Reinhard Döhl
Dadaismus In den von El Lissitzky und Hans Arp 1925 herausgegebenen "Kunstismen 1924 [...] 1914" wird der Dadaismus neben fünfzehn anderen Ismen aufgeführt und von Arp 'definiert': Der Dadaismus hat die schönen Künste überfallen. Er hat die Kunst für einen magischen Stuhlgang erklärt, die Venus von Milo klistiert, und "Laokoon & Söhnen" nach tausendjährigem Ringkampf mit der Klapperschlange ermöglicht, endlich auszutreten. Der Dadaismus hat das Bejahen und Verneinen bis zum Nonsens geführt. Um die Indifferenz zu erreichen, war er destruktiv. Dieser von Lissitzky und Arp zusammengestellte, mit ausgewähltem Bildmaterial instruktiv illustrierte 'Katalog' der Ismen, den man rückschauend noch um einige vermehren könnte, macht deutlich, daß der Dadaismus gesehen werden muß in einem größeren Zusammenhang mit anderen, deren Abgrenzung gegeneinander, wie die von Arp, Lissitzky und anderen vorgeschlagenen 'Definitionen' bereits andeuten, zum Teil kaum oder nur unsauber möglich ist. Zu zahlreich sind die gegenseitigen Beziehungen, eins entwickelt sich aus dem oder im Gegensatz zum andern, und selbst die einzelnen Ismen sind oft vielschichtig, in sich widerspruchsvoll und spalten sich häufig unter wechselnden Bezeichnungen in weitere Ismen auf oder verbinden sich mit anderen. Dem rückblickenden Betrachter bietet sich ein fluktuierender Prozeß dar, zu dessen Beschreibung es eigentlich weniger auf den jeweiligen Ismus, vielmehr auf die Beobachtung gemeinsamer und/oder auseinanderstrebender Tendenzen ankommt, die die vielgestaltige Entwicklung der modernen Künste ausgelöst und wesentlich mitbestimmt haben. Kubismus, italienischer und russischer Futurismus, Sturm, Dadaismus, Surrealismus, um nur einige zu nennen, sind lediglich exponierte Teilaspekte, Teil-phasen einer sogenannten Kunstrevolution beziehungsweise Teiltendenzen innerhalb einer im weiteren Sinne bis heute andauernden Kulturrevolution, die - entsprechend der Polarität Kunst und Wirklichkeit - die Frage nach der Kunst für eine geänderte Wirklichkeit neu stellte und in einer neuen Kunst mit neue Mittel die Wirklichkeit neu befragt. Als Hugo Ball am 2. Februar 1916 durch eine Pressenotiz die junge Künstlerschaft Zürichs einlud, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Kunstrichtung mit Vorschlägen und Beitragen an den Programmen der von ihm gegründeten "Künstlerkneipe Voltaire" zu beteiligen, waren die Weichen der Kunstrevolution eigentlich schon gestellt, die neuen ästhetischen Forderungen in zahlreichen Manifesten und Artikeln, unter anderem und vor allem der Futuristen und des Sturmkreises, bereits vorformuliert. Es ist bezeichnend, daß Ball fÜr sein Kabarett an Künstler aller Richtungen dachte, daß die ersten Programme (das Kabarett wurde am 5. Februar eröffnet) neben längst Vertrautem, neben Beitragen älteren Stils, selbst von Tristan Tzara zumn Beispiel, ein buntes Gemisch zeitgemäßer Ismen, zunächst vor allem des Expressionismus, boten. Aber schon am 12. Februar wurde aus futuristischen Dichtungen vorgetragen, denen unter anderem Rezitationen aus den Werken von Altenberg, Verlaine und Mallarmé folgen [Pressenotiz]. Etwa zwei Monate später hielt Ball in seinem Tagebuch "Die Flucht aus der Zeit", 1927, fest: Alle Stilarten der letzten zwanzig Jahre gaben sich gestern ein Stelldichein [30. März 1916], und er schränkte wiederum etwa zwei Monate später kritisch ein: Ich empfand zum ersten Mal mit Beschämung den Lärm unserer Sache, das Durcheinander der Stilarten und der Gesinnung. [3.Juni 1916]. Für die im gleichen Monat veröffentlichte Publikation "Cabaret Voltaire" notierte Ball schließlich, sie sei auf zwei Bogen die erste Synthese der modernen Kunst- und Literaturrichtungen. Die Gründer des Expressionisme, Futurisme und Kubisme sind mit Beiträgen darin vertreten. [4.Juni 1916] Selbst als die hauptsächlich am "Cabaret Voltaire" beteiligten Künsder schon längst - spätestens seit Juni 1916 - die Bezeichnung Dada für ihre Programme und Intentionen verwandten, boten ihre Publikationen und Veranstaltungen - Dada-Abende und Dada-Ausstellungen - noch zahlreiche Beiträge von augenscheinlich als wesensverwandt empfundenen Ismen beziehungsweise deren Vertretern. Das zeigt bereits an der Oberfläche, daß der Dadaismus zumindest in seinen Anfängen keine eindeutig faßbare Kunstrichtung darstelle, statt dessen in der Tat so etwas wie eine erste Synthese der modernen Kunst- und Literaturrichtungen war. Die Frage nach dem Warum ist nicht leicht zu beantworten. Ein erster Grund lag fraglos darin, daß die Weichen der Kunstrevolution schon gestellt waren, die Auseinandersetzung mit der traditionellen Kunst seit spätestens den futuristischen Manifesten in vollem Gange war. Eine nachträgliche Erinnerung Arps, Wir wollten etwas machen. Etwas Neues, Nichtdagewesenes. Aber wir wußten nicht, was! Wir hatten kein Programm, bekommt in diesem Zusammenhang einen merkwürdigen Doppelsinn, denn Etwas Neues kann nicht mehr nur auf traditionelle Kunst, sondern muß auch auf das bis dato in der Auseinandersetzung mit ihr schon Erreichte bezogen werden. Einen zweiten Grund bildeten die Gegebenheiten des "Cabaret Voltaire", die Notwendigkeit eines häufigen Programmwechsels und einer wünschenswerten Breite des Angebots, das - um den Publikumsinteressen entgegenzukommen - ein von sechs Russen veranstaltetes Balalaika-Konzert - Eine angenehme und freudig begrüßte Abwechslung [Pressekritik] -, russische Volks- und Soldatenlieder, ja selbst Musik von Reger und Liszt mit einschließen konnte. Ein dritter Grund dürfte sicherlich in der Tatsache zu sehen sein, daß die hauptsächlich am Kabarett Beteiligten - Ball, Emmy Hennings, Arp, Tzara, Marcel Janco und Richard Huelsenbeck - in vielfacher Hinsicht nach geistiger Herkunft, künstlerischem Temperament und Intention verschieden waren. Ball zum Beispiel hatte aktivistisches und anarchistisches Gedankengut mit in die Emigration gebracht und war auch in Zürich zunächst 'politisch' tätig gewesen. Ebenfalls dem Aktivismus nahe stand Huelsenbeck, den Ball schon von Berlin her kannte und für den Literatur vor allem Mittel zum Zweck war. Im Gegensatz zu ihnen waren Arp, Janco und Tzara höchstens indirekt an Politik interessiert. Ähnlich unterschieden sich die Vorstellungen, die die Beteiligten mit dem Wort Dada verbanden. Wenn Janco rückblickend schrieb: Eine Art von neuer Romantik entflammte unsere Herzen. Vor uns öffnete sich das große Buch der Folklore aller Zeiten und aller Länder. Die Kunst sollte keine individuelle und isolierte Erfahrung mehr sein, sondern sie gehörte allen. Dazu brauchte es die Wiedergeburt der Volkskunst als der sozialen Kunst - so formulierte er damit seine Vorstellungen vom Dadaismus. Anders bedeutete der Dadaismus für Ball eine weltanschaulich-kulturelle, eine kulturpolitische Entscheidung und gleichzeitig ein Durchgangsstadium, für Huelsenbeck eine Möglichkeit politischer