Ettlinger Internet-Literaturwettbewerb 1999

Interview mit Koordinator Oliver Gassner


Im Rahmen der Landesliteraturtage Baden-Württemberg 1999 hat die Stadt Ettlingen einen Wettbewerb für Internetliteratur ausgeschrieben. Koordinator ist Oliver Gassner, selbst Autor von Netzliteratur, dessen umfangreiche Informations- und Linkseite zu Literatur im Netz, OLLi, 1997 mit dem Silbernen Pegasus des ZEIT/IBM Wettbewerbs zur Literatur im Internet ausgezeichnet wurde. Christiane Heibach sprach mit Oliver Gassner per E-Mail über den Wettbewerb und über die Gegenwart und Zukunft von Netzliteratur.


CH: Was hat eine Stadt wie Ettlingen dazu bewegt, eine im literarischen Umfeld doch noch sehr exotisch anmutende Literaturform wie Netzliteratur zum Gegenstand eines Wettbewerbs zu machen?

OG: Ich bin zwar nicht der Pressesprecher der Stadt, aber ich werde versuchen, das zu beantworten. Eine Kombination aus zwei Umständen: Daß Ettlingen - das auf der literarischen Landkarte des Landes bisher eher am Rande steht - 1999 der Gastgeber des Landesliteraturtage ist, in Kombination mit der Tatsache, daß man sich dort als Thema 'Jahrtausend(W)Ende' gestellt hat. Da kommt man am Boom des Mediums 'Internet' kaum vorbei, und wenn man dort nach Literatur sucht, dann stößt man auf das Thema Netzliteratur.

CH: Wird das Thema 'Jahrtausend(W)Ende' im Rahmen der Literaturtage auch für die Printliteratur eine Rolle spielen, so daß sich eventuell eine Art Dialog zwischen beiden Literaturformen ergibt?

OG: Genau das ist geplant. Wenn ich mich recht entsinne, ist auch die letzte Jahrhundertwende mit im Thema, so daß man vergleichen kann. Auch damals gab es ja recht wirre Projektionen, wie im neuen Jahrhundert das Leben aussehen würde. Ich erinnere mich da dumpf an einen Band 'Luftschlösser der Belle Epoque', mit Opern aus dem Telefon (MPEG3?), und jeder schippert ein Privatluftschiff durch den Stau in den Wolken über Paris. Mit der Planung der Literaturtage im Großen habe ich wenig zu tun, mir reicht mein 'Feld', das ich bebaue, momentan vollkommen. Dafür, daß die Rädchen ineinandergreifen, sorgt das Kulturamt Ettlingen. Der Dialog aber dürfte dann interessant werden. Ich freu mich schon auf Oktober.

CH: In welchem Rahmen wird dieser Dialog ablaufen?

OG: Einerseits hoffe ich natürlich auf die Gespräche am Rande. Andererseits plane ich gerade ein Projekt, bei dem Netz- und Printautoren gemeinsam in Paaren an Webfictions oder wasauchimmer arbeiten sollen, werden, können. Das ist noch sehr skizzenhaft momentan und wird und soll in seiner Ausprägung auch von den Personen abhängen. Diese Teams sollen sich dann im Oktober in Ettlingen mit Preisträgern und Jury treffen. On va voir.

CH: Die vergangenen Pegasus-Wettbewerbe haben gezeigt, daß es noch sehr problematisch ist, für eine so junge Literaturform überhaupt Auswahlkriterien zu finden. Wie wurde in diesem Fall die Frage gelöst?

OG: Indem wir bisher keine Kriterien haben. Der Kulturamtsleiter von Ettlingen, Dr. Robert Determann, und ich haben versucht, das Kriterienproblem anders zu lösen: Durch die richtigen Personen. Wir haben Online- und Offlinejournalisten in die Jury gebeten, Kenner der Literaturgeschichte und 'Macher' der aktuellen Literaturszene. Dieser Mix aus 'Onlinern und Offlinern', wie ich mich gerne ausdrücke, sollte für interessante Blickwinkel und Diskussionen sorgen.

Ich habe für mich versucht 'Kriteren' zu formulieren und scheitere da. Ich habe es dann 'Fragen, die an ein Werk zu stellen wären', umformuliert; und dann ging es. Dabei kommt eben keine Checkliste raus, sondern eher so etwas wie 'Wohin sollte man bei einem digitalen literarischen Text schauen?'

CH: Und wohin soll man Deiner Meinung nach schauen?

