Reinhard Döhl
Experiment und Sprache/Literatur und Experiment
1954 und 1963 erschienen zwei Arbeiten, die bereits in ihrer Titulatur auf die Sprache als das eigentliche Material des Dichters besonderes Gewicht legten, Fritz Martinis "Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn" (1) und Alfred Liedes "Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache" (2). Bezeichnenderweise wollte Liedes Arbeit ursprünglich [...] moderne Bewegungen wie Dadaismus und Surrealismus im Zusammenhang mit ihren Vorläufern deuten und sie von allen Modeschlagwörtern befreien, stieß dabei aber in ein Gebiet vor [...], in welchem die modernen Ismen nur als letzte Ausläufer gelten können, von denen aus sich freilich Ausblicke in neue Möglichkeiten der Dichtung öffnen (3). Liede sah sich bei seinem Aufsuchen der Grenzen der Dichtung legitimiert durch eine wesentliche Erkenntnis der heutigen Literaturwissenschaft, nach der sich an den äußersten Grenzen der Dichtung Bestrebungen enthüllen, welche in einer gemäßigteren Form, durch andere Kräfte gebändigt, auch in den bedeutenderen Werken eines Dichters oder einer Zeit eine Rolle spielen. 'Cesont les abus qui caractérisent le mieux les tendances'. Und er fuhr fort, daß es dabei ein Glücksfall sei, wenn solche extremen Entscheidungen in bisher meist wenig oder gar nicht beachteten Poesien bekannter Dichter auftreten oder wenn bedeutende Dichter ein besonderes Interesse für solch Erscheinungen bekundet haben" (4). Sieht man von einigen Vorläufern (5) ab, deren Berücksichtigung für Liedes Arbeit eher einen expositorischen Wert hat, ist seine Untersuchung wesentlich auf (unsinnige) Sprachgrenzerkundungen des 20. Jahrhunderts konzentriert. Das ist bei den Interpretationen Martinis nicht anders. Auch sie gehen nicht von der literaturhistorisch gesicherten Regel, sondern von der Ausnahme aus, überzeugt, daß es zuerst und vor allem einer sehr genauen Kenntnis dessen bedürfe, was sich seit Nietzsche in der deutschen Dichtung aus ihrem Material und ihrer Substanz, das heißt aus ihrer Sprache und von deren Ausdrucksmöglichkeiten her, vollzogen hat und was in ihr als Sprache und Form neu geschaffen und geleistet wurde. Wobei Martini mit Nachdruck die Tatsache betont, daß die Dichtung in all ihren Darbietungsformen zuerst ein Ereignis der Sprache sei und sich in ihr auf eine sehr mannigfaltige und dennoch gesetzliche Weise verwirkliche, daß gerade aus dieser Erfahrung heraus seit Nietzsche die Sprache selbst zum Gegenstand und Problem im künstlerischen Sprechen [...], zum Akt der experimentierenden Besinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache wurde (6). Darf man Martinis Formulierung vom Akt der experimentierenden Besinnung auf die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache zu "Experiment mit der Sprache" verkürzen, führt dies zu einem weiteren zentralen Stichwort der damaligen Diskussion. In einem Vortrag des Jahres 1965, "Keine Experimente? Anmerkungen zu einem Schlagwort" (7), hat Helmut Heißenbüttel aus drei großen deutschen Tageszeitungen eine durchaus unvollständige Liste erstellt, die erhellen sollte, in welcher Art die Kulturkritik des Feuilletons den Begriff gebrauchte. Wobei nicht nur für den Literatursoziologen als Hintergrund erwähnt werden muß, daß eine Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre von der regierenden CDU vielbemühte Wahlparole Keine Experimente hieß. Vor diesem Hintergrund belegt Heißenbüttels Liste einen, wie es scheinen will, unterschiedlichen und fast inflationären Gebrauch des Wortes für die Jahre 1962 bis 1965 (8). Heißenbüttels Beispielsammlung macht dreierlei deutlich.
Eine eigensinnige Auffassung im Lager der Gegner hat Günter Grass 1960 auf der Arbeitstagung "Lyrik heute" im Rahmen des "Internationalen Kongresses der Schriftsteller deutscher Sprache" in Berlin vertreten, indem er einerseits die Phantasie gegen das Experiment ausspielte (13), andererseits dem Labordichter dafür dankt, daß er ihm Arbeit abnehme, indem er recht hübsche Versuche auf Gebieten mache, die auch ich, in den Pausen zwischen Gelegenheit und Gelegenheit, beackern müßte, doch, da es ihn, den Labordichter gibt, nicht beackern muß; frech und epigonal packe ich ihn bei seinen Ergebnissen und verwende, immer hübsch bei Gelegenheit, die Frucht seiner Experimente, indem ich sie mißverstehe (14). Was die Gegner vor allem provoziert, ist das Labor, ein grundsätzlich angenommener mechanischer Charakter des Experiments. Alfred Andersch' abwertender Hinweis auf die Versuchsreihen macht dies deutlich. Aber auch Enzensberger und selbst Heißenbüttel gehen, wie Hans Schwerte in seinem Aufsatz über den "Begriff des Experiments in der Dichtung" (15) vermutet, bei ihren abwehrenden Formulierungen anscheinend von einer Experiment-Vorstellung aus [...], die eher aus der sogenannten klassischen Physik bis Ende des 19. Jahrhunderts stamme (16). Stimmt dies für den Begriff des Experiments, so stimmt dies im Falle Heißenbüttels nicht für Einsichten in Wechselbeziehungen zwischen Naturwissenschaft und Literatur, über die er im gleichen Jahr, in dem er nach der Bedeutung von Experiment fragte, "13 Hypothesen über Literatur und Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeiten" aufstellte (17). In der Tat erfolgt die Ablehnung des literarischen Experiments als einer Versuchsreihe zu einer Zeit, in der sich der naturwissenschaftliche Begriff des Experiments längst entschieden gewandelt hatte, die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie längst nicht mehr deutlich zu ziehen sind, wenn man z.B. an die berühmten Arbeiten Albert Einsteins (18), Carl Friedrich von Weizsäckers (19) und anderer denkt (19a). So daß sich die Kritiker literarischer Experimente fragen lassen müssen, ob ihr Begriff des Experiments historisch überhaupt (noch) stimmt und ob er nicht in jedem Falle zu kurz greift. Eine weitere Frage, die sich daran anschließt, folgt aus der These Schwertes, nach der es sich beim Experiment in der Dichtung um eine Begriffsübertragung handele, die in einem Dreischritt zuerst von den Frühromantikern, dann von Emile Zola und den Naturalisten vorgenommen, schließlich von Friedrich Nietzsche für das 20. Jahrhundert folgenreich vorbereitet wurde (20). Von Galilei bis Lichtenberg Daß man es nämlich weder mit einer schlichten Begriffsübertragung noch mit simplen Versuchsreihen zu tun hat, macht ein wort- und kulturgeschichtlicher Exkurs schnell deutlich, der eine zunächst durchaus weitgefaßte Anwendbarkeit des Begriffs ablesen läßt. Denn das lateinische experimentum bedeutet sowohl den Versuch, die Probe, den Erfahrungsbeweis wie (übertragen) die Erfahrung, die als experientia bis zur Zeit der Renaissance, des Humanismus mit experimentum gleichbedeutend gebraucht wurde. Zieht man das Verb experiri hinzu, bestätigt sich dieses Bedeutungsspektrum, denn das läßt sich sowohl mit versuchen, probieren als auch mit etwas oder jemanden (aus Erfahrung) finden, sehen, erfahren, erleben übersetzen, wobei die speziellen Bedeutungen riskieren, sich (im Wettstreit mit jemandem) messen und (im Falle von Musikern) eine Probe abhalten recht aufschlußreich sind. Eine ansatzweise Bedeutungsverkürzung erfährt das Wort erst im Übergang zur Neuzeit, in der einmal Francis Bacon 1623 von der 'gefragten Erfahrung', der experientia quaesita ["De dignitate et augumentis scientiarum", 1623] spricht, andererseits Galileo Galilei in den Gedankenexperimenten zum ersten Mal nicht (mehr) Frage nach dem "Warum" sondern nach dem "Wie" eines physikalischen Prozesses stellt und damit die Grundlage legte für die experimentellen Methoden der naturwissenschaftlichen Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert. Aber noch im 18. Jahrhundert ist das ursprüngliche Bedeutungsspektrum implizit nachweisbar, und zwar in den sogenannten "Sudelbüchern" Georg Christoph Lichtenbergs, deren einige von zwei Seiten geführt wurden, von der einen mit Niederschrift jener Aphorismen, mit denen Lichtenberg posthum berühmt wurde, von der anderen mit der Notation physikalischer und anderer naturwissenschaftlicher Experimente und Erfahrungen. Diese von Lichtenberg auch "Gedankenbücher" genannten Hefte sind besonders aufregend dort, wo sich die beiden Notizreihen treffen ja ineinandergreifen und beides, die literarischen und physikalischen Gedanken noch einmal vereinen. Eine genaue Lektüre belegt dabei einen eher sparsamen Wortgebrauch. Das Substantiv Experiment wird von Lichtenberg - wenn ich mich nicht verzählt habe - nur fünfmal, das Verb experimentieren zweimal, das Adjektiv experimental einmal benutzt, je einmal die Komposita Experimental-Physik und Experimental-Politik. Ein weiterer Aphorismus bezieht sich so eindeutig auf das Labor als Ort des Experiments, das ich ihn hierher rechnen möchte. Ich zitiere zunächst die Belege: Experiment [B I 152]: Eine Predigt über die Worte des Herrn Silberschlags (S. dessen Klosterbergische Versuche p. 21:) Sie schlafen so lange man demonstriert und wachen nicht eher auf bis man ein Experiment macht***. *** VERSUCHE PAR Mt de Costerberg. Etwas für
die Journal Encycloedique.