Aktivität, aber auch das Vergnügen, sich auf Kosten der Spießer loslassen zu dürfen [Hans Richter], was beides später den Berliner Dadaismus wesentlich mitbestimmen sollte. Und während Tzara, der den italienischen Futurismus von einem Auftritt der Futuristen in Bukarest her kannte, Fritz Glauser gestand, sein Ehrgeiz sei, eine neue Kunstrichtung zu 'erfinden', war für Arp der Dadaismus ausschließlich die Entscheidung für eine neugewollte Kunst. Wenn heute im Sinne eines Arpschen "Dada-Spruchs" immer wieder darauf hingewiesen wird, daß Dada vor Dada da war, so sollte man daraus weniger eine Vorgeschichte des Dadaismus konstruieren, sondern es als Hinweis verstehen auf das Werk einiger Autoren und auf künstlerische Tendenzen, die den Züricher Dadaismus positiv, aber auch ex negativo mitbestimmt haben, indem sie abgelehnt oder aufgenommen und auf spezifische Weise weiterentwickelt wurden. Dabei kann man rückblickend wenigstens drei Phasen seiner Entwicklung unterscheiden, wenn auch nicht in jedem Falle sauber trennen. Da wäre zunächst die noch völlig undadaistische Phase des "Cabaret Voltaire", der Plan Balls eines literarischen Cabaretts (seit spätestens Dezember 1915) und sein Versuch einer Künstlerkneipe im Simplizissimus-Stil, aber künstlerischer und mit mehr Absicht», wo vor einer stimmungsvollen Dekoration (Decke blau, Wände schwarz) [...] eine kleine Aus-stellung veranstaltet und eigene und fremde Sachen vorgetragen werden sollten. Nach einem Monat faßte Ball seine Erfahrungen zusammen: Unser Versuch, das Publikum mit künstlerischen Dingen zu unterhalten, drängt uns in ebenso anregender wie instruktiver Weise zum ununterbrochen Lebendigen, Neuen, Naiven. Es ist mit den Erwartungen des Publikums ein Wettlauf, der alle Kräfte der Erfindung und der Debatte in Anspruch nimmt [...] Das laute Rezitieren ist mir zum Prüfstein der Güte eines Gedichtes geworden, und ich habe mich (vom Podium) belehren lassen, in welchem Ausmaße die heutige Literatur problematisch, das heißt am Schreibtische erklügelt und für die Brille des Sammlers, statt für die Ohren lebendiger Menschen gefertigt ist. [2.März 1916] Vermutlich auch infolge der Ankunft des aggressiven, auf Aktion drängenden Huelsenbeck, der wahrscheinlich am 26. Februar 1916 zum erstenmal im "Cabaret Voltaire" auftrat, wurden die Programme jedoch einheitlicher, pendelten sie sich auf eine Synthese von Expressionismus, Futurismus und Kubismus ein, aber ebenfalls in das von Ball kritisch vermerkte Durcheinander der Stilarten und der Gesinnung. Mit dieser Synthese waren die Voraussetzungen für den späteren Dadaismus geschaffen. Aus der Künstlerkneipe im Simplizissimus-Stil wurde allmählich ein Podium, auf dem die Beteiligten eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich zelebrierten, ein Narrenspiel aus dem Nichts. Damit hatte das Kabarett sein historisch entscheidendes Gesicht bekommen. Die späteren Dadaisten - Ball, Huelsenbeck, Tzara, Arp und Janco - rückten näher zusammen, bildeten eine künstlerische Gemeinschaft mit allerdings wechselnden Konstellationen, zu der im April 1916 noch Richter hinzukam, ferner in der Folgezeit Walter Serner, Christian Schad, Viking Egge-ling, und mit der Max Oppenheimer, Otto van Rees und A. C. van Rees-Dutilh, Glauser und Sophie Taeuber mehr oder weniger eng verbunden waren. Schon am 11. April 1916 hielt Ball in seinem Tagebuch mit einiger Skepsis den Plan einer bewußten Gruppierung fest: Man plant eine "Gesellschaft Voltaire" und eine internationale Ausstellung. Der Ertrag der Soireen soll einer herauszugebenden Anthologie zugutekommen. H. spricht gegen "Organisierung"; man habe genug davon. Ich bin ganz seiner Meinung. Man soll aus einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen. Hinter man verbirgt sich sehr wahrscheinlich der ehrgeizige Tzara. Eine Woche später notierte Ball, diesmal mit Namensnennung: Tzara quält wegen der Zeitschrift. Mein Vorschlag, sie Dada zu nennen, wird angenommen. Bei der Redaktion könnte man alternieren: ein gemeinsamer Redaktionsstab, der dem einzelnen Mitglied für je eine Nummer die Sorge um Auswahl und Anordnung überläßt. Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen. Mit diesem Plan einer gemeinsamen Publikation, der später allerdings von Tzara alleine realisiert wurde, deren Name gleichzeitig das 'Gruppensymbol' wurde, zeichnet sich die Intensität der Gruppierung ab. Am 24. Mai 1916 konstatierte Ball: Wir sind fünf Freunde, und das Merkwürdige ist, daß wir eigentlich nie gleichzeitig und völlig übereinstimmen, obgleich uns in der Hauptsache dieselbe Uberzeugung verbindet. Die Konstellationen wechseln. Bald verstehen sich Arp und Hülsenbeck und scheinen unzertrennlich, dann verbinden sich Arp und Janco gegen H., dann H. und Tzara gegen Arp usw. Es ist eine ununterbrochen wechselnde Anziehung und Abneigung. Ein Einfall, eine Geste, eine Nervosität genügt, und die Konstellation ändert sich, ohne den kleinen Kreis indessen ernstlich zu stören. Die Publikation "Cabaret Voltaire" Anfang Juni markierte das Ende der zweiten Phase, der Synthese der modernen Kunst- und Literaturrichtungen». Bereits am 12. Juni pointierte Ball: Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind, und unternahm einen ersten Versuch einer Wesensdeutung des Dadaismus. Es ist bei der heutigen Quellenlage noch nicht, vielleicht überhaupt nicht mehr mit Sicherheit auszumachen, wer das 'Gruppensymbol' gefunden oder - wie es manchmal auch heißt - erfunden hat. Man macht es sich zu leicht, wenn man den späteren, lang andauernden Streit vor allem zwischen Huelsenbeck und Tzara um die Priorität der Wortfindung und die Tatsache, daß dieser Streit bisher nicht eindeutig geklärt ist, als typisch dadaistisch auf sich beruhen läßt. Ball erwähnt das Wort erstmals am 18. April 1916 in seinem Tagebuch als Titelvorschlag für eine Zeitung. Ebenfalls noch als Titelvorschlag findet sich das Wort zum erstenmal im Druck in der Publikation "Cabaret Voltaire", und zwar in Balls Vorwort: Das nächste Zid der hier vereinigten Künstler ist die Herausgabe einer Revue Internationale. La revue paraîtra à Zurich et portera le nom "DADA". Tzara verwandte das Wort meines Wissens erstmals in seiner "Chronique Zurichoise" [veröffentlicht 1920 in dem von Huelsenbeck herausgegebenen "Dada Almanach") unter dem Datum vom 26. Februar 1916: Grande soirée - poème simultané 3 langues, protestation bruit musique nègre / Hoosenlatz Ho osenlatz/ piano Typerrary Lanterna magica démonstration proclamation dernière!! invention dialogue !! DADA !! dernière nouveauté!!! Tzara gab später wiederholt an, er habe das Wort zufällig im Larousse gefunden. Arp leistet ihm 1921 in einer allerdings recht dadaistischen "Dèclaration" Schützenhilfe: Je déclare que Tristan Tzara a trouvé le mot DADA le 8 fèvrier 1916 à 6 heures du soir; j'étais présent avec mes 12 enfants lorsque Tzara a prononcé pour la première fois ce mot qui a