Reinhard Döhl
Einleitung zum Projekt [Vorlesung]


Unter der Überschrift "Offenheitsprinzip" erschien am 14. April 1995 in "DIE ZEIT" eine Besprechung Ludwig Harigs: "Eine Legende lebt. Max Benses Reihe 'rot' und die ewige Jugend des Experiments". Ludwig Harig, vor über dreißig Jahren selbst Autor dieser Reihe und der Stuttgarter Schule zugerechnet (1), hat sich in dieser Kritik gleichwohl von ihr distanziert und damit thematisiert, was seine letzten Romane als Kurswechsel längst vollzogen hatten.
Ich möchte meine experimentellen Lehrjahre der Stuttgarter Schule nicht missen. Ohne Max Benses Einflüsse wäre mein heutiges Erzählen nicht möglich. Und doch: so frisch und unverbraucht mir die Nachfolge Benses erscheint, weder die Rüstigkeit junggebliebener Schlachtrösser noch die Streitlust herangewachsener Laboranten vermag beim kalkulierten Ringen mit der Tücke der Sprache das Kernproblem des Experimentellen zu lösen. Das Problem liegt nämlich in der Sache selbst. Die Provokation experimenteller Literatur ist zugleich das, was an ihr unbeteiligt läßt. In den gelungenen Texten versteht es der Autor zwar - über die reine Demonstration des Sprachmaterials hinaus - sowohl menschliche Verhaltensweisen als auch gesellschaftliche Zustände in methodisch angeordneten Wortgestikulationen vorzuführen (Beispiel: Heißenbüttels, Gomringers, Franz Mons Konstellationen, Jandls Sprechakte, Benses Wortbilder): Doch die noch so meisterhafte Demonstrationskunst in Sprache hält dem Alterungsprozeß nicht stand. Sprache, an menschliche Aussage, menschlichen Ausdruck, menschlichen Austausch gebunden, mit Mitteilungsvermögen und phantasievoller Verwandlungskraft ausgestattet, drängt nach Geschichten, die sie zu erzählen imstande ist. Techniken, aus artifiziellen Prinzipien entwickelt, riskieren Abnutzung, ja Verschleiß des Mechanischen und altern rascher als Techniken des Erzählens, die mit natürlichen Zeit- und Perspektivewechsel operieren. Der Mensch ist eben kein beschriebenes, sondern ein erzähltes Wesen; indem von ihm erzählt wird, konstituiert es sich als gesellschaftliches Geschöpf. Nur der erzählte Mensch altert nicht.
Diesem Verständnis, nach dem es Ende der 50er und in den 60er Jahren zwar eine experimentelle Literatur mit durchaus überzeugenden Ergebnissen gegeben habe, gegen deren schnelles Altern aber nur ein Kraut, nämlich das des Erzählens, gewachsen sei, stelle ich zunächst ohne Kommentar eine lexikographische Auskunft gegenüber, die ich "Metzlers Literaturlexikon" entnehme.
Experimentelle Literatur, lese ich dort, sei eine umstrittene Sammelbezeichnung für literarische Werke, die primär an der Erprobung neuer Aussagemöglichkeiten (formal, inhaltlich) interessiert seien. In dieser übertragenen aber uneigentlichen Bedeutung könne im Grunde jedes stilbildende Werk als e[xperimentelle] L[iteratur] angesehen werden. Im engeren und eigentlichen Sinne handele es sich hingegen um eine Literatur, bei welcher literarischer Herstellungsprozeß und naturwissenschaftliches Experiment vergleichbar seien. Eine derartige e[xperimentelle L[iteratur] fände sich in verschiedenen Ausformungen schon in der deutschen Romantik, in der vor allem die Fragmente Novalis' und F[riedrich] Schlegels [...] eine ausdrückliche Verbindung von Experiment und Literatur hergestellt hätten: "Experimentieren mit Bildern und Begriffen im Vorstellungsvermögen ganz auf eine dem physikalischen Experimentieren analoge Weise. Zusammensetzen, Entstehen lassen etc."(2).