[D II 721]: [in einem über mehrere Aphorismen gehenden fingierten Gespräch "Aristarchs und andere[r] alte[r] Astromen" angesichts einer "Charte vom Mond so wie sie Mayer gezeichnet hat", bei der sie glauben würden, es wäre mit Offenbarung zugegangen]: A. Die Watte müsse den Mondbürgern bei der Ebbe anders aussehen als bei der Flut. Hierbei können Mayers Experimenta circa visus aciem sehr genützt werden. [J II 1521]: Wer bloß Beobachtung und Experimente häuft kömmt mir vor wie jemand der ein Register führt über die Steine, die zwei Schachspieler aufheben und niedersetzen oder wegnehmen, der der bemerkt, welche Bewegungen sie machen ist schon viel weiter, es wird ihn nicht wenig Zeit kosten die Gesetze der Bewegung genau aus zu machen und doch wird viel Zeit verstreichen bis er die Absicht errät warum alle diese Bewegung[en] unternommen werden, und daß alles geschieht um den König zum Gefangenen zu machen. Ohne Hypothesen dieser Art läßt sich nichts ausrichten. Die Frage ob sie nützlich sind, hat etwas Ungereimtes in sich: denn man will ja doch die Erscheinungen in der Natur erklären, und eine solche Hypothese ist ja weiter nichts als eine solche gewagte Erklärung, sie fällt sogar von selbst über den Haufen, sobald ihr die Erscheinungen widersprechen. Auch die Frage ob die falschen Hypothesen ihren Nutzen haben können beantwortet sich sogleich von selbst. Es ist nämlich nicht jedermanns Sache gleich das Beste zu treffen. Sie kommen nicht bloß in der Naturlehre vor. Turenne und Friedrich II folgten ihnen bei ihren Unternehmungen so gut als Newton. L'hombre kann ohne Hypothesen nicht gespielt werden, und die feinsten Spieler machen die meisten, und wenn die falsche widerlegt wird, so steht gleich wieder eine andere da, die selten schlechter ist. [K II 159]: Ich sehe darin nichts so sehr Arges, daß man in Frankreich der christlichen Religion entsagt hat. Das sind ja alles nur kleine Winkelzüge: Wie wenn das Volk nun ohne allen äußeren Zwang in ihren Schoß zurückkehrt, weil ohne sie kein Glück wäre? Welches Beispiel für die Nachwelt, und welches kostbare Experiment, das man wahrlich nicht alle Tage anstellt! Ja, vielleicht war es nötig, sie einmal ganz aufzuheben, um sie gereinigt wieder einzuführen. [RA II 146]: and the experiment succeeded beyond my expectation ein sehr philosophischer Ausdruck. experimental [G II 129]: Ihre Kritik ist bloß experimental, sie bewundern, was sie haben bewundern hören. experimentieren [K II 308]: Wie viele Ideen schweben nicht zerstreut in meinem Kopf,
wovon manches Paar, wenn sie zusammenkämen, die größte
Entdeckung bewirken könnte. Aber sie liegen so getrennt, wie der
Goslarische Schwefel vom Ostindischen Salpeter und dem Staube in den
Kohlenmeilern auf dem Eichsfelde, welche zusammen Schießpulver
machen würden. Wie lange haben nicht die Ingredienzien des Schießpulvers
existiert vor dem Schießpulver! Ein natürliches aqua regis
gibt es nicht. Wenn wir beim Nachdenken uns den natürlichen Fügungen
der Verstandesnormen und der Vernunft überlassen, so kleben
die Begriffe oft zu sehr an anderen, daß sie sich nicht mit
denen vereinigen können, denen sie eigentlich zugehören. Wenn
es doch da etwas gäbe, wie in der Chemie Auflösung, wo die
einzelnen Teile leicht suspendiert schwimmen und daher jedem Zuge folgen
können. Da aber dieses nicht angeht, so muß man die Dinge
vorsätzlich zusammen bringen. Man muß mit Ideen experimentieren.
