Pfingstmontag 1994 - gerade noch rechtzeitig also zum Termin der
Ausgießung des Heiligen Geistes - wurde zum Abschluß einer Kultursendung
eines der dritten Fernsehprogramme eine sog. "Lyric machine" vorgestellt:
aus insgesamt nur 14 Minuten Basismaterial - Textzeilen mit reimfähigen
Endungen; Bildelemente, die zu bekannten Personen und Umgebungen zusammengesetzt
werden können, Musik und Geräusche - generiert ein PC-Programm über
eine Million Minuten TV-Programm. Als Beispiel sah und hörte man Norbert
Blüm: "Liebe Leute, macht einmal heute nicht so fette Beute..." oder
Helmut Kohl: "Also habt keine Sorgen, denn auch morgen werde ich wieder
für Euch sorgen..." oder so ähnlich, die Qualität der Texte war tatsächlich
auf diesem Niveau. Es handelte sich einfach um das ideale, weil flexible,
immer neue, dennoch kostengünstige Programm, informativ, was die zentralen
Gedanken unserer Politiker betrifft, dabei unterhaltend, bunt und
laut...
Die folgenden Ausführungen werden sich leider nicht auf dieses Programm
beziehen, es war kaum gesendet schon vorbei, ich habe es nicht aufzeichnen
können. Im Gegenteil könnten sie sogar als eine einzige Widerlegung
dieser zwei TV-Minuten aufgefaßt werden, d.h. der expliziten und impliziten
Behauptung, diese Lyric machine sei die erste ihrer Art.
Das ist sie keineswegs: Bedenkt man ihr Prinzip - ein Zufallsgenerator
im Programm kombiniert die Millionen Text-Bild-Ton-Elemente - so muß
man nur Gustav Rene Hockes "Die Welt als Labyrinth"(1)
beiziehen, um von der Kabbala über die ars combinatoria des Raimundus
Lullus (13. Jahrhundert), die "Metaphernmaschine" von Atanasius Kircher
(17. Jahrhundert) bis zu Raymond Queneaus "Cent mille milliards de
poèmes" im 20. Jahrhundert eine Unmenge Beispiele vorgeführt zu bekommen,
die immer eines machen: ein bestimmter Set an Elementen, das Lexikon
oder die Datenbasis wird nach bestimmten Regeln, in die als zentrale
Stelle oder notwendiger Spielraum der Zufall eingebaut ist, ein alleatorisches
Verfahren, zusammengesetzt, variiert, rekombiniert, permutiert, transformiert...generiert.
Das alles sind keine Schöpfungen aus dem Nichts, vielmehr Verfahren,
die Poesie, d.h. die "Überraschung" (Schiller), die uns die Wahrnehmung
der (naiven!) Kunst bereitet, oder die "lebendig augenblickliche Offenbarung
des Unerforschlichen" (Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 314),
Kairos, hätte die antike Rhetorik gesagt, durch eine mechanische Vorrichtung
herzustellen.
Dies alles kann hier natürlich nicht Revue passieren, es soll engeführt
werden auf etwas, das man - vielleicht erscheint die Formulierung
paradox - eine Veränderung in der "Semantik des Zufalls" nennen könnte,
die durch seine Anwendung in diversen poetischen Verfahren stattgefunden
hat. Der Zufall selbst ist ohne Semantik, hat per definitionem keinen
Sinn, er ist das sinnlose Ereignis par excellence. Aber er
beendet den Sinn, oder er treibt auf die Suche nach einem verborgenen
Sinn, einer versteckten Kausalität, göttlichen Absicht... also er
destruiert oder konstruiert notwendige Ordnungen und bildet insofern
ein poetisches Prinzip. Dazu sagt Italo Calvino (der sich strikt an
Allan Turing hält: "Nur eine Maschine kann den Wert eines Sonetts
einschätzen, das eine andere Maschine geschrieben hat", von Queneau
übrigens als Motto vor seine "Hunderttausendmilliarden Gedichte" gesetzt(2)),
der in "Kybernetik und Gespenster" über einen "literarischen Roboter"
spekuliert:
"Was für einen Stil hätte ein literarischer Roboter? Ich glaube,
daß im Klassizismus seine wahre Berufung läge: der Prüfstein einer
poetisch-elektronischen Maschine wird die Produktion traditioneller
Werke sein, Gedichte mit geschlossenem Versmaß, Romane nach allen