déchaîné en nous un enthousiasme légitime. Cela se passait au Café Terrasse à Zurich et je portais une brioche dans la narine gauche. Im Gegensatz dazu schreibt Huelsenbeck 1920 in seiner Geschichte des Dadaismus "En avant Dada": Das Wort Dada wurde von Hugo Ball und mir zufällig in einem deutsch-französischen Diktionär entdeckt, als wir einen Namen für Madame le Roy, die Sängerin unseres Cabarets, suchten. Dada bedeutet im Französischen Holzpferdchen. Es imponiert durch seine Kürze und seine Suggestivität. Dada wurde nach kurzer Zeit das Aushängeschild für alles, was wir im Cabaret Voltaire an Kunst lancierten. Diese Angaben stützt ein Brief Balls vom 8. November 1926, in dem er Huelsenbeck um eine Rezension der "Flucht aus der Zeit" bittet mit dem Hinweis: Zu guter Letzt hab auch ich den Dadaismus darin beschrieben (Cabaret und Galerie). Du hättest dann das letzte Wort zur Sache, wie Du das erste hattest. Huelsenbecks Erinnerung und Balls Brief machen die Wortfindung durchHuelsenbeck wahrscheinlich, umso mehr, als sein Erscheinen in Zürich und seine Aktivität wohl auch ein stärkeres Gemeinschaftsbewußtsein auslösten, wobei die Bezeichnung Dada augenscheinlich zunächst noch nicht als 'Gruppensymbol' gedacht war und es durchaus denkbar wäre, daß es hier Tzara gewesen ist, der als erster das Wort als Bezeichnung einer von ihm ja von Anfang an gewollten neuen Kunstrichtung verwandte. [Vergleiche dazu auch Huelsenbecks Feststellung von 1920: Tristan Tzara hatte die Suggestivität des Wortes Dada als einer der Ersten begriffen. Von nun an arbeitete er unermüdlich als Propagator eines Wortes, das sich erst spät mit einem Begriff füllen sollte.] In der zweiten Phase, vom ersten Auftreten Huelsenbecks bis zur Publikation des "Cabaret Voltaire", war das Kabarett aber nicht nur Experimentierbühne aller derjenigen Probleme, die die modernste Ästhetik bewegten, sondern es zeichnete sich bereits als eine Tendenz ab, der abstrakten ungegenständlichen Kunst den Vorzug zu geben (Huelsenbeck). In privaten Gesprächen und gleichsam hinter den Kulissen der sich konstellierenden Gemeinschaft setzten Bemühungen ein, sich gegenüber anderen Gruppierungen, ihren Stilarten und Gesinnungen immer bewußter abzugrenzen. Sowohl Ball wie Tzara klammerten entspre-chend ihrer Exilsituation und ihrer gewonnenen pazifistischen Uberzeugung zum Beispiel den wütenden Nationalismus (Huelsen-beck) der italienischen Futuristen aus. Speziell Ball, der während seiner Berliner Zeit, korrespondierend mit der futuristischen These vom Krieg als der einzigen Hygiene der Welt, am 7.August 1914 seiner Schwester Maria schrieb, er habe sich als Kriegsfreiwilliger [!, R.D.] gemeldet [Kunst? Das ist nun alles aus und lächerlich geworden [...] Der Krieg ist noch das Einzige, was mich noch reizt], hatte bereits in der Neujahrsnacht 1914/1915 auf dem Balkon der Marinetti-Übersetzerin gegen den Krieg demonstriert, indem wir in die schweigende Nacht der Großstadtbalkone und Telegraphenleitungen hinunterrufen: "A bas la guerre"!» Nach dem Zeugnis Huelsenbecks war Arp insbesondere [...] ein Gegner der futuristischen Auffassung, der er nachsagte, "sie mache Männchen". Davon abgesehen, standen aber die Zürcher Dadaisten vor allem durch Tzara in brieflicher Verbindung mit den italienischen Futuristen, die ihrerseits 1924 für ihre große Ausstellung "Le Futurisme mondial" die meisten Dadaisten dem Futrurismus zuzählten. Über Arp vor allem wurden die Ansichten der Kubisten, besonders Braques und Picassos, bekannt. Aber auch hier erfolgte bald der Versuch einer Abgrenzung, indem Arp an die Stelle der Abstraktionen von Landschaften, Menschen, Gegenständen seine Vorstellung einer abstrakten ungegenständlichen Kunst stellte, die er gelegentlich auch elementare, später rückblickend sogar konkrete Kunst nannte. (Vergleiche auch Tzaras Abgrenzung des Dadaismus gegen Kubismus und Futurismus in seinem "Manifeste dada" von 1918.) Weitere Abgrenzungsversuche bis hin zum späteren Anti-Manifest betrafen den Expressionismus in allen seinen Schattierungen, mit einer wesentlichen Ausnahme: Wassilij Kandinskys Bilder, theoretische und dichterische Arbeiten - Arp hatte zum Beispiel die "Klänge" [1913] als seinen Gedichten wesensverwandt erkannt - spielten nicht nur in den Programmen des "Cabaret Voltaire" eine bemerkenswerte Rolle. Eine scharfe Abgrenzung vor allem durch Huelsenbeck erfolgte schließlich noch gegenüber der Kunst und den Kunst-Theorien des Sturmkreises, und es ist nicht zuletzt diese Abgrenzung zusammen mit einer späteren Ablehnung einer abstrakten gegenstandslosen Kunst, die nach seiner Rückkehr nach Berlin zur Auseinandersetzung zwischen ihm und dem dem Sturm nahestehenden Kurt Schwitters führte. Davon abgesehen, kann man sagen, daß die Programme des "Cabaret Voltaire", aber auch noch die späteren Dada-Veranstaltungen das Repertoire boten, aus dem sich durch Verscharfung der Tendenzen, durch Abgrenzung und durch (wie man rückblikend erkennen kann) Mißverständnisse, gefördert durch die spezielle politische Situation der Emigration und die gemischte Nationalität der Gemeinschaft, das herausgebildet hat, was sich dann äußerst vielschichtig und oft widerspruchsvoll unter dem nicht zuletzt durch die intensive 'Propaganda' Tzaras bald weit und schnell verbreiteten Schlagwort Dadaismus subsumierte. Dieses Repertoire setzte sich zusammen aus spezifischen Tendenzen des Expressionismus (zum Beispiel seiner Kabarett-Konzeption und einem noch aus Balls Münchener Zeit stammenden Plan eines "Künstlertheaters", dem Ball in "Die Flucht aus der Zeit" den programmatischen Zusatz anfügt: Carl Einsteins "Dilettanten des Wunders" bezeichneten die Richtung), aus den anarchistisch gefärbten Vorstellungen des "Aktion"-Kreises, dem auch Richter zuzurechnen war, aus den Forderungen nicht nur des "Manifesto tecnico della letteratura futurista", aus praktischen und theoretischen Konsequenzen des Kubismus (etwa der Aufnahme von Schrift ins Bild, der Entdeckung von Schrift als eines neuen 'Bildinhalts', der Technik der Collage usw.). Hinzu kamen einzelne bevorzugte Autoren, so vor allem der immer wieder von den Dadaisten rezitierte Guillaume Apollinaire, Alfred Jarry, dessen "Ubu Roi" von Arp auszugsweise im "Cabaret Voltaire" vorgelesen wurde, der von Tzara wiederholt vorgestellte Max Jacob, Arthur Rimbaud, von dem Ball meinte: Er ist ein Poet und ein Refraktär, und das letztere mit überwiegender Bedeutung [20.Juni 1916], Oscar Wilde (und sein Dandysmus), Baudelaire und nicht zuletzt der 'Vorläufer' Arthur Cravan. Man schmälert die künstlerischen Leistungen der Dadaisten keinesfalls, wenn man feststellt, daß sie nicht eigentlich Neues erfunden haben, daß ihre Leistung vielmehr zunächst in einer Synthese des Vorhandenen und dann wesentlich in der konsequenten Weiterführung und Radikalisierung von Vorgegebenem zu sehen ist. Ein Argumentieren mit Prioritatsfragen ist überdies im