Ich lasse es zunächst mit dieser Auskunft bewenden. Wie alle Begriffe bei ihrer Popularisierung unscharf werden, und das betrifft im ABZ zentraler Begriffe des 20. Jahrhunderts z.B. die Avantgarde (3), die Subkultur der Boheme (4) oder das Begriffspaar Collage/Montage (5), ist auch der Begriff des Experiments offensichtlich unterschiedlich besetzt, aber auch umstritten. So daß es vernünftig ist, ihn sich herzuleiten. Gehe ich davon aus, daß Begriffe Erfahrungen sammeln und Erwartungen bündeln (6), muß ich in einer Vorlesung über Möglichkeiten und Wurzeln experimenteller Poesie Kunst und Musik im 20. Jahrhundert zunächst nach diesen Erfahrungen und Erwartungen fragen. Und ich versuche dies in einem längeren historischen Exkurs, den ich "Experiment und Sprache / Literatur und Experiment" überschrieben habe, und der zugleich das erste Kapitel meiner Vorlesung ist.
In den daran anschließenden Kapiteln werde ich dann anhand exemplarischer Beispiele und in Überblicken der These nachgehen, daß in der Tradition und Radikalisierung der frühromantischen Begriffsübertragung die literarischen und künstlerischen Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Grenzen vorgestoßen sind, die nicht nur Ausblicke in neue Möglichkeiten des Dichtens öffneten, die sich vor allem auch zu den Nachbarkünsten hin, zu bildender Kunst und Musik verwischten. Ich interessiere mich also anhand exemplarischer Beispiele und in Überblicken für diese Grenzverwischungen und Grenzüberschreitungen zwischen den Kunstarten und dabei gewonnene neue Möglichkeiten künstlerischer Artikulation. Dazu werde ich in größeren Zusammenhängen die Literatur zwischen Schrift und Bild (also visuelle Poesie; die Collage) sowie Literatur zwischen Text und Musik (Lautdichtung, Text als Partitur) behandeln, ferner das Hörspiel als akustische Kunst, die Konkrete Poesie und ihre Vorgeschichte, sowie schließlich das Interesse moderner Autoren an Trivialität und Unsinn. Abschließen werde ich mit einer Skizze über den Dialog der Künste, über die dialogischen Tendenzen der Künste im 20. Jahrhundert, in die ich auch Internetprojekte der letzten Jahre noch einschließe. Entsprechend werde ich das hier Vorgetragene und Vorzutragende zeitversetzt zusätzlich ins Internet und zur Diskussion stellen auch für Interessierte, die nicht an der Vorlesung teilnehmen können.
Schließlich scheint noch eine Vorbemerkung in eigener Sache angebracht. Es ist kein Geheimnis, daß ich der sogenannten Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense zugerechnet wurde, Künstlern und Wissenschaftlern, denen es um eine Verbindung von Experiment und Tendenz ging. In diesem Sinne spreche ich im Folgenden durchaus pro domo und in einem Fachverständnis, nach dem derjenige, der über einen Text spricht, auch wissen sollte, wie man einen Text herstellt, daß derjenige, der über Collagen urteilen will, auch Erfahrungen mit dem Collagieren haben sollte, und daß derjenige, der über Notationen und Partituren redet, auch praktisch damit umgehen kann. Es ist meine letzte Vorlesung in diesem Hause. Und ich möchte mit ihr noch einmal festschreiben, was ich über dreißig Jahre in Lehre und Forschung vertreten habe und was mit mir dieses Haus verlassen wird, die Überzeugung nämlich einer notwendigen Verbindung von Rede über Literatur bzw. Kunst und literarischer bzw. künstlerischer Hervorbringung.

Anmerkungen
1) Vgl. Stuttgarter Gruppe oder Einkreisung einer Legende
2) Das allgemeine Brouillon, 911.
3) Vgl. Georg Bollenbeck, "Avantgarde", in Dieter Borchmeyer u. Viktor Zmegac [Hrsg.]: Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2. neu bearb. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1994, S. 41 ff.
4) Vgl. Helmut Kreuzer, "Boheme", ebd. S. 55. Ff. - Ders., "Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart: Metzler 1968.]
5) Vgl. Viktor Zmegac, "Montage/Collage", ebd, S. 286 ff.
6) Georg Bollenbeck, "Avantgarde", vgl. Anm. 3, S. 42.





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