Regeln der Kunst. In dieser Hinsicht hat die literarische Avantgarde
bis jetzt die elektronischen Geräte auf eine noch viel zu humane Weise
benutzt. Vor allem in Italien ist die Maschine bei diesen Experimenten
ein Instrument des Zufalls, der formalen Destruierung, des Protests
gegen die gewohnten logischen Zusammenhänge: ich würde behaupten,
daß sie immer noch ein ganz und gar lyrisches Instrument ist, das
der Befriedigung eines zutiefst menschlichen Bedürfnisses dient: der
Herstellung von Unordnung. Die wirkliche literarische Maschine wird
selbst das Bedürfnis verspüren, Unordnung herzustellen, allerdings
als Reaktion auf ihre vorherige Produktion von Ordnung; die Maschine
wird Avantgarde herstellen, um ihre Schaltkreise freizupusten, die
von einer zu lang anhaltenden Produktion von Klassizismus verstopft
sind. Daß die Entwicklungen der Kybernetik sich nämlich um die Maschinen
drehen, welche die Fähigkeit besitzen zu lernen, das eigene Programm
zu ändern, die eigene Empfindsamkeit und die eigenen Bedürfnisse fortzuentwickeln,
verbietet uns nicht, uns eine literarische Maschine vorzustellen,
die an einem gewissen Punkt Unzufriedenheit über ihren eigenen Traditionalismus
verspürt und anfängt, völlig neue Verständnisformen des Schreibens
zu entwerfen und ihre Codes vollkommen über den Haufen wirft. Um die
Kritiker zufriedenzustellen, die nach Entsprechungen zwischen literarischen
und historischen, soziologischen, ökonomischen Tatsachen suchen, könnte
die Maschine die eigenen stilistischen Entwicklungen den Änderungen
bestimmter statistischer Indices der Produktion, des Einkommens, der
Rüstungsausgaben, der Verteilung von Entscheidungskompetenzen angleichen.
Das wird die Literatur sein, die vollkommen einer theoretischen Hypothese
entspricht, d.h., endlich die Literatur."(3)
Über Versuche, endlich diese, die Literatur herzustellen,
geht der folgende Bericht.
Versuch 1: Mignon
Es ist gut bekannt, nicht das Land, wo die Zitronen blühen - ja,
das kennen auch alle, seit der sog. Öffnung oder Wiedervereinigung
können ja nun mal alle Deutschen McDonalds in Venedig oder McChicken
in Rom aufsuchen oder Levis Jeans in Palermo kaufen - nein, das Gedicht
aus den "Lehrjahren" natürlich, es ist tief ins deutsche Gemüt eingetragen,
eingeglüht sozusagen, als Gesang der romantischen Poesie, der Poesie
überhaupt, Gestaltung jener ewigen Sehnsucht, die nie erfüllt werden
kann, Mignon muß sterben, damit ihr Lied lebt...
Es soll also hier nicht zitiert werden, nur etwas verlängert, in
seine literarische Vor- und Nachgeschichte, einfach um zu sehen, wie
es verfährt, vor allem, wie mit ihm dann verfahren wird, was gemacht
wird, poiesis. Ob Poesie dabei resultiert, sei dem rezipierenden Gemüt
anvertraut.
Ausgerechnet Paul Requadt, der Goethes Lied zur Matrix der deutschen
Italienliteratur überhaupt erklärt - "Die deutsche Italiendichtung
setzt trotz mancher Vorläufer erst mit dem Mignon-Lied ein"(4)
- hat nachgewiesen, daß auch Goethe seine Verse nur geklaut hat.
"Bermudas, world with rocks, who does not know?
That happy Island where huge lemons grow,
and orange trees, which golden fruit do bear,
the Hesperian garden boasts of none so fair..."(5)
Es handelt sich um eine Strophe des englischen Barockpoeten Edmund
Raleigh Waller (1606-1687). Also alles wird von den Bermudas nach
Italien versetzt, aus "no" und "grow" wird "blühn", "glühn", aus "bear","fair",
bereits ein etwas schiefer Reim, wird "weht", "steht", und dann vor
allem durch "dahin... dahin... ziehn" verlängert, es zieht uns regelrecht
aus dem kurzen in den langen Vokal, ins Unabgeschlossene, Unerreichbare,
in das Land, das wir nur mit unserer Phantasie auszufüllen vermögen...
