
Übersprungseffekt. Er zieht exakt die Grenze zwischen all jenen spirituellen
Verflechtungen - Dialogen, Intertexten, Interdiskursen - und jenen materiellen
Austauschprozessen, die dann als Interaktivität bezeichnet werden.
Lulu
Mit den neuen, jetzt sogenannten interaktiven Medien bleiben wir im Theater-
(oder Kino-)sessel, legen allerdings das Buch aus der Hand, nehmen stattdessen
Tastatur und Maus, eventuell Kopfhörer mit Mikrophon auf den Kopf, ganz
selten gar einen Datenhelm.
Wir könnten dann z.B. ein kleines Mädchen in einem alten englischen
Schloßpark sehen, ein Buch auf dem Schoß, in dem es von einem Mädchen
in einem alten englischen Schloßpark liest, ein Buch auf dem Schoß...
(einspielen: Lulu Sprecher-Eröffnung..., CD-ROM-Beispiele?).
Es handelt sich hier nicht um eine Urenkelin der Wedekindschen Verführerin,
von sexuellen Provokationen oder auch nur Anspielungen keine Spur, diese
aktuelle Büchse der Pandora entläßt nur unschuldige Worte, Bilder, kleine
Quick-time-movies... Eigentlich eine ganz traditionell linear erzählte
Geschichte: Das Mädchen trifft einen kleinen Roboter, fliegt mit ihm
in den Weltraum, stürzt ab und landet "an der heißesten Stelle des Buchs",
d.h. in der Wüste, und erlebt so einige Abenteuer... Ein klassisches
Märchen, statt früher mit Illustrationen jetzt multimedial mit Tönen,
Musik, Animationen aufgepeppt. Also doch weiterhin ein Buch, sollte
man denken, ein elektronisches halt. Tatsächlich bleibt diese Geschichte
auf CD-ROM noch sehr nah an obiger Grenze, beschränkt sich die Interaktivität
auf den schnellen Wechsel zwischen den Text-Bild-Ton-Bausteinen, auf
die freie Wahl, welches Kapitel gelesen wird, ob Lulu zwischendurch
einen Walzer oder etwas Rap aufs Parkett legen soll. Dennoch werden
Schritte von obiger eher inneren, zur Verinnerlichung treibenden Bewegtheit
weg in eine andere Richtung getan. Ein erster sieht der skizzierten
Selbstreferentialität des Buchs im Buch, Spiels im Spiel, Films im Film...
täuschend ähnlich. Lulu ist eine exzessive Leserin, liest von einer
Leserin, und so könnte jener Übersprungseffekt bei den Leserinnen der
CD-ROM eintreten: Das bin ja ich, wo wird das hinführen... Aber hier
verhindert die Materialität des neuen Mediums das Verschwinden in der
unendlichen Spiegelflucht und die damit verbundene Duldungsstarre, das
Verharren im mehr oder weniger lustvollen Sich-etwas-erzählen-lassen.
Die Tasten müssen gedrückt, die Maus bewegt, die Buttons angeklickt,
die Links entdeckt und ausgestöbert werden, um sich die Geschichte nach
und nach in allen Verzweigungen zu erschließen. Über das Ansprechen
der äußeren Sinne - Gesichts-, Hör-, Tastsinn - hinaus ist es gerade
die Unterbrechung von deren bloßer Zuliefererfunktion für den
inneren Film der Worte und Bilder hinaus, ihre Stärkung als Eigensinne
mit anderen, unerwarteten, visuellen, akustischen, taktilen Assoziationen
folgenden Bewegungen, die aus der Leserin eine Art 'Schreiberin', jedenfalls
aus dem Betrachter den "bewegten Betrachter" (Hünnekens) machen. Eventuell
erhebt sich das Kind, die Schülerin, der Student... (das sog. Zielpublikum
dieser CD-ROM ist nicht klar definiert, das macht sie interessant) und
sucht im Bücherregal nach Infos über Weltraum, Wüsten, Kamele..., altenglische
Gartenarchitektur, oder um eine CD einzulegen und selbst zu tanzen,
oder um eine Reise anzutreten... Das alles könnte auch ein Buch auslösen,
insofern bleibt diese Realisation einer Erzählung im neuesten Medium
noch weitgehend im Rahmen des herkömmlichen.
Blick zurück nach vorn
Tatsächlich sind in der Geschichte der Literatur schon ewig Dinge konzipiert
und praktiziert worden, die heute als unerhörte Neuigkeiten verkauft werden.
Eben hier müßte die historische Linie der Print- und anderer Medien entwickelt
werden, die aufgrund ihrer Materialität, immanenten Mechanik, konstruktiver
Vorgaben bereits das obige physische Engagement während der 'Lektüre'
verlangen. Ich möchte sie kurz skizzieren.