Zusammenhang der Kunstrevolution relativ müßig, weil viele Dinge einfach in der Luft lagen und eine Beantwortung der Frage, wer eigendich was als erster gemacht hat, zur Klärung des Phänomens kaum, falls überhaupt, etwas beiträgt. Mit der konsequenten Weiterführung umd Radikalisierung setzte nun die dritte Phase in der Entwicklung des Dadaismus ein, schlägt erst seine eigentliche Geburtsstunde. Dazu war das inzwischen vorhandene und stark ausgeprägte Selbstverständnis als eigenständiger künstlerischer Gemeinschaft ebenso Voraussetzung wie eine wenigstens ungefähr gemeinsame Vorstellung dessen, was man nun eigentlich wollte und mit der eigenen Produktion bezweckte. Es ist bezeichnend, daß die bisher bekannt gewordenen Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und ähnliches eine immer stärkere Tendenz zur kollektiven Argumentation [= Wir] zeigen, ohne dabei auf gegenseitige Abgrenzung zu verzichten. Hugo Ball hat in einer Tagebuchaufzeichnung vom 12. Juni 1916 als erster das Gemeinsame herauszustellen versucht: Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, daß sich im Widerspruche das Leben behauptet und daß seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt. Das Direkte und Primitive erscheint ihm inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst. Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blutige Pose. Der Dadaist vertraut mehr der Aufrichtigkeit von Ereignissen als dem Witz von Personen. Personen sind bei ihm billig zu ha-ben, die eigne Person nicht ausgenommen. Er glaubt nicht mehr an die Erfassung der Dinge aus einem Punkte, und ist doch noch immer dergestalt von der Verbundenheit aller Wesen, von der Gesamthaftigkeit überzeugt, daß er bis zur Selbstauflösung an den Dissonanzen leidet. Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit. Abgeneigt jeder klugen Zurückhaltung, pflegt er die Neugier dessen, der eine belustigte Freude noch an der fraglich-sten Form der Fronde empfindet. Er weißB, daß die Welt der Systeme in Trümmer ging, und daß die auf Barzahlung drängende Zeit einen Ramschausverkauf der entgötterten Philosophien eröffnet hat. Wo für die Budenbesitzer der Schreck und das schlechte Gewissen beginnt, da beginnt für den Dadaisten ein helles Gelächter und eine milde Begütigung. Ich habe bereits angedeutet, wie sehr die Intentionen und das Selbstverständnis des Dadaismus zunächst auch an die Gegebenheiten des "Cabaret Voltaire" gebunden waren. So hielt Ball schon am 14.April 1916 fest: Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie. Ihr Idealismus? Er ist längst zum Gelächter geworden, in seiner populären und seiner akademischen Ausgabe. Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zu schanden machen. Mit dieser Eintragung korrespondiert eine spätere vom 16.Juni 1916: Die Bildungs- und Kunstideale als Varieteprogramm: das ist unsere Art von "Candide" gegen die Zeit. Man tut so, als ob nichts geschehen wäre. Der Schindanger wächst und man hält am Prestige der europäischen Herrlichkeit fest. Man sucht das Unmögliche möglich zu machen und den Verrat am Menschen, den Raubbau an Leib und Seele der Völker, dies zivilisierte Gemetzel in einen Triumph der europäischen Intelligenz umzulügen. Man führt eine Farce auf, dekretierend, nun habe Karfreitagsstimmung zu herrschen, die weder durch ein verstohlenes Klimpern auf halber Laute, noch durch ein Augenzwinkern dürfe gestört und gelästert werden. Darauf ist zu sagen: man kann nicht verlangen, daß wir die üble Pastete von Menschenfleisch, die man uns präsentiert, mit Behagen verschlucken. Man kann nicht verlangen, daß unsere zitternden Nüstern den Leichendunst mit Bewunderung einsaugen. Man kann nicht erwarten, daß wir die täglich fataler sich offennbarende Stumpfheit und Herzenskälte mit Heroismus verwechseln. Man wird einmal einräumen müssen, daß wir sehr höflich, ja rührend reagierten. Die grellsten Pamphlete reichten nicht hin, die allgemein herrschende Hypokrisie gebührend mit Lauge und Hohn zu begießen. Das "Cabaret Voltaire", könnte man verkürzt sagen, wurde sehr bald zu einem Podium des Protestes einer zusammengewürfelten internationalen Emigrantengruppe von Künstlern aller Gattungen gegen Wahnsinn und Mord, gegen den Wahnsinn der Zeit [Arp]. Die Programme des "Cabaret Voltaire" bekamen den Charakter einer künstlerischen Demonstration gegenüber einer Gesellschaft, die man stellvertretend im Schweizer Spießbürger treffen wollte, einer Gesellschaft, die man für die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten, für den Bankrott der Ideen verantwortlich machte. Es gibt, formulierte Arp rückblickend, kein unbarmherzigeres Geschöpf als den Bürger. Für seinen ausgestopften Schiller ist er bereit, jederzeit ein Blutbad zu veranstalten. Und so waren die Programme des "Cabaret Voltaire" schließlich auch eine Demonstration im weiteren Sinne gegenüber einer Literatur des Bürgertums, die immer noch nichts Besseres tat, als jenem hohen Vorbild nachzuahmen, das man in Deutschland unter dem Kollektivnamen Goethe verstanden wissen will (Huelsenbeck), im engeren Sinne aber auch gegenüber einer zeitgenössischen Literatur, die den Krieg als Hygiene der Welt gepriesen, die als Ideale den Nationalismus, den Patriotismus und den freiwilligen Kriegsdienst ausgerufen hatte. Es gehört zu den unauflösbaren Widersprüchen der Kunstrevolution, daß mit fast denselben Mitteln, mit denen zum Beispiel die Futuristen den Krieg als Hygiene der Welt verherrlicht hatten, die Dadaisten nun gegen den Wahnsinn des Krieges protestierten, wobei die Mittel zum Teil direkt von den Futuristen bezogen wurden. Ähnlich verhält es sich etwa mit der Verherrlichung beziehungsweise Verdammung der Technik, der Maschine. Das abstrakte Zeitalter ist im Prinzip überwunden. Großer Triumph der Kunst über die Maschine. (Ball am 13. April 1916.) Es ist notwendig, auf diese Widersprüche ausdrücklich hinzuweisen, weil sie vielleicht den ausschlaggebenden Grund für die Infragestdlung der Glaubwürdigkeit der Sprache, ja der Glaubwürdigkeit des einzelnen Wortes sein dürften. (Vergleiche auch Balls Tagebucheintrag vom 16.August 1916.) Mit dem bisher Gesagten ist neben der Tendenz zur Abstraktion ein zweiter dominierender Zug des Zürcher Dadaismus skizziert. Dada zielte auf Provokation, seine Veranstaltungen - noch im "Cabaret Voltaire", dann in gemieteten Räumen, in der "Galerie Dada" - waren Demonstrationen in mehrfacher Hinsicht. Und das Medium seines Protests war die Kunst oder auch Anti- Kunst, aber nur, wenn man Anti-Kunst auf die traditionellen Vorstellungen von Kunst bezogen versteht. Wie sehr es den Zürcher Dadaisten bei allem Willen zur Provokation - was zudem, wie Miklavz Prosenc gezeigt hat, soziale Gründe hatte - auch um die Kunst ging, zeigt eine Lektüre der Tagebücher Balls, der schon am 12. März 1916 die Überlegung anstellte: Statt der Prinzipien Symmetrien und Rhythmen einführen. Die Weltordnungen