(in die prinzipiell unabschließbare Signifikantenkette, wird Lacan
später sagen). Auf diese Weise, so Requadt, "verschließt sich (das
Gedicht, PG)...einer in allen Punkten zuverlässigen Deutung", aus
seiner "Hintergründigkeit" erklärt sich seine Faszination. Zum einen
sei Goethe ja, wie schon alle Schriftsteller vor ihm und "der Dichter
überhaupt" der einzige, der schon in der Welt den Einklang dieses
utopischen Daseins vernimmt", Goethe als Realisator des Traums von
Arcadien. Zum andern und vor allem erhält das Mignon-Lied seine Bedeutung
aber gerade durch die Ungewißheit, die Vieldeutigkeit, in die Goethe
die alten Topoi versetzt. "Das Mignon-Lied beschäftigt die Phantasie
durch seine Bildabbreviaturen, seine Deutung ist nicht überall zu
sichern."(6)
Mit und gegen Requadt könnten den Mignon-Zeilen weitere Vorläufer
addiert werden, Goethe des mehrfachen Plagiats bezichtigt. So lesen
wir etwa bei Barthold Hinrich Brockes in seinem "Irdischen Vergnügen
in Gott" (ca. 1720) "Im grünen Feuer glüht das Laub, das Kraut, das
Gras; ... in tausend-färbigem, wann es bethaut und naß.. ein gelber
angenehmer Brand..."(7) - das soll
hier nicht passieren. Es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden,
daß uns seit langem und wohl noch eine Weile nur die Goetheschen Zeilen
als Original vorkommen, und eher die englischen oder die von Brockes
als Plagiate oder Parodien. Das hat nichts mit der einzigartigen Vieldeutigkeit
der Goetheschen Version zu tun, nichts mit seiner Transformation bekannter
Topoi, vielmehr sehr viel mit der Transformation von "Leben und Werk"
Goethes in das heroische Paradigma der deutschen Nationalliteratur,
mit Projektionsmechanismen, unseligen zum Teil, entlang einer widersprüchlichen
nationalen Identitätsbildung, kurz gesagt mit dem ewigen Mißverständnis
Goethe(8). Mehr oder weniger vieldeutig
ist alle Poesie, das unterscheidet sie von anderen, eindeutigeren
Sprachen, am eindeutigsten von der Mathematik. Vielfacher, am Ende
unendlicher Sinn und eindeutige Eins-zu-Eins-Zuordnung bilden die
beiden Pole semantischer Prozesse. Dabei gibt es in poetischen Verfahren
von der Klassik in die Gegenwart eine Wendung oder besser Abwendung
von Unendlichem hin zu Endlichem. Etwas leichtfertig gesprochen geht
die Aufmerksamkeit von der Semantik auf die Syntax, noch einfacher:
vom Erzählen zum Zählen. Eine Übergangsposition bezieht in dieser
Hinsicht die Parodie.
Versuch 2: MINJONG (sprich: Mein Junge)
Als Umkehrung des Sinns, kritische Wendung gegen die ursprünglichen
Intentionen, als Trivialisierung oder Banalisierung kann die Parodie
funktionieren, als realistische Invektive gegen metaphysische oder
ideologische, auch erst ideologisch gewordene Implikationen des Urtextes.
Gemeint sind nicht die vielen Imitationen, Anverwandlungen, die es
zum Mignon-Lied gegeben hat - unter dem Titel "Kennst Du das Land"
können sie gesammelt in einer Taschenbuchausgabe nachgelesen werden,
als z.T. unfreiwillige Parodien. Gemeint sind die freiwilligen, also
z.B. jene des Johann Daniel Falk, die kurz nach Erscheinen des Wilhelm
Meister unter dem Titel "Sehnsucht nach Holland, an Herrn Professor
Wolf in Halle, als er 1727 einen Amtsruf dahin erhalten hatte" publiziert
wurde.
"Kennst Du das Land? Auf Dämmen ruht sein Grund?
Breit sind die Männer und die Weiber rund;
Flamländer stehn und schrein um Dich her:
'Orange boven? Wat believt, Myjnheer?'