Sicher beginnt auch sie in der Antike oder gar im alten Ägypten, wo
Jan Assmann ja den Beginn von Literatur angesiedelt hat.(9)
Aus Zeit-, vor allem Bildungsgründen kann ich dazu wenig beitragen,
selbst die ars magna combinatoria des katalanischen Mönchs, Mystikers,
Dichters, Enzyklopädisten... aggressiven Missionars Raimundus Lullus
aus dem 13. Jahrhundert muß ich weglassen, und auch noch die sogenannte
Metaphernmaschine des Universalgelehrten Athanasius Kircher aus
dem 17. Jh.(10), selbst noch den Fünffachen
Denckring der Teutschen Sprache des Barockpoeten Georg Philipp Harsdörffer.(11)
Alle drei biegen interessanterweise das lineare Lesen oder Sehen in
eine Kreisbewegung zurück, der Rezipient muß etwas drehen - bei Lullus
drei, bei Harsdörffer fünf konzentrisch angeordnete Scheiben, bei Kircher
eine Trommel in einem komplexen Spiegelkasten -, um eine mögliche Kombination
von Begriffen und Bildern zu erhalten, an die weitere Spekulationen
angeknüpft werden können. 1726 wird Lemuel Gulliver dann in jener eigenartigen
Akademie der Projektemacher von Lagado ein Apparat vorgeführt, der seinem
Anspruch nach durchaus mit heutigen Hochleistungsrechnern konkurrieren
könnte, eine Art Würfelmaschine, auf der "alle Worte der Landessprache"
verzeichnet sind.
"Durch eine plötzliche Drehung wurde die ganze Anordnung verändert.
... Die Maschine war aber so eingerichtet, daß die Wörter bei jeder
Umdrehung einen neuen Platz einnahmen, sobald sich die Holzwürfel von
oben nach unten verschoben. Die Zufallsergebnisse wurden aufgeschrieben
und sollten 'der Welt einen vollständigen Inbegriff aller Künste und
Wissenschaften geben."(12)
Was bei Swift als Jux oder Satire aufs akademische Palaver daherkommt,
wird 1890 im
Coup de des Mallarmés hochgradig aufgeladen: der Zufall
als
das kreative Element der literarischen Produktion, das aber
gerade nicht in der bloßen Mechanik des Würfelwurfs aufgeht. Dieser bildet
eine mindestens doppelt konnotierte Metapher, meint das ganze Assoziationsfeld
zwischen der Materialität der Würfel, Größe, Gewicht, Schwung, Willkürlichkeit
des Werfens... und dem Wörterwurf im Kopf, den gewollten, logischen Verknüpfungen,
vor allem aber den plötzlichen, intuitiven, den unendlichen Assoziationsmöglichkeiten
der Sprache nachgehenden inneren Bewegungen. Sowohl Swifts wie Mallarmés
Entwürfe sind ideelle Konstruktionen, Papiervorschläge, bei Mallarmé ein
wenig im Druckbild realisiert, auf dem Weg zur visuellen Poesie. Aber
gerade mit seiner Idee des produktiven Zufalls wird m.E. bereits die ganze
Bandbreite der dann bis in die Gegenwart in immer neuen Formen realisierten
literarischen Interaktivität abgesteckt, das Zusammenspiel von Sprache
und Phantasie, das über - sehr verschiedene - Medien reguliert wird.
Dabei gehen die literarischen Innovationen einher mit der Evolution
dieser Medien, ihrer Ausdifferenzierung und Autonomisierung. Die historische
Reihe läßt sich hier durch eine logische systematisieren, als Transformation
oder Umgruppierung der Positionen von Autor-Medium-Werk. Zur ersten
Frage 'Wie gelangt der Leser ins Buch?' kommt die zweite: 'Was macht
er dann da?', und zwar zunächst selbstverständlich '... mit den Wörtern?',
aber auch, weit nervenaufreibender: 'Was machen die Wörter mit ihm?'
Vielleicht könnte man - wie immer provisorisch - drei Etappen vorschlagen,
in denen Personen, Gruppen... mit alten, neuen und neuesten Medien diesen
Fragen nachgegangen sind und gehen. Zur ersten gehören vor dem Zweiten
Weltkrieg Dada und Surrealismus, danach Happening, Fluxus, Situationisten.
An bestimmte Praktiken anknüpfend, aber doch bereits der zweiten Phase
zugehörig, wäre die Wiener Gruppe zu zählen, vor allem aber die Gruppe
Oulipo. Die dritte Phase ist noch kaum auf Namen einzugrenzen, in der
befinden wir uns, sozusagen, im Entwurfsstadium.
Zurück zur Natur
Wieder kann ich unendlich vieles nur anreißen, mich auf ein paar wesentliche
Spuren beschränken.