und Staatsaktionen widerlegen, indem man sie in einen Satzteil oder einen Pinselstrich verwandelt; das zeigt exemplarisch eine rückblickende Formulierung Arps, in der er künstlerische Tätigkeit als Alternative zum Wahnsinn der Zeit» aufstellt: À Zurich, en 1915, désintéressés des abattoirs de la guerre mondiale nous nous adonnions aux Beaux Arts. Tandis que grondait dans le lointain le tonnerre des batteries, nous collions, nous récitions, nous versifions, nous chantions de toute notre âme. Nous cherchions un art élémentaire qui devait, pensions-nous, sauver les hommes de la folie furieuse de ces temps. Nous aspirions à un ordre nouveau qui put rétablir l'équilibre entre le ciel et l'enfer. Entsprechend charakterisiert auch Huelsenbeck: Die Größe Arps bestand in seiner Beschränkung auf die Kunst. Was er dachte und wollte, die Gefühle, die ihn bewegten, die Träume, die ihn schüttelten - alles das hatte bei ihm nur einen Sinn, den der Kunst. Arp war und blieb der Künstler per se. Infolgedessen wurde er der größte Kunstler im Dadakreise. Gerade weil er weder links noch rechts sah, wollte er die Kunst ändern, mehr als alles andere, und nur durch die Kunst, so glaubte er, könne sich auch das menschliche Leben ändern. Zumindest in diesem Sinne waren also die Zürcher Dadaisten auch auf Veränderung aus, hatte ihre Provokation revolutionäre Züge, zumal die Arpsche Beschränkung auf die Kunst nicht die einzige Möglichkeit war. Ball beispielsweise hatte schon am 5. März 1916 eingeschränkt: Die Theorien, Kandinskys z.B., immer auf den Menschen, auf die Person anwenden, und sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst. Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst. Und am 5. April 1916: Man kann wohl sagen, daB uns die Kunst nicht Selbstzweck ist [...], aber sie ist uns eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden, Dinge, die doch Voraussetzung eines belangvollen, eines typischen Stiles sind. Man muB das heute betonen, weil Huelsenbecks nachträgliche Abwertung des Zürcher Dadaismus als zu künstlerisch beziehungsweise nur-künstlerisch diesen wesentlichen Zug zu Unrecht ein wenig verdeckt hat: Die Energien und Ehrgeize der Mitarbeiter des Cabaret Voltaire in Zürich waren von Anfang an rein künstlerische. Wir wollten das Cabaret Voltaire zu einem Brennpunkt "jüngster Kunst" machen, obwohl wir uns nicht scheuten, auch hin und wieder den feisten und vollkommen verständnislosen Zürcher Spießbürgern zu sagen, daß wir sie für Schweine und den deutschen Kaiser für den Initiator des Krieges hielten. Gerade Huelsenbeck ist es ja gewesen, der in die Programme des "Cabaret Voltaire"» einen tendenziösen Zug, die Aggression hineinbrachte, genauso, wie er vermutlich derjenige war, dessen Auftritte die Konturierung und vor allem die Radikalisierung des Programms auslösten: Huelsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, daB man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln. [Ball am 11. Februar und 11. März 1916.] Seine Verse sind ein Versuch, die Totalität dieser unnennbaren Zeit mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit all ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten, mit all ihrem Lärm und dumpfen Getöse in eine erhellte Melodie aufzufangen. Aus den phantastischen Untergängen lächelt das Gorgohaupt eines maßlosen Schreckens. Huelsenbeck selbst erinnerte sich 1927 an seine ersten Auftritte im "Cabaret Voltaire": Mein Kampflied war ein nordafrikanisches Negerlied, das ich jeden Abend im Cabaret gegen ein bescheidenes Salär vortrug. Es lautet in deutscher Übersetzung: "Wir wollen unsere Hammel über das Land treiben. / Laßt uns der Hammel gedenken, ehe wir sterben. / Wenn wir sterben, ist nur die große Trommel noch da. / Umba! Umba! ..." Dazu schlug ich heftig auf eine Kesselpauke, die mir das philharmonische Orchester in Zürich geliehen hatte. Die provozierende Tätigkeit der Dadaisten erschöpfte sich schlieBlich jedoch nicht nur in ihren künstlerischen Programmen und Auftritten. Arp berichtet zum Beispiel von einem nicht genau datierbaren [1918?] Privat-Reklame-Feldzug für Dada, den er zusammen mit Augusto Giacometti gemacht habe. Seit 1919 folgte eine Anzahl von Falschmeldungen in der Zeitung [8. und 9.Juli 1919 "St. Galler Tagblatt"; 6. September 1921 "Kölner Tageblatt"]. Man muß allerdings berücksichtigen, daß es sich nach Ende des Krieges und bei langsamer, aber stetiger Auflösung der Züricher Dadagruppe - Ball hatte sich schon 1916 innerlich gelöst, Huelsenbeck war Anfang 1917 bereits nach Berlin zurückgegangen - hier wohl in erster Linie um Versuche handelt, einer lahmgewordenen Angelegenheit noch einmal neue - wenn auch nur äußerliche Lichter aufzusetzen. Sie sind für den Zürcher Dadaismus eigentlich untypisch und sollten auf keinen Fall überbewertet werden. Die künstlerischen Leistungen des Zürcher Dadaismus beruhen - wie schon gesagt - auf der radikalen Ablehnung einer traditionellen Kunst sowie der Aufnahme und Verschärfung zeitgenössischer künstlerischer Tendenzen. Sie bestanden durch den Zwang zu einem gemeinsamen Programm nicht zuletzt auch in Versuchen, sich von anderen zeitgenössischen Tendenzen abzugrenzen. Und sie sind schließlich zu verstehen als Versuche einer neugewollten Kunst, die man bereits wollte, als man das Wie noch nicht kannte. Ball erklärte in seinem Manifest zum ersten Dada-Abend im Zunfthaus "Zur Waag" am 14.Juli 1916, das im übrigen bereits eine kaum verhüllte Absage an die Freunde war: Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, daß bisher niemand etwas davon wußte und morgen ganz Zürich davon reden wird. Als Ball dieses zugleich erste Manifest des Dadaismus vortrug, hatten sich aus der Praxis des "Cabaret Voltaire" bereits künstlerische Äußerungsmöglichkeiten herausgebildet, die von den Dadaisten in der Folgezeit als eigener 'Stil' weiter gehandhabt und in jeweils eigener Weise fortgebildet wurden. Die Ablehnung einer traditionellen Literatur - und diese war es, nicht eine Literatur schlechthin, die Huelsenbeck in Grund und Boden trommeln wollte - äußerte sich in zahlreichen Parodien, die nicht nur im Falle Balls oder Arps vor allem schon aus der Zeit vor 1916 datieren konnten. So stammt die immer wieder dem Zürcher Dadaismus zugeordnete "Klage um Kaspar" sehr wahrscheinlich schon aus dem Jahre 1912. In ihr, in den vergleichsweise ahnlichen Gedichten des "vogel selbdritt" (1920), aber auch in anderen Texten der Zürcher Jahre ist bevorzugt ein durchaus noch traditionelles Vokabular aus seinem erwarteten Kontext herausgerissen, durcheinandergespielt, zu unsinnigen Textwelten zusammengebracht worden und stellte so - im Sinne einer Arpschen Formulierung - dem Unsinn der Zeit den Ohnesinn der Kunst gegenüber. Ähnliches ließe sich auch über Tzaras "vingt-cinq poèmes" (1918) sagen. Eine andere in den Programmen des "Cabaret Voltaire" praktizierte Möglichkeit war die überraschende Konfrontation