Experimental-Physik [J II 1393]: Ja an das zu denken was Deiman mit Recht sagte die Deutschen täten jetzt nichts für Experimental-Physik. Experimental-Politik [L I 322]: Experimental-Politik, die Französische Revolution. Laboratorio L II 900: Die Dauer der Zeit ist ein wichtiges Hindernis bei allen unsern Bemühungen die Erscheinungen der Natur mit Oppositionen im Laboratorio zu erklären. Die Gewitter blühen bloß im Sommer aber wer weiß denn in welchem Jahr sie gepflanzt worden sind (NB. NB NB) Eine Année des Hannetons. Viele Küchen-Operationen geraten nicht bei übereiltem Feuer. Der Zinnbaum auch nicht. - Diese Schwierigkeiten werden Menschen nie überwinden können. Der Anfang kann gut so gemacht werden: So wie der Raum uns die Ergründung mancher Dinge unmöglich macht so kann es auch die Zeit. So wie wir den Mond nicht erklettern oder nicht zum Mittelpunkt der Erde hinabsteigen, so wenig werden wir Naturprocesse nachmachen können, über denen sie vielleicht Jahrhunderte brütet und [wozu sie] die Ingredienzien aus allen fünf Weltteilen herbeischafft. Das ist eine verblüffend geringe Ausbeute, die ihre Erklärung allerdings daraus erfährt, daß Lichtenberg dem Terminus Experiment das deutsche Aequivalent Versuch vorzog. Entsprechend ist in seinem Fall die Zahl der Belege ungleich größer, und bestätigt den Wortgebrauch im Umfeld der Experimental-Physik. Dennoch ist Aufmerksamkeit geboten, zum Beispiel bei dem Notat [J 764] Durch vieles Lesen lernt man sogar Versuche gut erzählen, die man sehr schlecht angestellt hat. Albrecht Schöne hat in einer einlässigen Untersuchung der "Lichtenbergschen Konjunktive", "Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik", nachgewiesen, daß Notate der Art Experimental-Politik, die französische Revolution dennoch zeigen, daß Lichtenberg auch außerphysikalische Ereignisse wie ein Experimental-Physiker beobachtet, daß er sie als Experiment beobachtet und bedenkt. Daß also vieles von dem, was die "Sudelhefte" enthalten, nicht einfach gescheite Aphorismen sind, sondern bei genauerem Nachlesen sich als Gedankenexperimente entpuppen, deren bevorzugte Redeform, da sie ja von Annahmen ausgehen, der Konjunktiv ist. Solche Gedanken- bzw. Ideen-Experimente ( Man muß mit Ideen experimentieren, K II, 308) finden in der Wörter-Welt (J I 357) statt, in der ein Notat wie J I, 360 - Wenn du Hunde, die Wespen und die Hornisse mit menschlicher Vernunft begabt wären, so könnten sie sich vielleicht der Welt bemächtigen [Unterstreichungen von mir] - mehr als nur ein monströser Aphorismus ist. Denn ihm voraus geht folgenden Gedankenspiel: [J I, 359]: Wenn es noch ein Tier gäbe, dem Menschen an Kräften überlegen, das sich zuweilen ein Vergnügen machte mit ihm zu spielen, wie die Kinder mit Maikäfern, oder sie in Kabinetten aufspießte wie Schmetterlinge. Ein solches Tier würde wohl am Ende ausgerottet, zumal wenn es nicht an Geisteskräften dem Menschen sehr weit überlegen wäre. Es würde ihm unmöglich sein sich gegen die Menschen zu halten. Es müßte ihn dann verhindern seine Kräfte im mindesten zu üben. Die Übertragung aus der Wörter-Welt in die Welt der Empirie (die empirische Welt) erfolgt im Indikativ: Ein solches Tier ist aber würklich der Despotismus und doch hält er sich noch an so vielen Orten. Lichtenberg, und das macht die gegebenen Zitate, die sich leicht vermehren ließen, so brisant, formuliert sie in den Jahren 1789 bis 1799, beobachtet das Experiment der Französischen Revolution also noch zu einer Zeit, in der sich viele ihrer literarischen Parteigänger, so exemplarisch Friedrich Gottlieb Klopstock, längst entsetzt abgewandt hatten. Von der Natursprache zur Kunstsprache (Novalis) Sind Lichtenbergs "Sudel-" oder "Gedankenbücher" alles in allem genommen eines der ganz großen Zeugnisse aufgeklärten Denkens, ist "Das allgemeine Brouillon" (21) des Novalis, sind seine "Materialien zur Enzyklopädistik" mit Paul Kluckhohns Worten, einer der größten Pläne in der deutschen Geistesgeschichte und eines der bedeutendsten Dokumente des frühromantischen Geistes. Fragment, wie so manches damals Gedachte, und doch nichts Geringeres als - nach d'Alemberg/Diderot - eine neue Enzyklopädie anzielend. Sie ist für meinen Zusammenhang wichtig, weil in ihr das Wort Experiment zwar keine zentrale, dennoch unübersehbare neue Bedeutung gewinnt, wobei das Wort offensichtlich aus dem naturwissenschaftlichen Gebrauch herausgelöst in Novalis' erzromantischem Plan, der Vereinigung aller Wissenschaften einschließlich der Künste zu einem Gesamten, in den verschiedensten Ebenen funktioniert. Um davon wenigstens einen Eindruck zu vermitteln, sind wiederum einige, z.T. auch längere Zitate notwendig. Umso mehr, als es in der Forschungsliteratur bisher üblich war, sehr verkürzt zu zitieren, sei es, daß man wie Schwerte vor allem am Nachweis der Begriffsübertragung interessiert war, sei es, daß man, im verkürzten Zitat, Novalis zum Vorläufer und Kronzeugen einer radikalen Artistik machen wollte (22). [89]: PHYS[IKALISCHE] KUNSTL[EHRE]. Wie wenig Menschen haben Genie zum Experimentieren. Der ächte Experimentator muß ein dunkles Gefühl der Natur in sich haben, das ihn, je vollkommner seine Anlagen sind, um so sicherer auf seinem Gange leitet und mit desto größerer Genauigkeit das versteckte entscheidende Phänomen finden und bestimmen läßt. Die Natur inspirirt gleichsam den ächten Liebhaber und offenbart sich um so vollkommner durch ihn - je harmonischer seine Constitution mit ihr ist. Der ächte Naturliebhaber zeichnet sich eben durch seine Fertigkeit, die Experimente zu vervielfältigen, zu vereinfachen, zu combiniren, und zu Analysiren. zu romantisiren und popularisiren, durch seinen Erfindungsgeist neuer Experimente - durch seine Naturgeschmackvolle oder Natursinnreiche Auswahl und Anordnung derselben, durch Schärfe und Deutlichkeit der Beobachtung, und artistische, sowohl zusammengefaßte, als ausführliche Beschreibung, oder Darstellung der Beobachtung aus. - Also - Auch Experimentator ist nur das Genie. [528]: LOGIK ETC. Wie ich zum Experimentiren eine allg[emeine] Idee - idealisches Schema des Experimentirens mit hinzubringen muß - eine rohe Schematische Hypothese - so muß ich dem Demonstriren - dem idealen Experimentiren - ein rohes - bestimmbares - reizbares - objectives Schema zum Grunde legen. Jenes liefert die subiective - dies die obj[ective] Fantasie. Ein Plan ist ein Subj[ectives] Schema. Wie der ideale und reale Versuch vorwärts rückt - wird das Schema mannichfaltiger - und harmonischer bestimmt - und umgekehrt mit der Vervollständigung und Erhöhung des Schemas klärt sich der Versuch auf, wird mannichfacher und höher grädig. [529]: EXPERIMENTALLEHRE. Berichtigung v[on] Werners Classifikat[ions]System - Seine Schrift. Unaufhörliche Kritik der Beobachtung - Vergleichung der Beobachtungen [Vervielfältigung der Versuche] Der Beobachtungsprocess ist ein zugl[eich] subj[ectiver] und obj[ectiver] Process - ideales und reales Experiment zugleich. Satz und Produkt müssen - zugl[eich] fertig werden, wenn er recht vollk[ommen] ist. Ist der beobachtete Gegenstand ein Satz schon und der Process durchaus in Gedanken - so wird das Resultat des Beweises derselbe Satz nur in höhern Grade seyn. So in einem durchaus realen Process - wenn es einen giebt? Mittelproceß - ideal und real zugleich - Über den Realen Beweis der realen Auflösung. Das künstliche Product ist d[as] höhere - es ist in meine Gewalt gekommen. Die physische und chemische Synth[ese] ist nichts, als ein realer Bew[eis] einer realen Auflösung. [647]: Ein gutes physicalisches Experiment kann zum Muster eines innern Experiments dienen und ist selbst ein gutes innres subj[ectives] Experiment mit. (vid. Ritters Experimente.) [648]: Die Verwandtschaft der Geom[etrie] und Mechanik mit den höchsten