(13) Wenn Tristan
Tzara 1917 im Cabaret Voltaire in Zürich willkürlich aus der Tasche gezogene
Zettelgedichte vorliest, hat er ihre Auswahl der Jackentasche, der Glätte
des Papiers, den blinden nervösen Handbewegungen überlassen. Wenn Jean
Arp frisch geschriebene Gedichte zerreißt, auf den Boden wirft und in
der so gefallenen Anordnung der Wörter eine überraschende Poesie entdeckt,
hat er sie dem Zusammenspiel von Luftwiderstand und Gravitation - Widerständen
der Natur - übergeben. Beide dadaistischen Aktivitäten realisieren den
Würfelwurf, von dem Mallarmé geschrieben hatte, im mechanisch-organischen
Medium von Körper und Bühne oder Atelier. Solche Übergabe eines Teils
der kreativen Assoziation der Worte vom Kopf ans Medium - hier noch oder
wieder ein natürliches Medium im Unterschied zu technisch-konstruierten
Medien - wird im Surrealismus ausgeweitet durch ihre Übergabe an einen
anderen Kopf, an die Koproduktion der Köpfe. Breton, Eluard, Soupault
schreiben Gedichte zusammen, bewegen ihre Texte in "magnetischen Feldern"
oder "kommunizierenden Röhren". Nicht bloß Texte. Max Ernst, Arp oder
Eluard schreiben und zeichnen gemeinsam Bilder mit Texten. Nach dem Prinzip
des "cadavre exquis" werden sie aneinandergesetzt, Frankensteinianische
Monster, frühe Opfer des Klonens von Zeichen.
Tatsächlich kann von Opfern nicht die Rede sein, eher sind die Autoren
hier Opfer ihrer Experimente. Z.B. Salvador Dalí und Luis Buñuel, wo
sie sich zusammensetzen, um ihre Traumfragmente hintereinanderzuschreiben
und dies dann in Filmsequenzen realisieren. Sie überlassen sich gleich
mehreren nichtabgestimmten Assoziationsketten, einem wilden Metaphorisieren:
denen des inneren Unbewußten, der Kombination zweier traumatisch-lustvoller
Imaginationsprozesse mit denen des äußeren Unbewußten, des Filmschnitts,
der ja auch die unmöglichsten Bilder zusammenbringt. Daß es sich dabei
nicht bloß um individuelle Spielerei, vielmehr um sozial tabuisierte
Assoziationen handelte, um virulentes Material, verbotene Natur...,
zeigten die Assoziationen des Publikums, und da vor allem die Reaktion
der Zensur: die weiteren Schnitte, sprich Verbote, denen "Ein andalusischer
Hund" und "Das goldene Zeitalter" (Totalverbot über Jahrzehnte) unterworfen
wurden. Während die Surrealisten selbst - Breton etwa - in einem produktiven
Mißverständnis der Freudschen Psychoanalyse von einer Befreiung des
Unbewußten reden,(14) praktizieren
sie etwas anderes: die Kombination oder besser Verkoppelung aller in
ihrer Zeit verfügbaren Medien zum Zwecke der Steigerung literarischer
Assoziationsmöglichkeiten, insbesondere der Metapher und der Metonymie.
Die 'Chemie' der Bilder und Begriffe im Kopf wird mit der Mechanik der
Bücher, Plakate, Fotographien, bewegten Filmbilder verkoppelt, diese
weiter dem Theater, Kino, der Straße ausgesetzt, die Provokation, den
Tabubruch, d.h. den Bruch überhaupt, die unerwartete, erhellende, noch
nie passierte Assoziation erhoffend. Die surrealistische Revolution
liegt in dieser 'Befreiung' der Medien, sprich in der Verselbständigung
ihrer eigenen Mechanik, im Lostreten einer inneren, von keiner bewußten
Kontrolle oder sozialen Zensur beherrschbaren Dynamik. Der Surrealismus
praktiziert in der Tat eine erste umfassend interaktive Kunst, verstehen
wir darunter das 'Zwischenhandeln' von Menschen und Medien. Der Faszination
dieser Dynamik folgt die weitere Entwicklung.
Übergangsbücher
Die Konsequenzen, Effekte, zufälligen bis systematischen Resultate dieser
Autonomisierung von Mensch-Medien-Kopplungen sind - trotz Deleuze-Guattari
oder diverser systemtheoretischer Anstrengungen
(15)
- längst nicht zuende erforscht. Ich möchte die Aufmerksamkeit nur auf
eine darin mitlaufende Linie richten, eben die spezifisch literarische,
aus der bereits skizzierten Literatur kommende. Betreiben Dada und Surrealismus
exzessiv nicht bloß die Zerlegung tradierter Narrationen, das Zerschneiden
der Sätze und Freisetzen der Wörter - parole in libertà -, sondern wie
gesagt ihre Recollagierungen, Montagen, Neuassoziationen, so geht es in
einer zweiten Phase um die systematische Erforschung der Möglichkeiten
solcher Rekombination, klassischer bis unbekannter, willkürlicher Regeln,
ihrer Mathematisierbarkeit. Die aus dem Collège de Pataphysique entstandene,
1960 erstmals versammelte Gruppe Oulipo - Ouvroir de Littérature Potentielle,
also so ungefähr 'Werkstatt für potentielle Literatur' - betrieb - und
betreibt zum Teil bis heute diese Forschungen, darunter so illustre Namen
wie Raymond Queneau und Georges Perec, Italo Calvino, als in deutscher
Sprache schreibender Autor Oskar Pastior. Am bekanntesten für die oulipistische
Literaturpraxis sind wohl Queneaus "Stilübungen" geworden, das Durchspielen
eines einzigen 'plots' in allen möglichen Gattungen, Genres, Stimmungen,
Lagen... Die Gruppe hat seit 1960 unzählige "Gebrauchsanweisungen" - so
einer von Perecs Titeln - für die Herstellung von Literatur vorgeschlagen,
"Anstiftung zur Poesie"
(16) nach klaren
Methoden: so bekannte wie Anagramm, Palindrom, Homophonie u..a. - wie
sie etwa Enzensberger in seinen "Wasserzeichen der Poesie" zusammengestellt
hatte -, oder so unbekannte wie der 'Methode S+n ("In einem gegebenen
Text wird jedes Substantiv (Adjektiv, Verb) durch das in einem beliebigen
Wörterbuch an n-ter Stelle folgende Substantiv (Adjektiv, Verb) ersetzt.