OG: Im Wesentlichen darauf, wie das, was nur im Web geht, ästhetisch umgesetzt wird. Ob es nur als triviale Spielerei eingesetzt ist - ob das Buch eben nur einfach so 'hupt', wie Susanne Berkenheger das so schön gesagt hat, oder ob das 'hupende Buch' durch seine zusätzliche Dimension eine andere Art von 'Lesen', eine neue ästhetische Erfahrung möglich macht. Ich benutze gern das Beispiel Hörspiel: Das ist etwas ganz anderes als eine Kurzgeschichte oder ein Theaterstück. In beiden hätte der 'Krieg der Welten' von Orson Welles eben nicht funktioniert. Die Leute wären aus dem Ohrensessel oder aus dem Theatersitz heraus nicht in die Panik geraten, in die sie das Hörspiel versetzt hat. Wir sind gerade dabei, der Geburt des Hörspiels oder des Theaters zuzusehen, und das ist... ich sag es immer wieder... spannend.

Ich selbst habe für mich einen Fragenkatalog entworfen:

Inwiefern ist der Text Produkt, Anregung oder Fokus von Kommunikation zwischen Menschen (Menschen und Maschinen, Menschen und Texten) im Netz? Ich nenne das 'Kommunikativität'. Der Online-Journalist Michael Charlier spricht von KommuniAktion. Andere benutzen das böse Wort 'Interaktivität', das wohl inzwischen heißt "Da kann man irgendwie mit der Maus klicken."
 
Wie ist der Weg des Lesenden durch den Text? Beschreitet der Text selbst neue Wege? Wie sind die Elemente des Textes miteinander verbunden? Steht Wahl oder Automatismus im Vordergrund? - also die Navigierbarkeit. Wie 'digital', wie 'soft' ist dieser Text? Wie verändert er sich in seiner Form oder seinem Inhalt? Ist er auf Veränderlichkeit, Veränderbarkeit ausgelegt? Wie geht der Text mit seiner 'Befreiung' um?
 
Wie geht das Werk mit verschiedenen Datenformaten und Sinneskanälen um? Wie verwendet es Sprache, Bild und Ton im Verhältnis zueinander? Ich rede da lieber von 'polymedial' als von 'multimedial'.
 
Wie geht das Werk mit seinem Transportmedium um? Entwickelt es eine eigene Ästhetik/Rhetorik?
 
Was klar sein muss: Ein Werk muss nicht alle diese Bereiche mit Gewalt 'abgrasen'. Wenn es das täte, wäre es wahrscheinlich vollkommen überladen.

CH: Kannst Du näheres zu den Jurymitgliedern des Wettbewerbs sagen?

OG: Ich bleib mal im Alphabet: Gerhard Blechinger ist Kurator beim ZKM in Karlsruhe, ein Nachbar von Ettlingen und ein Mensch, von dem ich mir Impulse für Diskussionen um die Medialitätsfragen erhoffe, die sicher aufkommen werden. Er ist Kunsthistoriker und hat so einen anderen und interessanten Blick auf das, was an Kunst im Netz passiert. Michael Charlier ist Online-Journalist: Als Mitglied im Organisationsteam des ZEIT/IBM-Internet-Literaturwettbewerbs ist er einer der Leute, die einen recht breiten Überblick über das haben, was es in diesem Bereich so gibt. Michael Hübl hat als Kulturredakteur der "Badischen Neusten Nachrichten" sicher eine ganz eigene Herangehensweise an dieses Gebiet. Heiko Idensen hingegen ist jemand, der nicht nur von der universitären Beschäftigung mit elektronischer Kunst geprägt ist, sondern auch selbst einschlägige Erfahrungen bei der Realisation von "digital art" hat. Hansgeorg Schmidt-Bergmann von der "Literarischen Gesellschaft" in Karlsruhe (auch unter "Scheffelbund" bekannt) vertritt die größte literarische Gesellschaft Deutschlands und ist nicht nur Literaturkenner sondern auch Förderer junger Autoren und aktueller Literatur. Julia Schröder ist wie Michael Hübl Zeitungsredakteurin, sie ist bei der Stuttgarter Zeitung für Literatur zuständig. Mit Dirk Schröder ist sie - soweit ich weiß - weder verwandt noch verschwägert.

CH: Was können solche Wettbewerbe für netzliterarische Projekte bewirken? Können sie z.B. zu einer größeren Akzeptanz und Popularität im doch noch sehr von der Printliteratur geprägten Literaturbetrieb führen?