Problemen des menschl[ichen] Geistes überhaupt leuchtet aus d[em]
atomistischen und Dynamischen Sektenstreit hervor. [657]: Alles kann zum Experiment - alles zum Organ werden. Ächte Erfahrung entsteht aus ächten Experimenten. (Versuche sind Experimente.) Fichte lehrt das Geheimnis der Experimentirens - lehrt Thatsachen und Thathandlungen, oder wirckliche Sachen und Handl[ungen] - in Experimente und Begriffe verwandeln. Sachen in entgegenges[etzte] Handl[ungen], in Begriff - Handl[ungen] in entg[egengesetzte] Sachen - auch in Begriffe. Diese Begriffe hängen zusammen - die Handl[ungen] und Sachen hängen zusammen - und alle 4 hängen gegenseitig zusammen. [702]: Sollte es sich bestätigen, daß der Satz des Widerspruchs
der Grundsatz des Denkvermögens, der Oberste der Logik,
sey, so wäre dies nur eine Indication, daß wir mit der Logik
allein nicht viel ausrichten könnten, daß das Denkverm[ögen]
allein keinen (großen) Nutzen gewähre - sondern, daß
wir noch ein andres Vermögen und seine Theorie aufsuchen müßten,
die als dem Denkvermögen und d[er] Logik entgegengesetzt und allein
eben so nutzlos, als diese, in Verbindung mit diesen gesezt werden müßten,
um daraus ein zusammengeseztes Vermögen - und zusammengesezte,
sich gegenseitig complettirende Theorien und Handl[ungen] und Resultate
zu erlangen und so fort. [766]: Durch Experimentiren lernen wir beobachten - Im Experimentiren beobachten wir uns selbst etc. - und lernen dadurch von den fremden Phaenomenen auf die Einheit sichre Schlüsse ziehn - oder richtig beobachten. In einer richtigen Beobachtung liegt auch schon die Erklärung. [805]: Man geht mit den Erfahrungen und Experimenten noch viel zu sorglos um - Man versteht sie nicht zu benutzen - Man betrachtet zu wenig die Erfahrungen - als Data zur Auflösung und mannichfaltigen Combinationen zum Calcül - Man überlegt die Erfahrungen in Beziehung auf Schlüsse, nicht sorgfältig genug Man nimmt nicht jede Erfahrung, als Function und Glied einer Reihe an - man ordnet - vergleicht - und simplificirt die Erfahrung nicht genug - man prüft einen Gegenstand nicht in allen Reagentien - man vergleicht ihn nicht fleißig und mannichfach genug (Im Verg[leich] ist das Untersch[eiden] mit begriffen.) 852. Die Erkenntnis - die Betrachtung und Experimentation (Moralische H[ilfe]) Gottes ist der ächte Lebensquell. [863]: Vervielfältigung - Wiederholung - Zertheilung
- (Addition - Multiplication - Exponiziation etc.) von Experimenten.
Zusammensetzung von Experimenten. [865]: Beobachtung und Experimentation (thätige Erfahrung)
der Menschen. [906]: Die bloße Analyse - die bloße Experimentation
und Beobachtung führt in unabsehliche Räume und schlechthin
in die Unendlichkeit - Ist sie poetische Natur und Absicht, so mags
seyn - sonst muß man absolut einen Zweck - mit Recht Finis
genannt - haben oder Setzen - damit man sich nicht in diese Speculation,
wie in ein Labyrinth - einem Wahnwitzigen völlig gleich, verliert.
Hier ist der Sitz der so berüchtigten Speculation - des verschrieenen,
falschen Mystizism - des Glaubens an die Ergründung der Dinge an
sich - [911]: Experimentiren mit Bildern und Begriffen im vorstell[ungs] V[ermögen] ganz auf eine dem phys[ikalischen] Experi[mentiren] analoge Weise. Zus[ammen] Setzen. Entstehen lassen - etc. [961]: Ächte Experimentalmethode - Formalitäten des Experimentators. [962]: Behandlung der Wissenschaften und jedes einzelnen Gegenstandes
als Werckzeug - und Experimentalstoff zugleich. [963]: Über das Theatralische des Jahrmarckts und des Experimentirens - Jede Glastafel ist eine Bühne - ein Laboratorium - eine Kunstkammer ist ein Theater. Es kann hier natürlich nicht darum gehen, diese Notate in der Fülle ihrer Anspielungen und Bezüge zu erhellen, was ohne Berücksichtigung des ganzen "Enzyklopädie-Projekts" auch gar nicht zu leisten wäre. Für die Frage nach dem Experiment mit der Sprache genügen einige Feststellungen und Folgerungen. "Das allgemeine Brouillon" ist ein Produkt der Freiburger Studienzeit, niedergeschrieben und durchgesehen von September 1798 bis März 1799, in das erklärlicherweise Novalis' naturwissenschaftliche Studien ebenso Eingang fanden wie die begleitende Lektüre. Laut den Notaten 229 und 231 ging es Novalis um ein Durchmustern der Wissenschaften zwecks Sammlung von "Materialien zur Enzyklopädistik", wobei er folgende Reihenfolge plante: Erst die Mathematischen - dann die Übrigen - die Philosophie, Moral etc. zulezt. Dabei hatte er sich sogar einen genauen Stundenplan gesetzt: Gravitationslehre - und Arythmetika universalis will ich zuerst durchgehn. Jener soll Eine Stunde, dieser 2 Stunden gewidmet werden. Was mir nebenher einfällt, wird in das allg[emeine] Brouillon mit hineingeschrieben. Die übrige Zeit wird dem Roman, theils vermischter Lektüre gewidmet - und d[er] Chymie und Encyclopädistik überhaupt. Mit angeregt ist das "Enzyklopädie-Projekt" wahrscheinlich durch die Vorlesungen Abraham Gottlob Werners über die Enzyklopädie der Bergwerkskunde, doch haben auch dessen Publikationen, wie das Notat 529 deutlich macht, Spuren im "Allgemeinen Brouillon" hinterlassen. Für Novalis Einschätzung des Experiments von besonderer Bedeutung sind die Hinweise auf Johann Wilhelm Ritter (Nr. 647 u.a.) und Johann Gottlieb Fichte (Nr. 657 u.a.), weil sie verdeutlichen, daß Novalis Wortgebrauch der Philosophie (23) ebenso wie der Physik (24) verpflichtet ist. Das Notat Fichte lehrt das Geheimnis des Experimentierens bezieht sich zum Beispiel auf dessen "Wissenschaftslehre", in deren Grundlegung (25) Fichte das Denken ein Experiment nennt, in deren "Zweiter Einleitung [...]" (26) es vom Philosophen heißt, er stelle ein Experiment an, und von seiner Arbeit, sie bestehe darin, das zu Untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird. Ein solches beobachtendes Denken läßt sich mit dem experimentellen Beobachten des Physikers in den Vergleich setzen, z.B. mit Johann Wilhelms Ritters "Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite" (27), auf den die Notate 647 und 649 sich beziehen. Daß diese Experimente keinesfalls nur als Versuchsreihen, sondern auch übertragen verstanden wurden, zeigt eine weitere Charakteristik Ritters durch Novalis: Ritter sucht durchaus die eigentliche Weltseele der Natur auf. Er will die sichtbaren und ponderablen Lettern lesen lernen und das Setzen der höhern geistigen Kräfte erklären. Alle äußere Processe sollen als Symbole und letzte Wirkungen innerer Processe begreiflich werden. Die Unvollständigkeit jener soll das Organ für diese und die Notwendigkeit einer Annahme des Personellen, als letzten Motivs, Resultat jedes Experiments werden (28). Das aber variiert eigentlich nur das Notat 647, erhellt mit