Dorthin, dorthin möcht ich mit Dir; o mein Geliebter, ziehn!"(9)
Karl Riha hat Falks Parodie vorromantischen, ja vorklassischen, aufklärerischen
Kräften zugeordnet, als "erklärter Gegner" der Romantik trivialisiere
und kritisiere damit Falk das Hohe Lied Italiens, bevor es noch die
Romantik, etwa Schlegel in seiner Rezension des "Wilhelm Meister",
als "Ausdruck heiliger Naturpoesie" feiere. Nahtlos wird Heine an
diese Argumentation angeschlossen, der das Ende der Kunstperiode,
das Ende des "Goethentums" u.a. wie folgt annonciert, auch als Goethe-Mißverständnis:
"Unter jenem Ausdruck verstehen wir auch nicht eigentlich die Goethesche
Denkweise, diese Blume, die, im Miste unserer Zeit, immer blühender
gedeihen wird, und sollte auch ein glühender Enthusiasmus sich über
ihre kalte Behaglichkeit noch so sehr ärgern; mit dem Worte 'Goethentum'
deuteten wir oben vielmehr auf Goethesche Formen, wie wir sie bei
der blöden Jüngerschar nachgeknetet finden, und auf das matte Nachpiepsen
jener Weisen, die der Alte gepfiffen. Eben die Freude, die dem Alten
jenes Nachkneten und Nachpiepsen gewährt, erregte unsere Klage."(10)
Heine selbst knetet dann dem Alten diese Weise nach: "Kennst Du
das Lied?...Aber reise nicht Anfang August, wo man des Tags von der
Sonne gebraten, und des nachts von den Flöhen verzehrt wird."(11)
Die weiteren ideologiekritischen Travestien, der weitere ironisierende
Hintertext soll nicht weiter ausgeführt werden, Riha hat ihn vom Jungen
Deutschland bis in den Naturalismus hinein nachgelesen. Der Mechanismus
der parodistischen Destruktion ist wichtig. Der aufklärerische, von
Falk wie von vielen nach ihm etwa versuchte, setzt sich zusammen aus
der bewußten Vertauschung oder Auswechslung von Elementen auf der
paradigmatischen Achse bei gleichzeitiger Übernahme der syntaktischen
Reihe oder Ordnung. Aus Zitronen werden Dämme, aus Laub werden Männer
und Weiber, aus sanft wehendem Wind werden schreiende Flamen. Die
Syntax, der Rhythmus, die melodische Ordnung bleiben aber mehr oder
minder erhalten, und dies zuammen ergibt den parodistischen Effekt:
die Einheit von außen und innen, wie sie sich in der auratisierenden
Rezeption gebildet hatte, die Übereinstimmung von Konstruktion und
semantischen Assoziationen wird aufgelöst, die Syntax wird zur leeren
Schale des neuen Sinns, sie wird arbiträr, vollkommen zufällig
gegenüber der ausgewechselten Semantik. D.h. die Goethesche Konstruktion
wird tatsächlich als Konstruktion, als Gerüst genommen, das beliebig
ausgefüllt oder neu besetzt werden kann. Jedes Element, jedes Wort
könnte durch eines aus dem gleichen Wortfeld ausgetauscht werden,
und ein mehr oder weniger heftiger parodistischer Effekt würde auftreten,
ein berechenbarer Effekt. Tatsächlich verfahren manche heutige Rechnerprogramme,
etwa "Think Thunder" aus den USA oder CAP (computer-aided-poetry)
aus der BRD, auch POE von Schmatz/Czernin aus Österreich, nach einer
solchen Transformationsgrammatik: nach vorgegebenen Regeln werden
aus einem Lexikon die entsprechenden Worte eingesetzt, beim "Gedichtgenerator"
CAP z.B. aus einem Lexikon von 1200 Eintragungen nach 160 Regeln(12).
So werden wir in ein immer neues Land geführt, Länder aus wechselnden
Buchstaben, Leseländer. Waltraud Wende hat in einem schönen Essay
über die Mignon-Rezeption folgendes noch ganz unbekanntes Gebiet gefunden:
"Kennst Du das Land, wo man Romane schreibt
mehr als der Wind am Himmel Wolken treibt?
Wo voll Genie sogar die kleinste Stadt
sich selbst druckt ihr eignes Morgenblatt?
Kennst Du es wohl? Dahin, dahin
möcht ich mit Dir, geliebter Leser, ziehn!
Kennst Du das Haus zum großen Dintenfaß,
doch sey gewarnt, die Säle sind noch naß;
im größten hängt die Feder, spitz und scharf,
womit Kritik die Gegner niederwarf.
Kennst Du es wohl? Dahin, dahin
möcht ich mit Dir, geliebter Autor, ziehn!
Kennst Du den Berg Montblanc von Druckpapier?