Dabei ist Mogeln streng verboten."
(17)
- oder alte aber vergessene wie das Lipogramm, wo ein oder mehrere Buchstaben
des Alphabets weggelassen werden müssen - eine beliebte Übung des Barock,
etwa Harsdörffers Geschichten ohne l und m. Perec bringt es in "La disparition"
auf 380 Seiten ohne
e.
Besonderes Interesse zieht die 'Potentialität' der Literatur auf sich,
die die Gruppe im Titel führt. In ihren programmatischen Texten findet
sich die Forderung nach der "Vereinbarkeit" von Inspiration und Verfahren,
von Einfall und strikter Regel. Diesen sogenannten Formzwängen werden
selbst literarische Qualitäten zugesprochen. "Jedes literarische Werk
entsteht aus einer Inspiration heraus..., die recht und schlecht mit
einer Reihe von Formzwängen vereinArial,Helvetica,sans-serif werden
muß...' Was Oulipo zu zeigen beabsichtigte, war, daß diese Formzwänge
gut, ergiebig und selbst Literatur sind."(18)
Wie bei der klassischen Avantgarde wird die Kreativität aus der individuellen
in eine äußere Potentialität verschoben, genauer in jene 'Vereinbarung',
in die Kooperation oder das Zusammenspiel von 'innerer' Inspiration
und 'äußerer' Operation. Allerdings wird der 'wilde' Zufall der Dadaisten
und Surrealisten - vom Traum bis zu den Reaktionen des Publikums, der
Straße etc. - zum in strikten Verfahren 'gebändigten' Zufall, gerade
vom 'Formzwang' werden die überraschendsten Neuigkeiten erwartet. Immer
wieder schwärmen die Oulipisten dabei von einer Maschine, die ihnen
die Arbeit abnehmen könnte. "Wir bedauern es sehr, keine Maschinen einsetzen
zu können; das ist ein ständiges Lamentieren bei unseren Sitzungen."
(Boehnke 44), berichtet Queneau in einem Vortrag im Seminar für quantitative
Linguistik am 29. Januar 1964. Tatsächlich wird gut zehn Jahre später
in Zusammenarbeit von Gruppenmitgliedern und Informatikern (diese z.T.
selbst Schriftsteller) das Projekt A.R.T.A. (Atelier de Recherches Avancées
du Centre d'Art et de Culture Georges Pompidou) gestartet, das über
rechnergestützte Lektüre forscht, das die "Zehntausend Milliarden Gedichte"
von Queneau aus der Buchform in eine erste elektronische Form bringt,
das Programme für den "computergestützten Schaffensprozess" entwirft.
Der "nouveau roman" der N. Sarraute, M. Butor, A. Robbe-Grillet, in
dem serielle "Modifikationen" ausprobiert wurden, aber sozusagen noch
von Hand der AutorInnen, wird in eine regelgeleitete Kombination von
Autor+Maschine umgesetzt. "Italo Calvino legt der Maschine Verzeichnisse
der Personen, Beschränkungen und Ereignisse vor und läßt sie in einem
mehrstufigen Ausscheidungsverfahren festlegen, wer letzten Endes was
hat tun können."(19) Calvino ist es
dann auch, der in "Kybernetik und Gespenster" die Avantgarde dem "literarischen
Roboter" überlässt, der damit einem "zutiefst menschlichen Bedürfnisses
dient: der Herstellung von Unordnung. Die wirkliche literarische Maschine
wird selbst das Bedürfnis verspüren, Unordnung herzustellen... Das wird
die Literatur sein, die vollkommen einer theoretischen Hypothese entspricht,
d.h. endlich die Literatur."(20)
"Es gibt kein Abbild vom Reiher"
Weder Oulipo noch Surrealismus oder Dada sprechen von Medien - die Surrealisten
höchstens in bezug auf ihre Trance-Sitzungen im Sinne des Mesmerismus
-, geschweige von interaktiven Medien. Calvino verschiebt in bedenkenswerter
Inkonsequenz obige Inspiration oder Kreativität - die "Gespenster" hinter
der "Kybernetik" - aufs Publikum, die Leser, die Rezeption... also wieder
retour in die Köpfe, denen sie gerade mal entsprungen war. Aber was dort
als Zusammenspiel oder 'Vereinbarung' von Einfall und Formzwang gedacht
und praktiziert wird, für das dann Implementierungen erfunden werden -
von mechanischen Würfelmaschinen bis zu elektronischen Rechnern -, würden
wir heute eben systematisch als Medien fassen: technische Anordnungen,
die Außenwelt und Innenwelt vermitteln. Wo Oulipo von der Potentialiät
der Literatur spricht, die durch Anwendung der Formzwänge freigesetzt
werden soll, ist eben jener am Ende unkalkulierbare Bereich
zwischen
den Positionen Autor-Medium-Leser perspektiviert, den die Rede von der