ihm zusammen das Notat 766, in dem Beobachten nicht nur das Registrieren experimentell gewonnener Ergebnisse meint, sondern zugleich das Schließen auf eine Einheit, ein das Ganze umfassendes System. Dieses System aber ist das uns von Goethe her geläufige Evolutionsschema, dessen Schritte - anorganische Natur/organische Natur/Mensch - das Notat 962 als Ansicht der Welt durch einen Krystall - durch eine Pflanze - durch einen Menschenkörper etc. rekapituliert. Man kann demnach kaum sagen, daß bei Novalis das physikalische und chemische Experiment [...] an geistige und poetische Verfahrensweisen herangeführt werden (29), sondern physikalisches und philosophisches Experiment haben bei ihm denselben Impuls, zielen letztlich dasselbe an, sind Analoga, wie die Notate 911 und 648 betonen: Experimentiren mit Bildern und Begriffen im Vorstell[ungs] V[ermögen] ganz auf eine dem phys[ikalischen] Experi[mentiren] analoge Weise. Zus[ammen] Setzen. Entstehen lassen - etc. (30). Eine sichtbare Architektonik - eine Experimentalphysik des Geistes - eine Erfindungskunst der wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente läßt sich hier vermuten. Wie für Goethe, die frühe Romantik, Schleiermacher gehören auch für Novalis Naturwissenschaft und Philosophie zusammen. Die Natur, hatte es Schleiermacher auf die Formel gebracht, soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. In diesem Sinne dient das Experiment der doppelten Funktion, sich das der Natur Unterbewußte bewußt zu machen und dieses Bewußthaben in eigene schöpferische Energie umzusetzen. Anders läßt sich zum Beispiel die rätselhafte Forderung der PHYS[IKALISCHEN] KUNSTL[EHRE] (Notat 89) kaum erklären, nach der das Experimentieren Genie voraussetze, der Experimentator Genie sein müsse. Hat das Experiment derart eine Doppelfunktion, kann auch sein Ziel nicht eindeutig sein. So dient es einerseits, wie schon die Charakteristik Ritters ablesen ließ, dem Entziffern des Buches der Natur, seiner Lettern und seines Satzes. Sollten, fragt vergleichbar das Notat 913, die Körper und Figuren die Substantiva - die Kräfte der Verba - und die Natur[lehre] - Dechiffrirkunst seyn. Auf der anderen Seite zielt der experimentierende Künstler in Wort- und Zeichenmalerey, mit seiner Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst selbst auf das Buch. Sei dies der gattungsum- und übergreifende Roman der Romantik, von dem Novalis im 22. seiner "Teplitzer Fragmente" auch sagt: Ein Roman ist ein Leben, als Buch. Jedes Leben hat ein Motto - einen Titel - einen Verleger - eine Vorrede - Einleitung - Text - Noten etc. oder kann es haben. Sei dies - im Falle des "Allgemeinen Brouillons" - ein System des wissenschaftlichen Geistes (Notat 26), für das nur konsequent ist, wenn Novalis es in Notat 552 als Buch ausweist: Mein Buch muß die kritische Metaphysik [des] Recensirens, des Schriftstellens, des Experimentirens, und Beobachtens, des Lesens, Sprechens etc. enthalten. Und in Notat 945 ergänzt: Jedes Stück meines Buches, das in äußerst verschiedner Manier geschrieben sein kann - In Fragmenten - Briefen - wiss[enschaftlich] strengen Aufsätzen etc. Zur Herstellung eines solchen Buch[es] (31) bedarf es aber der Sprache. Und hier ist darauf zu achten, daß Novalis, wie bei den Naturwissenschaften (32), so auch bei der Sprache an eine Rangfolge dachte. In ihr unterschied er zwischen einer Sprache im eigentlichen Sinne, die ein Werckzeug als solches (33) sei, und einer Sprache in der 2ten Potenz, die nicht als Mittel erscheine, sondern an sich selbst eine vollkommene Produktion des höhern Sprachvermögens ist (34). Die Sprache im eigentlichen Sinne ist Rede(Sprach)Kunst (35), Rhetorik, künstliche - zur Poesie gewordene Philosophie (36), von der sich die Schöpfungskunst, die Poesie überhaupt deutlich unterscheide. Ich zitiere aus einem hier wichtigen sprachhistorischen Fragment: Die erste Kunst ist Hieroglyphistik. (37) Von ihr hebt Novalis die natürliche Poesie ab. Diese natürliche Poesie, zu der der (romantische) Roman rechnet, die reine ursprüngliche Poesie (39), diese Poesie überhaupt ist nicht Werkzeug, Mitteilungsvehikel. Sie erklärt nichts außerhalb ihrer selbst, teilt sich nur selbst mit, ist sich selbst Mittel und Zweck. Aber, schränkt der "Monolog" ein: Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner (40). Schließlich ist noch eine letzte, zu dem bisher Gesagten sich scheinbar paradox verhaltende Unterscheidung zu berücksichtigen, die Novalis zwischen Natur- und Kunstsprache trifft. Unter dem enzyklopädischen Stichwort GRAM[MATIK] verzeichnet das 279. Notat des "Allgemeinen Brouillon": Übergang einer Sprache in die Andre - durch corrupte oder eigentümliche Aussprache. Erhebung der gemeinen Sprache zur Büchersprache. Die gemeine Sprache wächst unaufhörlich - aus ihr wird die Büchersp[rache] gebildet. Übergang und Umbildung der Vocalen und Sylben in einander, 1, 2, 3, 4, und mehrsylbige Wörter. Allg[emeines] Sprachsystem - Sprachgeschichtssystem. Erfindung der Sprache a priori. Verschiedenheit der Aussprache. Und das Notat 280 ergänzt unter dem gleichen Stichwort: Die gem[eine] Sprache ist die Nat[ur]spr[ache] - die Büchersprache die Kunstsprache. Diesem Übergang von der Natursprache zur Kunstsprache, und das heißt auch von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von der gesprochenen Sprache zum Buch, entspricht auf einer weiteren Ebene der Schritt von der künstlichen (erklärenden) zur natürlichen (nur sich selbst bedeutenden) Poesie, mit einer Grammatik, die mathematischem Reglement entspricht. MATH[EMATIK] UND GRAM[MATIK] bringt es das 643. Notat auf den Punkt, um fortzufahren: Über die Logarythmen - die eigentliche Sprache ist ein Logarythmen System. Sollten die Töne nicht gewissermaßen Logarythmisch fortschreiten. Die Harmonische Reihe ist die Logarythmenreihe einer dazugehörigen Arythmetischen. Der "Monolog" führt diesen Vergleich dann weiter aus: Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus. Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie ausdrucksvoll (41) - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab der Dinge. So ist es auch mit der Sprache. (42). Das Experiment nun, dem mein spezielles Interesse gilt, findet nicht in der Natursprache statt, nicht in der künstlichen Poesie, für die es allenfalls Voraussetzung ist. Es hat seinen Platz vielmehr im Übergang von Natur- zu Kunstsprache, vor allem aber innerhalb der natürlichen Poesie als ein ihr eigentümliches Sprachspiel (43), das nichts bedeutet außer sich selbst. Novalis selbst hat solche Experimente im großen Zusammenhang nie gemacht, aber sie sind bei ihm punktuell durchaus vorhanden, vor allem wiederum in den Fragmenten, wenn Novalis mit der Sprache als einem Material spielt, Gott zum Beispiel von Gattung deriviert (44) oder Über den Begriff des Stehens ausführt: Stand - stellt vor und ist. Er ist nicht was er vorstellt, und stellt
nicht vor, was er ist. Der Zustand steht zu und auch gegen. So auch