heterogener, im traditionellen Sinne nicht zusammenpassender Kunstarten und Stile. So berichtet Ball am 3.Juni 1916 von der Verbindung eines Krippenspiels mit bruitistischer Musik: Das "Krippenspiel" (Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend) wirkte in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben. Manche Methoden des Vortrags zielten bewußt auf Provokation. So erfand Huelsenbeck das sogenannte "poème gymnastique": Tzara und ich machten Kniebeugen und lasen Verse zwischen den Kniebeugen, ich las aus den "Phantastischen Gebeten", Tzara aus dem "Aventure celeste de Monsieur Antipyrine". Der erste Vortrag eines solchen "poème gymnastique" fand nach Huelsenbecks und Tzaras Angaben am 14. Juli 1916 auf dem ersten grossen Dada-Abend im Zunfthaus "Zur Waag" statt, an dem Tzara provokativ forderte: nous voulons nous voulons nous voulons pisser en couleurs diverses. Daß solche gymnastischen Übungen aber schon zu den Programmen des "Cabaret Voltaire" gehörten, zeigte ein leider verschollenes, nur in Abbildungen erhaltenes Bild Jancos, dessen Inhalt von Arp folgendermaßen wiedergegeben wird: Dans un local surpeuplé et bariolé de couleurs se tiennent sur une estrade quelques personnages fantastiques qui sont sensés représenter Tzara, Janco, Ball, Huelsenbeck, Madame Hennings et votre humble serviteur. Nous sommes en train de mener un grand sabbat. Les gens autour de nous crient, rient et gesticulent. Nous répondons par des soupirs d'amour, des salves de hoquet, des poésies, des "Oua, Oua" et des "Miaous" de bruitistes moyennageux. Tzara fait sauter son cul comme le ventre d'une danseuse orientale. Janco joue un violon invisible et salue jusqu'à terre. Madame Hennings avec une figure de madone essaie le grand écart. Huelsenbeck n'arrête pas de frapper sur sa grosse caisse, pendant que Ball l'accompagne au piano pâle comme un mannequin de craie. Eine andere Möglichkeit der Täuschung künstlerischer Erwartung bot das vor allem von Huelsenbeck und Tzara gepflegte sogenannte "Negerlied", dessen Vortrag gelegentlich regelrecht inszeniert wurde, vergleiche Balls Tagebucheintrag vom 30.März 1916: Es folgten "Chant nègre I und II", beide zum ersten Mal. "Chant négre (oder funèbre) I." war besonders vorbereitet und wurde in schwarzen Kutten mit großen und kleinen exotischen Trommeln wie ein Femgericht ekutiert. Die Melodien zu "Chant negre II" lieferte unser geschätzter Gastgeber, Mr. Jan Ephraim, der sich vor Zeiten bei afrikanischen Konjunkturen des längeren aufgehalten und als belehrende und belebende Primadonna mit um die Aufführung wärmstens bemüht war. Der Affront gegen das Bürgertum und eine ihm als zugehörig verstandene Literatur mußte bald jegliche Kunstideale negieren, jegliche bisher gültigen ästhetischen Wertmaßstäbe und Spielregeln der Kunst für ungültig erklären. Das bedeutete aber auch, daß man - wollte man über die pure Provokation, die überraschende Konfrontation, das Täuschen der Erwartung, über die Parodie hinaus - neue Wege finden mußte, indem man zum Beispiel vorhandene zeitgenössische Tendenzen, aber auch Techniken auf andere Kunstarten übertrug, verschärfte, aber auch umfunktionierte. Ball spricht in diesem Zusammenhang von dem emphatischen Schwung unseres Zirkels, von dessen Teilnehmern einer den andern stets durch Verschärfung der Forderungen und der Akzente zu überbieten suchte. So griffen die Dadaisten schon in den Programmen des "Cabaret Voltaire" die Technik der Simultantexte auf, die sie sicherlich von den italienischeo Futuristen her kannten (vergleiche auch Huelsenbecks Ausführungen in "En avant dada"), wenn sie auch - wie Ball notiert - direkt dem Vorbild Henri Barzuns und Fernand Divoires folgten. Die "Note pour les bourgeois", die Tzara der ersten Veröffentlichung eines solchen "poème simultan" [Huelsenbeck, Janco und Tzara: "L'amiral cherche une maison à louer" in "Cabaret Voltaire" anfügte, stellte das Simultangedicht der Dadaisten zunächst in einen größeren Zusammenhang, um es dann als etwas Eigenständiges herauszuheben. [Die grammatischen Fehler beziehungsweise Druckfehler in den nachstehenden französischen Zitaten wurden beibehalten.] Les essays sur la transmutation des objets et des couleurs des premiers
peintres cubistes (1907) Picasso, Braque, Picabia, Duchamp-Villon, Delaunay,
suscitaient l'envie d'appliquer en poésie les mêmes principes
simultans. Ball selbst, der, soweit ich ermitteln konnte, nie an einem Simultangedicht als Autor und Vortragender beteiligt war, beschrieb in seinem Tagebuch das "poème simultan" als kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, daß ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Der Eigensinn eines Organons kommt in solchem Simultangedichte drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung. Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrr, oder Polterstöße oder Sirenengeheul und dergleichen), haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz. Und er interpretierte es gleichsam antifuturistisch: Das "Poème simultan" handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfährt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozeß verdeutlichen. In typischer Verkürzung zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind. Diesem ersten "poème simultan" folgten zahlreiche andere; vor allem Arp, Serner und Tzara, die "société anonyme pour l'exploitation du vocabulaire dadaiste" verfaßten Texte dieser Art, die bevorzugt in Cafés geschrieben wurden. Arp hat nachträglich darauf hingewiesen, daß es sich hier um eine Art Dichtung handele, die der späteren "écriture automatique" der Surrealisten verwandt sei: «Ce genre de poésies fut plus tard baptisé: "Poésie Automatique" par les surréalistes. La poésie automatique sort en droite ligne des entrailles du poète ou de tout autre de ses organes qui a emmagasiné des réserves. Ni le Postillon de Longjumeau, ni l'alexandrin, ni la grammaire, ni l'esthétique, ni Bouddha, ni le Sixième Commandement ne saurait le gêner. Il cocorique, jure, gémit, bredouille, yodle comme ça lui chante. Ses poèmes sont comme la nature: ils puent, rient, riment comme la nature. La niaiserie, ou du moins ce j que les hommes appellent ainsi, lui est aussi précieuse qu'une rhétorique sublime, car, dans la nature, une brindille cassée vaut en beauté et en importance les étoiles, et ce sont les hommes qui décrètent de la beauté ou de la laideur. Diese Technik der zufälligen automatischen Niederschrift, der auch zahlreiche Texte Tzaras und Arps (speziell die "Arpaden", aber auch viele Gedichte aus der "wolkenpumpe") ihre Entstehung verdanken, deutet an, eine wie große Rolle der Zufall nicht nur für die literarische Produktion der Dadaisten in Zürich gespielt hat. Richter überspitzt dieses neben Gelächter und Spiel dritte wesentliche Element des Züricher Dadaismus sogar als das eigentliche Zentralerlebnis von Dada. Es ist für die