Interaktivität zu formulieren sucht. Daß ein Werk nicht in
einem
Kopf entsteht, SchreiberIn und LeserIn gar nicht so schön auseinanderzuhalten
sind, hat bereits die Romantik gewußt und in diversen Kooperationen -
in Salons, in einer hochentwickelten Briefkultur - realisiert. Daß es
kein Ganzes, sondern aus Fragmenten zusammengesetzt ist, hat seitdem keine
Literatur mehr ignoriert, die eine euphorisch (Döblin z.B.), die andere
eher melancholisch (Th. Mann z.B.). Daß der Materialität der literarischen
Zeichen eine eigene Qualität über den Transport der narrativen Ideen hinaus
zukommt, haben konkrete und visuelle Poesie, Lettrismus oder Lautgedicht
sicht- und/oder hörbar gemacht. Daß Literatur insgesamt ein eminent paradoxer,
d.h. abgeschlossene, definierte Verfahren mit vollkommen unabgeschlossenen,
zufälligen Assoziationen 'vereinbarender' Prozeß ist, der Regeln bricht,
um neue aufzubauen - "Was es sich vornahm, war, neue Formzwänge zu entdecken,
die als Strukturen bezeichnet werden können"
(21),
heißt es an der bereits zitierten Stelle bei Oulipo weiter -, wird erst
neuerlich mit der Debatte um interaktive Medien deutlicher. Im Anhang
zu Klepper/Mayer/Schnecks
Hyperkultur findet sich folgende Definition:
"Zentrales Prinzip in der Hyperkultur ist die Einbeziehung
bzw. Mitwirkung der Rezipienten am Kunstwerk. Diese Mitwirkung geht
von einfachen Entscheidungen mittels eines Maus-Klicks, wo im Hypertext
weitergelesen werden soll, bis hin zur Vision eines umfassenden Cyberspace-Erlebnisses
mit Datenhelm und Datenhandschuh. Die Kunst der Hyperkultur ist in der
Regel keine 'Zuschauer'- oder 'Leser'-Kunst, sondern ein Erlebnis, bei
dem sich Kunstwerk und Teilnehmer (User) gegenseitig beeinflussen, d.
h. interagieren."(22)
Tzara oder Arp ließen die willkürliche Geste oder den Wind ihre Gedichte
herstellen; Oulipo begriff die Formzwänge selbst als Literatur; jetzt
wird dem Kunstwerk eine eigene Aktivität zugesprochen, und Autor und Leser
sind verschwunden oder zumindest weit in den Hintergrund gerückt, alles
passiert zwischen Kunstwerk und Teilnehmer. Wie gesagt bleibt diese Rede
noch sehr undeutlich - was ist das 'Werk', wenn es durch 'User' verändert
werden kann, welche Möglichkeiten hat dieser, wenn ihm das Kunstwerk die
Flötentöne beibringt? -, und nochmals: das halte ich eben für den Grund
der Faszination, es ist "work in progress", die Positionen sind (noch?)
nicht eindeutig definiert. Tatsächlich werden m.E. alle skizzierten Möglichkeiten
des Wechselspiels von Wörtern und Menschen mit Maschinen aktuell auf erweitertem
Niveau durchgespielt, von der Umsetzung des klassischen (Buch-)Romans
in einen multimedialen (
Lulu) oder experimenteller Sonette auf
zerschnittenen Papierstreifen in elektronisch kombinierbare Zeilen (
Cent
Mille milliards de poèmes) bis zu Programmen, die mehr oder weniger
selbständig Literatur generieren.
Beispiele
An drei Beispielen soll verdeutlicht werden, mit welchen Phänomenen Versuche
konfrontiert werden, die versuchen, beide Seiten der Medaille "Interaktive
Literatur" in einer hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs erweiterten
Literatur- oder Medienwissenschaft in den Blick zu bekommen. Alle drei
Beispiele stammen aus dem inzwischen weit gewordenen Feld computergestützter
Literatur, dem Bereich, der den Anstoß zu dem geplanten Projekt gab.
Als medientechnisches Korrelat, wenn nicht sogar als Voraussetzung
für den skizzierten Stillstellungsprozeß bei der Lektüre gedruckter
Literatur kann eine spezifische mediale Form von Literatur genannt werden:
gedruckt und im Buch gebunden, idealiter in solchen Büchern, die nur
ein Minimum an körperlicher Aktivität erfordern. (23)
Daß die so eingeübten "typischen" Interaktionsformen durchaus nicht
die einzigen sind, daß sie keine "natürliche" Begrenzung darstellen,
zeigt eine Vielzahl von Arbeiten, die genau diese Interaktionsformen
thematisieren und Problematisieren. (24)
Doch beinahe alle diese Arbeiten bleiben im Raum stillgestellten Rezipierens,
sofern nicht im privaten Lesesessel, dann in den öffentlicheren Räumen
von Museen, Kinos oder Konzertsälen mit den entsprechenden, "adäquaten"
Rezeptionsformen.