Der Führer sitzt schon auf dem Müllerthier!
Die Leser, wimmelnd, klettern hintendrein,
Sie jauchzen schon: wie schön wird's oben sein,
Kennst Du es wohl? Dahin, dahin
möcht ich mit Dir, geliebter Rezensente, ziehn!"(13)
Versuch 3: hermetische ode
"Brut, es stürzt der Fels
und hoch der Fels und seinen Beschützer, ziehen.
Kennst Du es wohl?
Auf Säulen ruht sein Dach, und Seen und Marmorbilder
Drachenalte Brut, es schimmert das Land,
...im dunklen Laub die Zitronen wohl?
Dahin möcht ich mit Dir,
Du armes Kind,
getan?"(14)
Wieder darf man fragen, was man dem armen Kind denn hier getan hat.
Es handelt sich um keine Parodie sondern um einen Abschnitt aus einer
sog. Markoff-Kette, die auf der Basis der ersten Zeile von Goethes
Gedicht generiert wurde. Sie hat gar keinen Autor und keine Autorin
- Heine, Eichendorff, Falk versteht man darunter jemanden, der einen
intentional zumindest notwendigen Text herstellt und mit seinem Namen
firmiert. Im vorliegenden Fall ist Goethes Text schlicht umgerechnet
worden, nach einem Markoffschen Algorithmus, den Thomas Kamphusmann
programmiert hat. Eine Markoffsche Kette definiert 1973 der französische
Mathematiker und Publizist mit dem schönen Namen Jacques Bureau wie
folgt: "Jede Serie von Zuständen, von denen jeder nur von den vorangegangenen
und nicht von den weiterzurückliegenden abhängt, bildet eine Markoffsche
Kette. Eine Markoffsche Kette ist vom Grad K, wenn in einer Folge
von Zuständen das Resultat jeder dieser Folgen von Resultaten der
K vorangegangenen abhängt."(15)
Also aus ABC wird BCA, BCB, BCC..., daraus wieder CAB, CAA, CBB...,
immer neue Zustände nach Übergangswahrscheinlichkeiten berechnet,
die sich nur auf den vorangegangenen Zustand beziehen. Kamphusmann
hat seinen Markoff-Generator "Delphi" genannt und in eine gleichnamige
Installation eingebaut. Es wird eine Zeichenfolge eingegeben - also
etwa Goethes "Mignon" - und das Programm antwortet, mit einem mehr
oder weniger verständlichen Satz, einem Gedicht, einem Lied. Es ist
in der Generierung neuer Zeichenfolgen insofern weit fortgeschritten,
als es je nach Rasterung in der vorgegebenen Datenbasis prinzipiell
unendliche Reihen erzeugen kann, eine Art komplexer, rechnergestützter
Anagrammatik. Sie geht rein rechnerisch durchaus weiter als etwa Queneaus
"Hunderttausendmilliarden Gedichte", da sind die Schnitte fest, und
ergeben eben hunderttausendmilliarden Kombinationen. Ob das "sinnvolle"
Kombinationen, Poesie gar ergibt... ist damit längst nicht entschieden,
auch aus Goethe entsteht dabei ohne weiteres grober Unfug. Über Sinn
oder Unsinn, über die Semantik ist in diesen Zeichenfolgen selbst
noch gar nichts gesagt, sie werden über ein streng sinnloses Element
zusammengesetzt, eine Zufallszahl eben. Der Sinn oder Unsinn entsteht
überhaupt erst und auch da endgültig unabschließbar in der Rezeption,
beim Hören, Lesen, darüber Sprechen, d.h. dadurch, daß ein Zeichen
oder eine Zeichenfolge einem Code zugeordnet und entsprechend decodiert
werden kann. Das Wort amore werden die Deutschen immer als Liebe übersetzen,
in Italien kann es ebensogut die Maulbeere sein, darauf hat Umberto
Eco hingewiesen, oder eine Brünette, je nach Kontext oder Vorliebe.
"sträuße
seit sich aus unseren kammern
solche säfte geschöpft hatten,
werden euch auch die wurzeln übertragen:
ihr schnittet euch selbst
durch und durch sichtlich
in scheiben auf,
die an jede flüssigkeit grenzten.
der halm grünt uns, die blüte rötet euch,
sobald wir ausgeschlachtet worden sein werden
von all dem verscherben:
immer habt ihr euch gegabelt
durch uns gäste, die zweigsamen.
doch die gläser, die klingen uns bald,
so im heißen als messer,
während wir jetzt einander kosten
euch über dem wachsenden teig.
ganz verblümt blättert ihr uns
von den decken, den ganzen schmus:
diese luster werden geschwankt haben,
durch all unseren kohl
von euren blumen gebissen?