d[er] Gegenstand. um kurz darauf folgende Wortkette zu bilden: Beystand. Widerstand. Vorstand. Anstand. Umstand. / Hinterst[and]. Nebenst[and]. Mitstand. Abstand. / Verstand. Bestand. Entstand. Gestand. Erstand. Herst[and]. Hinst[and]. Einstand. / Zweyfeln / (46). Und noch eine weitere Assoziationskette soll hier zitiert werden aus Wörtern, die sich auf den gemeinsamen Nenner 'Ergebnis' bringen ließen: Resultat - Factum - Produkt - Synthese - Frucht - Folge - Wirkung - Ertrag - Erzeugniß - Betrag - Austrag - Es ergab sich - Fund - Schluß - Ende - Folgesatz - Belauf - Endschluß. Beschluß. Es fand sich es zeigte sich, es that sich hervor - Es kam dabei nichts heraus - Es ward nichts gewonnen. / Lohn, Strafe / Verdienst / Ergebniß. / Ausgang / Werk. Ausschlag. Erfolg. Gewinnst. Verlust. Erhalt (47). Was diese sprach- und wortspielerischen Assoziationsketten interessant macht, ist
[953]: Der Poet braucht die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poesie beruht auf thätiger Ideenassociation - auf selbstthätiger, absichtlicher, idealischer Zufallsproduktion -(zufällige - freye Catenation.) (Casuistik - Fatum. Casuation.) (Spiel.) Der zweite und dritte Beleg stammt aus den "Fragmenten und Studien" der Jahre 1799/l800. Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Association, wie Träume. Gedichte - blos wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne Strophen verständlich - sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen (seyn). Höchstens kann wahre Poesie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirkung wie Musik etc. thun - Die Natur ist daher ein poetisch - und so die Stube eines Zauberers - eines Physikers - eine Kinderstube - eine Polter und Vorrathskammer. (48). Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigenthümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar. Er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare etc. Kritik der Poesie ist Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, doch einzig mögliche Entscheidung, ob etwas Poesie sey, oder nicht. Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt - dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinn Subj[ect] Obj[ect] vor, Gemüth und Welt. Daher die Unendlichkeit eines guten Gedichts, die Ewigkeit. Der Sinn für P[oesie] hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn überhaupt. Der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet - und es ist ihm selbst unbegreiflich, warum gerade so und nicht anders. (49). Von Novalis zum Zürcher Dadaismus Will man diesen Poesie-Prospekt, der meist fahrlässig verkürzt zitiert wird, ein wenig ordnen, ist Poesie, definiert von ihrer Produktion her - Zufall und Assoziation, - vom Ergebnis her - schönes und wohlklingendes Wort- und Sprachspiel, dessen Teile Bruchstücke, Fragmente verschiedenster Herkunft und Beschaffenheit sein können. Das liest sich wie eine theoretische Begründung der Collage, wie Kurt Schwitters sie etwa gegeben hat (50). Schwerte erkennt sogar einen konkreten Bezug, wenn er Novalis' Bruchstücken aus den verschiedenartigsten Dingen eine "Kombination" Heißenbüttels vergleicht: Sonderbares Leben:Schwerte hat jedoch übersehen, daß Heißenbüttel eine Frage stellt, wo für Novalis Gewißheit herrscht: Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Mit anderen Worten: Während bei vergleichbar poetischem Verfahren nach der Richtigkeit des Textes und damit auch nach dem Sinn des ganzen Unternehmens fragt, ist für Novalis eine Sinnordnung, eine metaphysische Fundierung durchaus noch gegeben. In seiner unsinnigen Zufallsproduktion, ohne allen Sinn und Zusammenhang offenbart sich das zu Offenbarende, stellt sich Undarstellbares dar. Der Hinweis auf Mystizism, Weissagung, Sehersinn schlägt dabei ebenso entschieden den Bogen zurück zur Sprachmystik, also den Versuchen eines Meister Eckharts, Taulers, Seuses, dann Jakob Böhmes oder Daniel Czepkos, in unsinnigen Formulierungen einem vordergründig postulierten Sinn hinter den Sinn zu kommen, wie er vorausweist auf die Sprachexperimente eines Hugo Ball oder Hans Arp zur Zeit des Zürcher Dadaismus. Nicht von ungefähr veranstalteten die Zürcher Dadaisten am 12.5.1917 (mit einer Wiederholung am 19.5.) eine Soiree "Alte und Neue Kunst" in der Emmy Hennings, die Frau Balls, unter anderem aus dem Buche des "Fließenden Lichtes der Gottheit" der Mechthild von Magdeburg und Arp unter anderem aus Böhmes "Morgenröte im Aufgang" die Kapitel "Von der bitteren Qualität" und "Von der Kälte Qualifizierung" liest und damit auf einen Autor verweist, den die Frühromantiker der deutschen Literaturgeschichte erst eigentlich entdeckt haben. Weniger also für Heißenbüttel, gewiß aber für die Züricher Dadaisten, denen wir noch Wassily Kandinsky an die Seite rücken dürfen, wurde der sprachphilosophische, sprachexperimentelle Ansatz des Novalis, auf den sich Ball und Arp übrigens wiederholt beriefen, bedeutsam. Und das, obwohl sich das vollständige Manuskript des "Allgemeinen Brouillon" erst 1928 im Oberwiederstädter Archiv vorfand, bis dahin lediglich 300 von 1151 Notaten in anderen, oft willkürlichen Zusammenstellungen publiziert waren. Umso auffälliger sind die Parallelen in Werk und Theorie der Dadaisten. Der Zufallsproduktion des Novalis ist zum Beispiel die Rolle vergleichbar, die Arp für sein Werk dem Zufall zuweist, so sehr, daß Hans Richter rückblickend sagen kann, der Zufall sei für Arp fast zu einer kultischen Instanz geworden. Der Formulierung des Novalis, daß der Dichter ordnet, vereinigt, wählt, erfindet - und daß es ihm selbst unbegreiflich sei, warum gerade so und nicht anders, läßt sich ohne weiteres eine Erklärung zur Seite stellen, die Arp für die écriture automatique gibt: Die automatische Dichtung entspringt unmittelbar den Gedärmen oder anderen Organen des Dichters, welche dienliche Reserven aufgespeichert haben. Weder der Postillon von Lonjumeau noch der Hexameter, weder Grammatik noch Ästhetik, weder Buddha noch das sechste Gebot sollten ihn hindern. Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Sie lachen, reimen, stinken wie die Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik; denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich sei (51). Dieser Arpschen Erklärung wiederum ließe sich Novalis' Überzeugung vergleichen, nach der die Natur [...] rein poetisch sei, die Stube eines Zauberers - eines Physikers - eine Kinderstube - eine Polter und Vorrathskammer. Worauf Arp in diesem fingierten Dialog mit seiner Definition der "Konkrete(n) Kunst" antworten könnte: daß sie nicht die Natur nachahmen, [...] nicht abbilden wolle, sondern bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet, daß sie unmittelbar und nicht mittelbar bilden wolle (52). Bereits 1915 hatte Arp für einen Katalog notiert: Diese Werke sind Bauten aus Linien, Flächen, Formen, Farben und suchen über das Menschliche hinaus das Unendliche, das Ewige zu erreichen (53), was deutlich mit der von Novalis postulierten Unendlichkeit eines guten Gedichts, seiner Ewigkeit korrespondiert. Aber nicht nur in seiner Theorie berührt sich der Dadaismus mit Gedankengängen des Novalis, auch in seiner Produktion hat er vielfach eingelöst, was für Novalis noch Prospekt war. Die meisten Gedichte in Arps "Der Vogel selbdritt" und in "die wolkenpumpe" sind exemplarische Zufallsproduktion, Catenation und Casuation, Gedichte - blos wohlklingend und voll schöner Worte, Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen. Wörter, Schlagworte, Sätze, beschrieb Arp rückblickend seine damalige Produktion, die ich aus Tageszeitungen und besonders aus ihren Inseraten wählte, bildeten 1917 die Fundamente meiner Gedichte. Öfters bestimmte ich auch mit geschlossenen Augen Wörter, und Sätze in Zeitungen, indem ich sie mit Bleistift anstrich. [...] Ich schlang und flocht leicht und improvisierend Wörter und Sätze um die aus der Zeitung gewählten Wörter und Sätze. Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein. [...] Wir meinten durch die Dinge hindurch in das Wesen des Lebens zu sehen, und darum ergriff uns ein Satz aus einer Tageszeitung mindestens so sehr wie der eines Dichterfürsten (54). Und über die Gedichte aus "die wolkenpumpe" hält Arp fest, daß sie, wie die surrealistischen, automatischen Gedichte unmittelbar niedergeschrieben seien, ohne Überlegung oder Überarbeitung. Und daß sie zugleich bereits Vorläufer seien der Papiers dechires, der Zerreißbilder, in denen die 'Wirklichkeit' und der 'Zufall' ungehemmt sich entwickeln können. Das Wesen von Leben und Vergehen ist durch das Zerreißen des Papiers oder der Zeichnung in das Bild einbezogen (55). Eine auffällig parallele Beschreibung erfahren die "Klänge" Kandinskys durch Arp: Durch die Wortfolgen und Satzfolgen dieser Gedichte wird dem Leser das stete Fließen und Werden der Dinge in Erinnerung gebracht, [...] nicht lehrhaft, nicht didaktisch. In einem Gedicht von Goethe wird der Leser poetisch belehrt, daß der Mensch sterben und werden müsse. Kandinsky hingegen stellt den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum. Wir erleben in diesen Gedichten den Kreislauf das Werden und Vergehen, die Verwandlungen dieser Welt (56). Kann man, was Arp hier für die Gedichte Kandinskys hervorhebt, unter sprachliche Demonstration zusammenfassen, bezeichnet sie im Grunde nichts anderes, als das, was Novalis der wahren Poesie konzediert: daß sie allenfalls einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirecte Wirckung wie Musik etc. tun könne. Es blieb Hugo Ball vorbehalten, in dieser Traditionslinie des Experiments mit der Sprache einen letzten Schritt zu gehen, als er am 23.6.1916 im "Cabaret Voltaire" zum ersten Mal seine "Verse ohne Worte" vortrug, Lautgedichte, in denen das Balacement der Vokale nur noch nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird (57). Daß noch in ihnen der für Novalis gültige Blickpunkt auf eine 'andere Welt' (58) Geltung hat, erwies sich spätestens beim Vortrag, als Balls Stimme die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, als es ihm einen Moment lang schien, als tauche in seiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatpfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt (59). Aber auch der Begründung, die Ball seinen "Versen ohne Worte" vorausschickte, war ihre mystische Grundierung ablesbar. Zwar konnte Ball nicht mehr, wie die Sprachmystiker, in unsinnigen Formulierungen der Sprache hinter den Sinn kommen. Aber es blieb ihm aus der Erfahrung der Korrumpierbarkeit von Sprache heraus noch die Flucht nach vorn, der Schritt vor die Sprache. Man verzichte, sagte er deshalb, mit dieser Art Klanggedichte im Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk (60). Roman experimental und Experimentelles Theater Bevor ich die Linie des Experiments mit der Sprache über den Dadaismus heraus in die Gegenwart ziehe, muß ich auf eine zweite Begriffstradition eingehen, in denen ich den "Roman experimental" Emile Zolas und des "Experimentellen Theaters" Bertolt Brechts lese und sehe. In beiden Fällen handelt es sich um Experimente, die nicht in die Sprache eingreifen, mit ihr wie mit einem Material spielen, sondern die mit Hilfe der Sprache ein Experiment veranstalten, wobei die Verfasser zur Deklaration ihres Vorhabens [in der Tradition Lichtenbergs] den physikalisch naturwissenschaftlichen Begriff entlehnten. Erklärbar wird diese Entlehnung und Begriffsübertragung aus dem immer stärkeren Auseinanderdriften von Wissenschaft und Literatur im 19./20. Jahrhundert, aus der Erfahrung wissenschaftlichen Fortschritts und literarischer Ohnmacht. Zwei Dinge seien es, schreibt Wilhelm Bölsche 1887 in seinen "Naturwissenschaftliche[n] Grundlagen der Poesie", die vor aller Augen stünden: eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft, und eine Literatur, die zurückbleibt und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und Verstand mehr haben, woraus folge, daß man sich dem Naturforscher nähern, die Ideen auf Grund seiner Resultate durchsehen und das Veraltete ausmerzen müsse. Dabei könne man sich leicht auf den Gedanken verständigen, daß jede poetische Schöpfung, die sich bemüht, die Linie des Natürlichen und Möglichen nicht zu überschreiten und die Dinge logisch sich entwickeln zu lassen, [...] vom Standpuncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder sei als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen (61). Nichts anderes geschehe im Experimental-Roman, dessen Dichter ein Experimentator sei, der versuche, die Gesetze der Leidenschaften, des menschlichen Reagierens auf/gegen äußere Um- stände, das Spiel menschlicher Gedanken analytisch zu ergründen. Vergleichbar hatte Zola bereits nach 1868 den Kritikern seiner "Therese Raquin", der er das Taine entlehnte Motto voranstellte, daß Laster und Tugend genauso Produkte, chemische Wirkstoffe, seien wie Vitriol und Zucker, geantwortet, er habe wie ein Naturwissenschaftler eine chemische Reaktion, wie ein Arzt eine Krankheit beobachten und analysieren wollen. Es sei ihm um nackte lebendige Anatomieszenen (62) gegangen. Hatte das Experiment bei Zola und den Naturalisten fast ausschließlich eine beschreibende Funktion, ging Brecht 1939, zu einer Zeit also, als er gerade "Das Leben des Galilei" abgeschlossen hatte, in seinen Überlegungen zum "Experimentellen Theater" (63) einen Schritt weiter, erklärt er 1962 in einem Gespräch mit Günther Anders den Unterschied zwischen dem üblichen und seinem Theater mit dem Unterschied zwischen beschreibender und experimenteller Physik, betont er, daß episches Theater [...] zugleich experimentelles Theater sei (64). Darüber hinaus bleiben beide, Zola mit seinem "Roman experimental" und Brecht mit seinem "Experimentellen Theater" in der Tradition einer Literatur, der die Sprache ausschließlich Mittel, nicht Material ist, versuchen sie lediglich, ihre Literatur durch eine Begriffsübertragung (wissenschaftlich) zu aktualisieren. Da dies aber anders zu bewerten ist, als das Experiment mit der Sprache, dürfen sie im augenblicklichen Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Die Zeitschrift "Transition" Schon zur Zeit des Dadaismus, aber auch in ihr vorangehenden literarischen Experimenten wird andererseits der Begriff des Experiments auffällig vermieden. Das ist eingedenk der Gewichtigkeit, die er in den enzyklopädischen Überlegungen des Novalis' hatte, nur so zu erklären, daß er durch einen anderen Begriff ersetzbar war und ersetzt wurde. Einer der Begriffe, die sich ersatzweise anboten, war der Begriff "revolutionär", und er vor allem wird auch immer wieder, sowohl für die formal- wie die inhaltlich fortschrittliche Literatur verwendet und dient noch heute zur Charakterisierung der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts als "Literatur-", "Kunst-", oder übergreifend als "Kulturrevolution" (64a). Zum ersten Mal gezielt scheint der Begriff Experiment erst Ende der 2Oer Jahre wieder verwandt worden zu sein und zwar von der internationalen Zeitschrift "Transition", deren erste Jahrgänge sich unter anderem um das Werk Gertrude Steins, vor allem aber James Joyces "Finnigans Wake" bemühten, das als "Work in progress" abgedruckt und kommentiert wurde. Zwischen 1927 und 1930 nannte sich die Zeitschrift im Untertitel "International Quaterly for Creative Experiment" und warb für die "Transition Experiments in Language" (65). 