Demgegenüber läßt sich ein inzwischen sowohl technisch wie formal ausdifferenzierter
Bereich computergestützter Literatur abgrenzen, dessen Gemeinsamkeit
es ist, sich dem still-versenkenden Lesen zu entziehen und andere Formen
der Interaktion zu erfordern, als dies von allen theoretischen Bemühungen
um "implizite" ebenso wie "empirische" Leser vorgesehen war. Zwischen
den Beispielen, auf die ich im folgenden näher eingehen werde, liegen
dabei nicht nur technisch, formal und hinsichtlich des adäquaten Umgangs,
sondern auch in der entsprechenden Chronologie der Computer- und Softwaregenerationen
Epochen.
Adventure
Adventure, von dem der Screenshot der Eingangsseite einer neueren
Version zu sehen ist, wurde ursprünglich von Will Crowther 1968-72 geschrieben,
von Don Woods 1976 erweitert und gilt als das erste seines Genres, das
eine kurze, aber heftige Blüte in den 70er Jahren hatte.
(25).
Vgl. als eine der umfangreichen Linksammlungen zu diesem Bereich computergestützter
Literatur auch die
Interactive
Fiction Homepage.
Selbst wenn Sie stundenlang vor einem Rechner verharren würden, auf
dem Adventure "läuft", (26) würde
sich nichts weiter tun. Das abschließende Fragezeichen beendet hier
nämlich keine Frage im Text, die der Leser interpretierend beantworten
muß, sondern ist Aufforderung zu Schreiben, erst schreibend und nicht
lesend entwickelt sich die Geschichte. Auch wenn vieles dafür spricht,
soll hier als vorläufig unerheblich angesehen werden, ob diese sich
dann entwickelnde Geschichte Literatur ist. (27)
Die Möglichkeit solcher "text adventures" oder "interactive fiction"
gründet sich natürlich auf der Berechnungs- und Übertragungsfunktion
von Maschinen, die erst mit Computern hinreichende Universalität und
Geschwindigkeit erreicht haben. Im Kontrast zum Buch, das unter diesem
Aspekt als reines Speichermedium erscheint, ist damit von einem "aktiven"
Medium auszugehen. Damit ist die Zuschreibung von Aktivität lediglich
auf die menschlichen Pole "Autor" und "Leser" die vermittels eines passiven
Buches "in Kommunikation" treten, (spätestens hier) unzureichend. Von
hier ab wird mit einer Widerständigkeit oder Kooperation von Textstrategien (28)
zu rechnen sein, die über die passive starren Papiers oder gute Typographie
und entsprechender Einbände weit hinausgeht (29)
und alle medientechnischen Möglichkeiten der sich immer noch rasch entwickelten
Computer-Interfaces nutzen wird. Die hiermit angedeuteten Fragestellungen
und vorläufigen Skizzen der Felder möglicher Antworten sollten eine
systematische Orientierung vorbereiten, um die Fragen nach Quantitäten
und Qualitäten literarischer Aktivität von Medien, Maschinen und Menschen
zu beantworten.
Hegirascope
Die Antworten werden dabei nicht umhin können, sich auf die traditionell
informatische Trichotomie von Speicherung, Übertragung und Berechnung
einzulassen.
Eine der dominanten Möglichkeiten von Aktivität seitens Leser von elektronisch
basierter Literatur ist das Klicken, die Verfolgung von "Hyperlinks".
Doch nicht nur auf Seiten potentieller Leser ist von Aktivität im Zusammenhang
mit Stuart Moulthrops Hegirascope
zu sprechen, sondern unter der angesprochenen Trichotomie auch auf Seiten
Hegirascopes. Vor allem dann, wenn in der Lektüre eben keine
Benutzeraktionen stattfinden. Die HTTP-basierte Arbeit, die aus ca.
200 Knoten und ca. 1000 Links besteht, implementiert nämlich einen eigenen
Rhythmus, der auf dem <META REFRESH...>-Tag basiert und darüber
eine Folge von Textfragmenten im Stil einer Slideshow präsentiert. Während
also Adventure als textgenerierendes Programm deutlich zum berechnenden
Pol tendiert und eine starke und für Leser ungewohnte Aktivität, nämlich
Schreiben, abfordert, kann Hegirascope als Beispiel für einen
anderen Pol gelten. Hier steht die Funktion des Übertragens im Vordergrund,
da alle Textteile gespeichert sind und lediglich in dem angedeuteten
Selbstläufermodus zeitgesteuert, in einem "klickerarischen" Modus durch
den Leser angefordert, präsentiert werden. Diese Zeitsteuerung verunmöglicht
dabei eine kontemplative Lektüre, deren Zeitlichkeit eben die der Lektüre
und nicht die des Mediums ist - ein Eingriff in die traditionellen Lesesituationen,
der allein schon rechtfertigen würde, von neuen Formen der Aktivität
auf Seiten des (nun auch nicht mehr ausschließlich menschlichen) Produzenten
und neuen Interaktionsformen auf Seiten potentieller Leser zu sprechen.