Gepflogenheit, Entdeckungen auf einem Gebiet der Kunst sofort auf andere Gebiete zu übertragen, bezeichnend, daß die Möglichkeiten der Zufallskomposition sehr wahrscheinlich zuerst (und einer Anekdote zufolge von Arp) im Bereich der bildenden Kunst entdeckt und erst dann auf den Bereich der Literatur übertragen wurden. Die Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, verallgemeinert Richter, war, den Zufall als neues Stimulans des künstlerischen Schaffens anzuerkennen. Selbst in Gesprächen und Diskussionen begann der Zufall eine Rolle zu spielen, in Form einer mehr oder weniger assoziativen Sprechweise, in welcher uns Klänge und Formverbindungen zu Sprüngen verhalfen, die scheinbar Unzusammenhängendes plötzlich im Zusammenhang aufleuchten ließen. Tzara, Arp, Serner, Huelsenbeck waren Meister in dieser Kunst und Arps Gedichte Meisterwerke dieser Erforschungs- und Erfahrungstechnik. Die den "automatischen Gedichten" verwandten Texte der "wolkenpumpe" lassen vermuten, daß vor allem die Klangvorstellungen Arps bei der Niederschrift Wahl und Anordnung der Wörter und Wortkonnexe mitbestimmt haben. Eine eigene Lesung dieser Texte durch Arp läßt nicht nur die auch vokabulär angespielten Sprachbereiche der Apokalypse und der Liturgie deutlicher hervortreten, sondern sie verweist auch durch den Tonfall der "Lamentation" auf jene "Klanggedichte", die Ball wahrscheinlich am 23.Juni 1916 zum erstenmal im "Cabaret Voltaire" vorgetragen hat: Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, "Verse ohne Worte" oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser Verse habe ich heute Abend vorgelesen. Ball beschreibt im folgenden Kostüm und Inszenierung dieses Vortrags. Dabei habe er sehr bald gemerkt, daß meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte [...] dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein. [...] Die schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elephanten hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt.Wie sollte ichs aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm [...] Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es, nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen. Balls Tagebuch läßt den Weg von der Bezauberung der Zürcher Dadaisten durch die Plastizität des Wortes, von der Preisgabe des Satzes dem Worte zuliebe bis zur Preisgabe des Wortes selbst sehr gut verfolgen und verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das Vorbild der italienischen Futuristen: Mit der Preisgabe des Satzes dem Worte zuliebe begann resolut der Kreis um Marinetti mit den "parole in libertà". Sie nahmen das Wort aus dem gedankenlos und automatisch ihm zuerteilten Satzrahmen (dem Weltbilde) heraus, nährten die ausgezehrte Großstadtvokabel mit Licht und Luft, gaben ihr Wärme, Bewegung und ihre ursprünglich unbekümmerte Freiheit wieder. Aber Ball hob sogleich den dadaistischen Rückzug auf das Wort von den futuristischen Intentionen ab, indem er fortfuhr: Wir andern gingen noch einen Schritt weiter.Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestims zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung. Unsere Versuche streiften Gebiete der Philosophie und des Lebens, von denen sich unsere ach so vernünftige, altkluge Umgebung kaum etwas träumen ließ. (18. Juni 1916) Mit der 'Erfindung' der "Klanggedichte", dem Rückzug in die innerste Alchemie des Wortes, dem Versuch, so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk zu bewahren, ging Ball dann den entscheidenden Schritt über die Zerstörung der Syntax durch den italienischen Futurismus hinaus, unterscheidet er sich in seiner Interpretation aber auch deutlich von den beiden anderen Lautdichtern des Dadaismus, Raoul Hausmann und Schwitters, von denen vor allem der letztere die Lautdichtung sehr viel materialer innerhalb eines Reduktionsprozesses verstand, als eine Mischform zwischen Literatur und Musik. Der Anspruch, das Wort mit Kräften und Energien geladen zu haben, die uns den evangelischen Begriff des "Wortes" (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen, der Rückzug in die innerste A1chemie des Wortes, die Preisgabe des Wortes, um so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk zu bewahren, zeigen ebenso wie Arps Erhebung des Zufalls zu einer nahezu kultischen Instanz (Richter) von den Züricher Dadaisten zumindest Arp und Ball, jeden auf seine Weise, nicht nur im Gegensatz zu den zukunftsträchtigen, die Technik verherrlichenden Intentionen der Futuristen, sondern auch im Gegensatz zu den die Literatur zeitweilig nur als Mittel und Vorwand benutzenden Huelsenbeck und Serner, dem zeitweilig nur auf Zerstörung drängenden Tzara. Es ist aufschlußreich, daß Arp in seinen Erinnerungen "Unsern täglichen Traum..." als einzige Tagebuchnotiz Balls zitiert: Das Wort und das Bild sind eins. Maler und Dichter gehören zusammen. Christus ist Bild und Wort. Das Wort und das Bild sind gekreuzigt. Es ist ebenso aufschlußreich, daß auf der IV. geschlossenen Dada-Soiree "Alte und Neue Kunst" (12. Mai 1917), an der Tzara bezeichnenderweise nur mit "poèmes nègres" und Serner noch nicht beteiligt waren, Emmy Hennings Aus dem Buche des "Fließenden Lichtes der Gottheit" (1212-1294): Schwester Mechtild. / Aus dem Buche "Der Johanser zum Grünen Werde zu Straßburg": Grundlos einig sein. / Der Mönch zu Halsbrune: "Die Wahrheit ist uns dabei Schein" (1320) las, während Arp Jacob Böhme "Morgenröte im Aufgang": Von der bitteren Qualität. Von der Kälte Qualifizierung (1612) rezitierte. Die moderne Mystik, merkte Ball dazu in seinem Tagebuch an, bezieht sich auf das Ich. Wir können nicht loskommen davon. Wir sind krank oder haben uns zu verteidigen. Das Mittelalter schuf anonym. Wer würde noch Bücher publizieren, wenn sein Name nicht auf dem Umschlag stünde. Und zur Lesung der Schwester Mechtild fragte Ball: Warum müssen wir soweit zurückgreifen, um Beruhigung zu finden? Warum graben wir die tausendjährigen Fetische aus? Sind die Erschütterungen so schwer, daß der Schock bis in die fernsten Zeiten und bis in die höchsten Höhen des Gedankens reicht? Nur die aufgeräumtesten und reduziertesten Dinge können uns noch Freude machen. Ebenso symptomatisch wie diese wiederholten Hinweise auf die Mystik ist die Tatsache, daß Ball im Zusammenhang der Zürcher Dadajahre in seinem Tagebuch fünfmal Novalis zitierte (unter anderem Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs) und am 23.Mai 1917 die Frage stellte: Der Dadaismus - ein Maskenspiel, ein Gelächter? Und dahinter eine Synthese der romantischen, dandystischen und - dämonistischen Theorien des 19. Jahrhunderts?, nachdem er schon am 15. Juni 1916 gefragt hatte: ob wir trotz all unserer Anstrengungen über Wilde und Baudelaire hinauskommen werden; ob wir nicht doch nur Romantiker bleiben. Man kann heute leichter übersehen, wie gebrochen das Verhältnis der Dadaisten, speziell Arps, zu romantischen Literatur- und Kunstvorstellungen