1932 veröffentlicht "Transition" unter anderem ein "Lautgedicht" Hugo Balls und richtet ein "Laboratory of the Word" ein, 1933 abgelöst von einem "Laboratory of the Mytic Logos". 1935 stand das H. 23 unter dem Thema "Mutation in Language" und publizierte die Antworten namhafter Schriftsteller zur Frage einer "Malady of Language". Neben dem "Experimental Work" von Gertrude Stein finden sich in diesen Jahren wiederholt Texte von Arp, Kurt Schwitters, aber auch Gottfried Benn. Benn ist auch derjenige, der das sprachliche und formale Experiment für die Nachkriegsliteratur wieder in die Diskussion bringt, wenn er erklärt, Der Stil der Zukunft werde der Roboterstil sein. Der bisherige Mensch sei zu Ende. Er müsse neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, Spitzfindigkeiten, breit basiert -: E i n M e n s c h i n A n f ü h r u n g s s t r i c h e n (66a), wenn er vom Laboratorium der Worte (66b) spricht und damit fast wörtlich auf das Heft 21 der Zeitschrift "Transition" zurückverweist. Es ist, notiert er als längeren Aphorismus in seiner "Ausdruckswelt", ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte, in dem der Lyriker sich bewegt. Hier modelliert, fabriziert er Worte, öffnet sie, sprengt, zertrümmert sie, um sie mit Spannungen zu laden, deren Wesen dann durch einige Jahrzehnte geht. Alles, was geschehe, werde für die Lyriker Wort; Wortwurzel, Wortfolge, Verbindung von Worten; Silben werden psychoanalysiert, Diphtonge umgeschult, Konsonanten transplantiert. Für ihn ist das Wort real und magisch, ein moderner Totem (67). Es kommt aber in Benns Labor-Stil noch eine zweite Traditionslinie zum Tragen: die des Artistischen. Was Heißenbüttel als Literarisierung einer Philosophie, die sich von Wissenschaft frei zu halten versucht (68), charakterisiert, ist für Schwerte die dritte Übertragung des Experimentbegriffs auf die Literatur, die in dem Augenblick stattgefunden habe, in dem Nietzsche um 1885/86 aus seiner, wie er sie nannte 'Experimental-Philosophie', der 'Lust am Versuchen', den Begriff des Artistischen, seine 'Artisten-Metaphysik' entwickelt habe, die Wort-Gegenwelt, die reine Ausdruckswelt aus Formen, Worten, Tönen, der es nicht mehr um Beobachtung und Beschreibung, um mimetische Inhalte ging, sondern um 'expression'. Natürliche und künstliche Poesie Mit Benn, mit der Wirkung seiner Labor-Dichtung kehre ich zugleich zum Ausgangspunkt zurück, den 50er Jahren. In ihnen setzt ein deutliches Interesse der Literaturwissenschaft an Sprachgrenzerkundungen ein. In ihnen beginnen die Schriftsteller, sich für die Literaturrevolution zu interessieren und derart ihre eigenen Experimente auch historisch zu fundieren. Und an ihrem Ende formiert sich eine Kritik, für die Enzensbergers Aufsatz "Die Aporien der Avantgarde" paradigmatisch genommen werden kann. Was er allerdings gegen das künstlerische Experiment vorbrachte, war wenig stichhaltig.
Aber auch Günter Eichs nachdrückliches Plädoyer für die Frage statt der Antwort wäre hier zu nennen, für die andere Sprache der Dichtung, die wie die Schöpfung selber einen Teil von Nichts führt und in einem unerforschten Gebiet die erste Topographie versucht (74), die esoterische, die experimentierende, die radikale Sprache, die der Sprachregelung widerspricht (75). Was Eich erste Topographie [...] in einem unerforschten Gebiet nennt, bezeichnet Heißenbüttel als Entwurf neuer Realitätszusammenhänge, überzeugt, daß das, was die Literatur [...] in freier oder kalkulierter Kombinatorik erfindet und formuliert, [...] zugleich "auf verschiedene Weise der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit unterläge; sprachanalytische, phänomenologische, informationstheoretische, kybernetische und andere Wissenschaftszweige versuchen, solchen Entwurfsmöglichkeiten und ihren Voraussetzungen nachzugehen (76). Literarische Produktion und ihre wissenschaftliche Erforschung in Personalunion betrieb zum Beispiel die sogenannte Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense, deren Experimente Enzensberger auch ausdrücklich aus seiner Kritik ausgenommen hatte. Speziell bei Bense stößt man dabei auf eine Begrifflichkeit, in der die Unterscheidung des Novalis von künstlicher und natürlicher Poesie geradezu umgekehrt wird. Es kann, schreibt Bense, zur Erhellung eines allgemeinen Poesiebegriffs beitragen, wenn man zunächst zwischen natürlicher und künstlicher Poesie unterscheidet. In beiden Fällen arbeitet man mit Worten, ihren Derivationen, die als Deformationen in Bezug auf einen zugrundegelegten Wortraum gedeutet werden können und ihren Folgen, die linear oder flächig angeordnet sind. Für unsere Gesichtspunkte bleibt jedoch die Differenz in der Art der Entstehung das Wesentliche. Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. [...] Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben (77). An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit der natürlichen und die Nichtinterpretierbarkeit der künstlichen Poesie, der Modus der Willkürlichkeit für die natürliche und der Modus der Unwillkürlichkeit für die künstliche Poesie (78). Es wäre einer gründlicheren Untersuchung wert, zu fragen, wieweit bzw. ob überhaupt sich Bense von der umgekehrten Unterscheidung des Novalis' entfernt hat, mit Ausnahme der bei ihm fehlenden mystischen Fundierung, die auch in den anderen Sprachexperimenten der 50er und 60er Jahre nicht mehr gegeben [bzw. durch eine metaphysische Grundierung ersetzt] war. Doch ist dabei zu bedenken, daß bereits Nietzsche in seiner Experimental-Philosophie, konkret in der "Fröhlichen Wissenschaft", 1882, Gott für tot erklärt hatte (79), daß die Naturwissenschaften, die Galilei aus dem theozentrischen Weltbild zu lösen begann, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in einem wörtlichen Sinne gottlos geworden sind.
Eich hat in seinem Alterswerk, vor allem in den "Maulwürfen" die Konsequenz gezogen, sich vom Ernst immer mehr zum Blödsinn hin entwickelt (83), da ihm das Nichtvernünftige auf der Welt so bestimmend scheine. Und er wollte seine "Maulwürfe" wirklich im dadaistischen Sinne gesehen wissen, überzeugt, daß der Blödsinn eine ganz bestimmte wichtige Funktion in der Literatur hat, vielleicht auch eine Funktion des Nichteinverständnisses mit der Welt (84). Damit wies er, in der Tradition des Experiments mit der Sprache, Heißenbüttels, Mons und seinen Texten nicht nur implizit eine politische Funktion zu. Gerade weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich diese ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig (85). Anmerkungen |
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