Schon diese beiden Beispiele deuten die, selbst bei einer noch lange
nicht in größeren Auflagen verfügbaren Interfaceausstattung für synästhetische
Erlebnisse, sich auftuenden Bereiche neuer Literaturformen an, die nicht
nur die schon auf der Folie des gedruckten Buchs thematisierten Grenzen
zu bildender und darstellender Kunst sowie Musik thematisiert und (bei
Jeffrey Shaws Legible
City im wörtlichen Sinne) eine andere Erfahrung von Texten
ermöglicht, sondern insbesondere die Grenze zu Formen des Spiels öffnet.
Ottos Mops trotzt
Eins der in diesem Bereich populärsten Beispiele der jüngeren Zeit ist
zweifelsohne
Ottos Mops trotzt, in dem vom Spieler / Leser die
Beherrschung einer großen Anzahl unterschiedlicher Aktionsweisen und zudem
eine ordentliche Feinmotorik gefordert sind. Eine auch nur annähernde
Darstellung ist hier - und das heißt sowohl in einer gedruckten als auch
in einer elektronisch distribuierten Version - unmöglich. Als Hinweise
für diejenigen, die das Spiel kennen, soll hier nur auf die unterschiedlichen
explorativen und zugehörigen motorischen Strategien, die in den unterschiedlichen
Spielabschnitten nötig sind, ebenso verwiesen werden, wie auf die unterschiedlichen
Rezeptonsstrategien, die in den eher kontemplativen Passagen eingesetzt
werden müssen. (Den anderen sei es ans Herz gelegt.)
Anmerkungen
(1) "Die Texte dieses Bandes haben in
der Regel gemeinsam, daß sie ein grammatisches Modell benutzen und dieses
mit Sätzen, die nach dem Modell formuliert sind, verwirklichen. Die Sätze
sind jeweils Beispiele, Satzspiele." Handke, Peter: Die Innenwelt der
Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt/M.1969, Klappentext
(2) Handke, a.a.O., S. 60
(3) ebd.
(4) Handke, a.a.O., S. 62
(5) Schmundt, Hilmar: Die Zukunft des
Internets. In: konr@d 10/11.98, S. 134
(6) Aristoteles: Poetik. Übers., eing.
u.mit Anmerkungen v. O.Gigon. Stuttgart 1961, S.23
(7) Aristoteles, a.a.O., S.36f.
(8) s. neben seinem Beitrag für dieses
Symposion: Wenzel, Horst: Hören und Sehen - Schrift und Bild. Kultur
und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995
(9) s. Assmann, Jan: Schrift, Tod und
Identität. In: Assmann, Aleida/Jan-Hardmeier, Christof (Hg.): Schrift
und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation
I. München 1983
(10) f. erste Informationen - wenn
auch in einer etwas verwirrenden Theorie und Geschichte des Manierismus
integriert - zu beiden Autoren bei Hocke, Gustav René: Die Welt als
Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur. Reinbek
1987 (zuerst in zwei Bdn. 1957, 1959), S. 319f. (Lullus), S. 150ff.
(11) in: Harsdörffer, Georg Philipp:
Der mathematischen und philosophischen Erquickstunden zweyter Theil.
Nürnberg 1651 (Reprint Ffm. 1990) S. 516f.
(12) Jonathan Swift: Gullivers Reisen.
Dt. F. Kottenkamp. Berlin 1981, S. 201f.
(13) s. aber die - bes. zu Dada u.
Surrealismus - inzwischen doch umfangreiche Literatur. Zu Oulipo vgl.
Kuhne/Boehnke: Anstiftung zur Poesie. Oulipo - Theorie und Praxis der
Werkstatt für potentielle Literatur. Bremen 1993.
(14) Differenz -Unterbewußtsein bei
Freud/ +Unterbewußtsein bei Breton, also ES zu ICH/vs. ICH zu ES
(15) Systemtheorie wie Konstruktivismus
sind erst vergleichsweise spät auf die Medien im obigen Sinne gestoßen,
und weiterhin bleiben es von System/Umwelt-Differenzen oder der Autopoiesis
von Systemen abgeleitete Begriffe. Die wesentliche Tendenz interaktiver
Medien, die paradoxe Herstellung von Zusammenhang durch Unterbrechung,
erscheint erst am Horizont dieser Theorien.
(16) So der Titel der ersten umfassenden
Darstellung der Gruppe für den deutschen Sprachraum: Boehnke/Kuhn, a.a.O.,
S.96
(17) Boehnke/Kuhn, a.a.O., S. 96
(18) Boehnke/Kuhn, a.a.O., S. 33
(19) Boehnke/Kuhn, a.a.O., S. 70
(20) Calvino, Italo: Kybernetik und
Gespenster. Dt. S. Schoop. München/Wien 1984. S. 14f.