- ihr brachtet uns zum sieden."(16)
Das könnte Celan sein oder Hildesheimer..., Durs Grünbein könnte
einem neuerdings einfallen. Hugo Friedrich hätte es wohl an die Grenze,
den Endpunkt der modernen Lyrik gesetzt, also etwa 1950 datiert. Danach
kam für ihn keine moderne Lyrik mehr, d.h. u.a. nur konkrete oder
visuelle Poesie "mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt".
Das Gedicht "Sträuße" ist tatsächlich maschinell ausgeworfen, es
ist Teil einer für die gegenwärtige Situation ganz signifikanten Geschichte.
Zwei junge österreichische Dichter - Ferdinand Schmatz und Franz
Joseph Czernin - hatten ewig ihre moderne Lyrik produziert, verschickt,
zu publizieren versucht, von Verlag zu Verlag. Von den Verlagen kamen
diese Gedichte immer retour, sie seien nichts wert.... Gleichzeitig
haben sie zusammen das Programm POE, sprich etwa poetic engineering,
und darauf gestützt 80 Gedichte geschrieben, diese unter einem gemeinsamen
Pseudonym an einen Verlag in Österreich geschickt, der hat's gedruckt,
die Rezensenten waren begeistert, sie bekamen Preise etc. etc. Einige
Zeit danach ließen die beiden den Ballon platzen, alles nur von einem
Computer, alles ohne Autor etc. etc..., nachzulesen in Die Reisen.
In achtzig flachen Hunden in die ganze tiefe Grube.
POE arbeitet gemischt, mit Permutationen, einer Transformationsgrammatik
und einem einfachen Markoff-Modell. "Think Thunder" arbeitet mit einer
Transformationsgrammatik, "Racter" und "Delphi" mit Markoff-Ketten,
CAP wie erwähnt mit einer bereits sehr elaborierten Transformationsgrammatik.
In jedem Fall werden neue Zeichenfolgen gerechnet, das Zählen mit
einer Zufallszahl ist an die Stelle des Erzählens, der Umsetzung eines
Mythos, einer Fabel... einer literarischen Wahrnehmung getreten. Die
Literatur, die Poesie ist damit nur ans Bewußtsein und mehr und mehr
zur bewußten Handhabung ihrer elementaren Verfahren gelangt, eine
Entwicklung, die spätestens mit den Naturalisten und Mallarmé begann,
die sich in den formalistischen und strukturalistischen Beschreibungen
literarischer "Kunstgriffe" oder "Verfahren" fortsetzte, die heute
nur geschwinder, rechnergestützt eben praktiziert werden kann. Bei
der Zusammensetzung der Zeichenfolgen, die aus dem Rechner stammen,
und dann über ein Interface - Monitor, Lautsprecher, bedrucktes Papier
- abgelesen oder abgehört werden können, also bei der dann folgenden
Zusammensetzung oder Decodierung zu jenen mehr oder weniger komplexen
Gebilden, die wir immer noch Literatur, Poesie, Lyrik (wenn auch evtl.
heutzutage Gebrauchslyrik oder PR-Text) nennen, ist weiterhin der
Kopf gefragt, vielmehr: die Augen, Ohren, Nase, Mund... die synästhetischen
Fähigkeiten, mit denen die Imagination arbeitet. Sie, weiterhin sie
wird heute immer umfassender rechnergestützt, das ist alles. Der Autor,
jene eigenartige Gestalt, die sich einige (zumindest zwei) hundert
Jahre als Medium, als Engel oder Botschafter Gottes, des Weltgeistes,
des sozialen Sinns verstand, löst sich tatsächlich auf. Nicht wie
der Mensch, den Foucault als Figur im Sand bereits vom Winde verweht
gesehen hatte. Vielmehr verdoppelt und verdreifacht er sich, wird
er kooperativ oder interaktiv in noch viel weiterreichender Weise,
als es Dada oder Surrealismus praktizierten. Die "Funktion Autor",
wie Foucault das genannt hat, wird zu einem Programm, das von einem
oder mehreren Personen geschrieben, erweitert, umgeschrieben oder
auch gelöscht werden kann. Mithilfe dieser Programme und in diversen
Medien an diversen Interfaces ...via Multimedia-Karten und Modem in
die Netze gespeist - können damit immer neue Botschaften - Abenteuerromane,
Fotoromane, Poesie... - geschrieben werden, von wem auch immer. Der
Autor wird endgültig ein Problem des copyrights, ein ökonomisches
Problem, eine Frage der Verteilung von Gebühren, Tantiemen, Honoraren,
die keinen Genius mehr ehren, sondern ein einfallsreiches, schnelles,
effizientes Programm.