OG: Nach dreimal IBM-ZEIT-Pegasus bleibt der Run der Printliteraten und des Printpublikums auf das Netz 'immer noch' aus. Ob man das also als Ziel formulieren sollte, ist fraglich. Michael Charlier hat mir 1997, als wir uns in Berlin kennenlernten, gesagt, er habe unter anderem als Vorstellung gehabt, daß sich unter dem Einfluß des Wettbewerbs eine Szene, eine Kommunikationsgemeinschaft bilden kann - er drückte sich anders aus, ich zitiere, was ich zu erinnern glaube (leider war es nicht per Mail, dann hätte ich es noch - *grins*). Das, denke ich, ist erreicht und ein sehr gutes Zwischenergebnis. Solche Veranstaltungen wie das Konstanzer Sommertreffen von Mitgliedern der Mailingliste Netzliteratur und die 'Klausur' in Romainmôtier sind dann die im 'real life' sichtbaren Ausläufer dieses 'Wanderzirkus', wie ihn - glaube ich - Claudia Klinger taufte. Dieser 'elektronische Donnerstags-Salon' ist ein zu pflegender Nährboden für Weiteres: Zusammen mit Hermann 'hero' Rothermund warten wir immer noch auf den 'Ulysses' des Netzes - mir wäre auch schon mit einem Böll, Grass, Kisch oder Tucholsky des Netzes gedient. Wir sind vielleicht da, wo der Roman bei Bunyan war, vielleicht sind wir schon zu Defoe vorgedrungen. Aber es ist noch ein weiter Weg zum 'Ulysses'. Auf diesem Weg gilt es nun ein paar Schritte zu machen; die Professionalisierung der literarischen Kunstformen im Netz anzugehen. Die Musiker, die Grafiker und die Videokünstler sind schon da, die Literaten lungern noch am Rand herum und warten auf ... irgendwas... wahrscheinlich auf Honorare. Diese Professionalisierung der Literatur im Netz ist, denke ich, nicht ohne den etablierten Literaturbetrieb zu machen. Hettche macht das mit NULL medienwirksam vor. Nachmachen muß gefördert werden. 'Literature is 50 years behind painting.' schrieb Burroughs und machte Cut-Up. So lange muß es ja nicht dauern.

CH: Ist es nicht eher hinderlich für die Herausbildung eines neuen Genres (wenn man Netzliteratur als solches sehen will), es dauernd an den Errungenschaften der Printliteratur zu messen? Im Netz herrschen doch völlig andere Produktionsbedingungen, die eigentlich auch zu neuen Maßstäben führen müßten (z.B. Multimedialität, Integration der Vernetzung durch Integration von Kommunikationsmöglichkeiten). Wo siehst Du als einer der "dienstältesten" Netzliteraten die ganz spezifischen Qualitäten von Netzliteratur?

OG: Du kannst natürlich Netzliteratur an Printliteratur nicht messen. Man kann Bücher nicht mit Filmen vergleichen und Hörspiele nicht mit Dramen. Und Gedichte über Barbarossa nicht mit historischen Romanen. Das Spezifische an Netzliteratur? Ein paar Ansätze finden sich ja oben im Fragenkatalog. (Das ist das schöne an Mail-Interviews, dass sie eigentlich keine Zeitachse haben.) Was ist das Spezifische am Roman? Schwierige Frage, und wahrscheinlich nicht definitiv zu beantworten. Für mich ist es vor allem eines: Daß Netzliteratur sich die Welt, in der sie erzählt (Prosa) oder singt (Lyrik) oder ... piepst und hupt, selbst schafft. Daß sie aus Nichts und ein paar Byte und vielen Kabeln und einigen Menschen - oder ein paar mehr - etwas baut, was neu ist. - So wie ein paar Bretter und ein paar Scheinwerfer etwas schaffen, was einmal neu war, immer wieder neu ist und das die Welt fasziniert.

CH: Wäre eine Kommerzialisierung von Netzliteratur - so wünschenswert sie für die Autoren selbst wäre - nicht gegen die "Philosophie" des Internet, nämlich freie Zugänglichkeit zu den Daten zu gewährleisten? Wie könnte dieses Problem Deiner Meinung nach gelöst werden, ohne die Zugangsfreiheit einzuschränken?

OG: Zur ersten Hälfte der Frage: Jein. Lapidar gesagt: Printliteratur ist ja auch kommerziell und Du kannst jedes Buch (fast gratis) in der Bibliothek ausleihen. Und: Nicht jeder kann es sich leisten, hohe Qualität umsonst zu liefern. Die Frage ist natürlich: "Wer bezahlt für Literatur im Netz, durch das Netz, Netzliteratur?" Ich kann nur sagen, wer sich momentan interessiert und finanziert: Kulturämter und Landesregierungen. Ein Viertel des Waren-Umsatzes im Netz, las ich vor ein paar Tagen, soll 2003 mit Büchern gemacht werden. Die Leute, die diese Umsätze machen wollen, sind daran interessiert, das Netz als Kulturmedium zu erhalten und zu fördern. So wie man eine Innenstadt pflegen muß, damit die Leute dort gerne einkaufen, muß man auch das globale Dorf pflegen, damit es für Menschen, die bestimmte Produkte zu erwerben geneigt sind, ein attraktives Umfeld bietet. "Was gibt es denn im Netz, was ich haben will?" ist die Frage der Leute, die momentan (noch?) offline sind. Wenn die Verkäufer antworten müssen: "Nichts, was es nicht anderswo gibt.", dann... Ob es da noch andere Möglichkeiten gibt...? Ich denke darüber nach. Glaub mir.

CH: Dann wünsche ich der Stadt Ettlingen und Dir einen erfolgreichen Wettbewerb - und uns allen interessante Beiträge. Vielen Dank für das Gespräch.