(21) Boehnke/Kuhn, a.a.O., S.33
(22) Klepper, Martin/Mayer, Ruth/Schneck,
Ernst-Peter (Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters.
Berlin-N.Y. 1996. S.277
(23) Gemeint ist bei dieser Stillstellung
in erster Linie die körperliche, nicht die geistige, wie die Theoriebildungen
um Leseraktivitäten belegen. Vgl. hierzu die einschlägigen Arbeiten
zu Rezeptionsforschung von Iser bis zu Winograd und Flores. Insbesondere
Typographie und Bucheinbände sollen dazu beitragen, diese Stillstellung
zu erreichen. Vgl. hierzu beispielsweise Karl Klaus Walther, Hg., Lexikon
der Buchkunst und Bibliophilie. Leipzig (Bibliographisches Institut)
1987, Sw. Einband und Typographie.
(24) Zu erwähnen ist hier beispielsweise
Raymond Queneaus Cent Mille milliards de poèmes ebenso wie der
in die bildende Kunst weisende Bereich der Buch- und Textobjekte (vgl.
z. B. die Kataloge der Sammlung Cremer, Museum am Ostwall, Dortmund,
3 Bde. 1991 - 1994 und Axel Marquardt et al., Hg.: Sprachen jenseits
von Dichtung, Westfälischer Kunstverein, Münster, 1979, aber auch viele
Arbeiten der Konkreten Poesie etc.
(25) Eine umfängliche Sammlung von Programmen,
Spielen und Entwicklungsumgebungen dieser interactive fiction
findet sich im IF-Archive
der GMD.
(26) Ihnen als Leser bleibt ohnehin
nichts anderes übrig. In dem ursprünglichen Kontext eines Vortrags mit
Demonstration der laufenden Programme hätte die Möglichkeit bestanden,
dieses Programm nicht zu lesen, sondern zu spielen. Angesichts der Ähnlichkeit
einer Vortragssituation mit den adäquaten Rezeptionsmechanismen in den
oben erwähnten "heiligen Hallen" wurde diese Möglichkeit allerdings
nicht genutzt.
(27) Im Kern der Ablehnung stehen oft
stilistische Gründe, so auch z. B. in den frequently asked questions
von Storysprawl, einem Server, der kooperativ entstehende Literatur
beheimatet: "Present-tense second person ('You are in a maze of twisty
passages, all alike) is intriguing for a short while, but is limited
in terms of narrative uses and character development. It's fun for solving
puzzles and playing games, but that isn't the purpose of this site."
Curt Siffert, StorySprawl
FAQ. So zutreffend dieser Einwand ist, so einfach wäre er durch
die Ersetzung des Präsens durch narratives Perfekt und der zweiten durch
die dritte Person zu umgehen. Die so entstehenden Geschichten erhalten
dadurch zwar keine komplexere narrative Struktur, sind aber kaum von
den "einfach gestrickten" traditionell auktorialen zu unterscheiden,
wie eine Übertragung eines typischen Anfangs von Adventure belegt:
"Er stand mitten im Wald am Ende einer Straße vor einem kleinen
Steinhaus. Ein Bach ergoß sich aus dem Brunnenhaus und floß eine Rinne
entlang. Im Haus fand er einige Gegenstände, eine Taschenlampe, ein
Schlüsselbund, eine leere Flasche und etwas Essen. Er nam alles an sich,
füllte die Flasche aus der Quelle, die in dem Haus sprudelte und verließ
es, Richtung Süden, den Bach entlang. Der Bach versickerte nach wenigen
Metern in einer Felsspalte. Weiter im nun trockenen Bachbett gehend
gelangte er in eine Senke voller Unrat, in der ein Gitter einbetoniert
war. Er öffnete das Gitter mit einem der Schlüssel, schlüpfte durch
die Öffnung in die sich auftuende Höhle und fand sich in einem engen
Gang. Auf den Kieseln robbte er vorwärts, nahm, ohne genau zu wissen,
warum, den Weidenkorb, der sich dort fand, arbeitete sich vor, bis ihn
undurchdringliche Dunkelheit umgab."
(29) Vgl. zu dieser kriegerischen, ins
spielerische gewendeten Metapher vgl. Umberto Eco, Lector in Fabula, München
1994, S. 67: "Der Vergleich [des Verhältnisses von Napoleon und Wellington
an der Front bei Waterloo mit dem von Autor und Leseran der Textfront]
kann nur dadurch etwas entkräftet werden, daß in einem Text der Autor
gewöhnlich den Gegner gewinnen statt verlieren lassen will. Doch auch
das ist nicht gesagt."
(30) Daß auch solche Bücher immer noch
produziert werden können, zeigt, selbst bei wissenschaftlicher Literatur,
mit guter Regelmäßigkeit die Büchergilde Gutenberg. Vgl. auch
unter diesem Gesichtspunkt z. B. Siegfried Giedion, Die Herrschaft der
Mechanisierung. Frankfurt/M., Büchergilde Gutenberg, 1994.
© Peter Gendolla und Thomas Kamphusmann
Tue Jun 8 12:57:26 MEST 1999