Heimrad Becker hat - mit dem Kopf, noch ohne Rechner - auf die Invektiven
Hugo Friedrichs gegen die konkrete Lyrik geantwortet, ganz im Geiste
der Buchstaben, die bei den Gegenwartsdichtern laut Friedrich zu keiner
Poesie mehr zusammenfinden. In der Hoffnung, daß nicht gleich der
Ruf nach der Müllabfuhr laut wird, sei sein Wortbild hier präsentiert:
hermetische ode an hugo friedrich
ben sil und ter wör schutt
sil und ter wör ben schutt
und ter wör ben sil schutt
ter wör ben sil und schutt
wör ben sil und ter schutt
ter und sil ben wör schutt
und sil ben wör ter schutt
sil ben wör ter und schutt
ben wör ter und sil schutt
wör ter und sil ben schutt(17)
Anmerkungen
(1) Hocke, Gustav René: Die Welt
als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur
(1957, 1959). Reinbek 1987
(2) Queneau, Raymond: Cent mille
milliards de poèmes (1961). Paris 1989
(3) Italo Calvino, Kybernetik und
Gespenster, Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft. Dt. v. Susanne
Schoop. München/Wien 1984, S. 14f.
(4) Requadt, Paul. Die Bildersprache
der deutschen Italiendichtung von Goethe bis Benn. Bern und München
1962, S. 17f.
(5) zit. Requadt, S.18
(6) Requadt, S.22
(7) (zit. nach Wasserzeichen der
Poesie, S. 41)
(8) Aus dem zumindest seit ein paar
Jahren diverse "Bausteine zu einem anderen Goethe" resultieren, s.
etwa Chiarini, Paolo (Hg): Bausteine zu einem neuen Goethe. Frankfurt/M.
1987
(9) zit. Riha, Karl: Kritik, Satire,
Parodie, Opladen 1992, S.46
(10) Heine, Heinrich: Werke, Frankfurt/M.1968,
Bd.4, Schriften über Deutschland, hg. H.Schanze, S.18f., zit. Riha,
S. 43
(11) Heinrich Heine: Reise von
München nach Genua, in: Werke, Bd.2, S. 286f.
(12) Das Programm, für den Wettbewerb
"Jugend forscht" 1988 entwickelt, illustriert das Versmaß natürlich
mit dem Lied Mignons:
"3.3.4 Versmaß
Eine weitere wichtige Eigenschaft, die Lyrik von Prosa unterscheidet,
sind Satzmelodie und Betonung in einem Gedicht. In der traditionellen
Lyrik war die Satzmelodie an ein festes Versmaß gebunden: die meisten
Gedichte haben als Versmaß den Jambus oder den Trochäus. Im Jambus
besteht jede Zeile aus einer Folge von abwechselnd unbetonten und
betonten Silben:
Kennst du das Land wo die Zitronen blühn?"
C.A.P. Der Gedichtgenerator. Einführung.
(13) Johann Conrad Nänny: Das Roman-Land.
Zit. bei Wende, Waltraud: Kennst du das Land. Goethes 'Mignon-Lied'
- die Ambivalenz realer und irrealer Erfahrungsdimensionen, unveröff.
Manuskript, Siegen 1994, S. 15
(14) Textgenerator "Delphi V. 2.0".
Datenbasis: Mignons Lied, Markowketten der Länge 5, programmiert von
Thomas Kamphusmann
(15) Bureau, Jacques: Zeitalter
der Logik, dt. J.-C. u. S. Piroué, Düsseldorf u. Wien 1973, S.154
(16) Czernin,Franz Joseph u. Schmatz,
Ferdinand: Teller und Schweiß, Wien 1991
(17)
Heimrad Bäcker, in: Theobaldy, J./Zürcher (Hgg.): Veränderung der Lyrik,
München 1976, S.42