gewesen ist, wie schwer und zum Teil nur unvollständig die Lösung von der Tradition war, und daß das oft vage Ausweichen in die Mystik vielleicht auch eine Art Selbstschutz darstellte, wenn nicht gar ein 'altera pars' zu einem später politischen Dadaismus war. Nachträgliche Erinnerungen der Dadaisten, aber auch eine 'christliche Dichtung' Arps, die 'Bekehrung' Balls, der nach einer zeitweiligen Rückkehr nach Zürich und der Eröffnung der "Galerie Dada" 1917 dem Dadaismus endgültig den Rücken kehrte, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit ihrer Hilfe im Züricher Dadaismus ein stufenweiser Abbau traditioneller Kunst und Kunstvorstellungen erfolgte, daß die Radikalität seiner künstlerischen beziehungsweise antikünstlerischen Mittel, das Infragestellen überkommener, traditionell erwarteter künstlerischer Inhalte und Formen gleichzeitig eine radikale ästhetische Negation einer Gesellschaft war, der diese in Frage gestellte Kunst nach Inhalt und Form immer noch galt. Die künstlerischen Errungenschaften des Dadaismus haben dabei ein Neuverständnis der Kunst mit eingeleitet, ohne dessen Kenntnis das, was heute an Kunst erzeugt wird, kaum zu verstehen sein dürfte. Als Tzara nach dem Kriege im Mai 1919 als Doppelnummer 4-5 seiner Zeitschrift "Dada" eine "Anthologie Dada" herausgab und damit auch so etwas wie eine künstlerische Summe des Zürcher Dadaismus zog, gehörte Ball nicht mehr zu den Beiträgern, und Huelsenbeck, der inzwischen in Berlin eine politische Spielart des Dadaismus praktizierte, war nur noch mit einem Gedicht und indirekt durch eine Simultanrezension seiner "Verwandlungen" vertreten. An seiner Stelle hatte Serner für einen Teildruck seines skandalträchtigen Manifestes "Letzte Lockerung" [Buchausgabe 1920] drei Seiten eingeräumt bekommen. Neben Texten von Richter und Tzara brachte die Anthologie zum erstenmal in den Dada-Jahren mit Texten "aus "die wolkenpumpe"" auch eine literarische Veröffentlichung Arps. Eine starke Beteiligung französischer Autoren an dieser Anthologie, unter anderem der späteren Surrealisten André Breton, Louis Aragon, Jean Cocteau, Philippe Soupault, erklärt sich sicher nicht nur aus der Tatsache, daß gleichzeitig eine französische Ausgabe in Paris gedruckt wurde, sondern zeigt auch, wie sehr der von einer internationalen Künstlergemeinschaft in der schweizerischen Emigration inszenierte Dadaismus, der bereits während des Krieges durch seine von Tzara im Verlag "Mouvement Dada" betreuten Publikationen, aber auch durch intensive briefliche Kontakte, wiederum vor allem durch Tzara, über Zürich hinausgewirkt hatte, mit Ende des Krieges international sich auszubreiten begann, worauf zum Beispiel auch Hausmanns eingerückte "Letzte Nachrichten aus Deutschland" hinweisen. Eine im November 1919 von Otto Flake, Serner und Tzara herausgegebene Publikation "Der Zeltweg" markiert schließlich das Ende des Zürcher Dadaismus, das sich schon im Mai des Jahres in der Gründung einer neuen Gruppe "Artistes radicaux" (Arp, Baumann, Eggeling, Janco, Richter und andere) abgezeichnet hatte. Mit der Aufzählung der Mitarbeiter am Zeltweg und einem Hinweis auf zahlreiche inzwischen über den Dadaismus erschienene Artikel schließt auch Tzara seine "Chronique Zurichoise" ab. "Der Zeltweg" war, wie Richter zu Recht betont, eine Nachgeburt und gemessen an den klassischen DADA-Nummem [...] eher zahm [...] Zwar waren es die gleichen Mitarbeiter, aber wir lebten nicht mehr auf jener isolierten Insel im Kriegsmeer. Europa war wieder vorhanden. Außerdem hatten die Revolution in Deutschland, Rebellionen in Frankreich und Italien, die Weltrevolution in Rußland alle Gemüter bewegt, die Interessen gespalten und die Aktivität auch in die Richtung politischer Veränderungen gelenkt. Die Gespaltenheit der Interessen wurde in den sich jetzt überall in Europa bildenden dadaistischen Gruppierungen schnell sichtbar. Jedes dieser neuen "Dada-Zentren" zeigte ein spezifisches Gesicht, das es von den anderen unterschied. War, um es wenigstens an der Oberfläche zu skizzieren, der Kölner Dadaismus (1919/1920) - abzulesen etwa an Max Ernsts "Biographischen Notizen (Wahrheitsgewebe und Lügengewebe)" (1963) - vor allem eine Angelegenheit der bildenden Kunst, so wurde der Pariser Dadaismus (1919-1922) wesentlich eine Sache der Literaten. Und während Schwitters in Hannover (seit 1919) aus den künstlerischen Intentionen des Züricher Dadaismus und den Theorien des "Sturm" eine Art Privatdadaismus entwickelte, dem er - auch um ihn von anderen dadaistischen Strömungen zu unterscheiden - mit "Merz" bald einen eigenen Namen und unter diesem Namen seit 1923 eine eigene Zeitschrift gab, praktizierte Huelsenbeck in Berlin (1918-1920) zusammen mit John Heartfield, Wieland Herzfelde, George Grosz, Raoul Hausmann, Hannah Höch, Walter Mehring und dem "Oberdada" Baader eine zwischen anarchistischer und kommunistischer Argumentation pendelnde Spielart, in der, wie die zwölf Veranstaltungen des "Club Dada", die von Hausmann herausgegebene Zeitschrift "Der Dada" und die am 5. Juni 1920 eröffnete "Internationale Dada-Messe" deutlich machen, die rein künstlerische Betätigung eine nur sekundäre Rolle spielte. Entsprechend waren auch die sogenannten Dada-Feldzüge der Berliner Dadaisten bis in die Tschechoslowakei, Schwitters' und Doesburgs in Holland vor allem Unternehmen in eigener Sache. Es ist bezeichnend, daß Huelsenbeck, dessen "Phantastische Gebete" in der Züricher Erstausgabe mit sieben Holzschnitten Arps versehen waren, sie für die Berliner Neuausgabe von Grosz illustrieren ließ. Es ist ferner aufschlußreich, daß Huelsenbeck seine beiden dadaistischen Gedichtbücher in Zürich publiziert hatte und daß, nach seiner Rückkehr - von der Neuausgabe einmal abgesehen - mehr an dadaistischer Aktion als an literarischer Produktion interessiert, jetzt jene Reihe von Manifesten, Pamphleten und Traktaten folgte, die ihn zum aggressiven Geschichtsschreiber der Bewegung werden ließen: "Dada siegt. Eine Bilanz des Dadaismus" (1920), "En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus" und "Deutschland muß untergehen. Erinnerungen eines dadaistischen Revolutionärs" (1920). Kunst war für Huelsenbeck nur mehr Propagationsmittel für eine revolutionäre Idee. Wir suchten die Kunst- und Kulturideologie einer beruhigten Klasse mit ihren eigenen Mitteln zu zerstören. Wir suchten den Begriff der Leistung innerhalb des geistigen Ressorts einer müden Bourgeoisie mit allen Mitteln der Groteske, des Witzes und der Satire in geschlossener Phalanx zu zerschlagen, da wir in ihm eine maßlos ungerechte Klassifikation sahen [...] Für uns [lag] der Geist keineswegs nur in der artistischen Leistung eines Dichters, es war für uns eine Absurdität, die Menschen geistiger und besser (Meliorismus!) machen zu wollen, da nach unserer Ansicht der metaphysische Wert eines "Geistigen" und, um ein beliebiges Beispiel heranzuziehen, einer Gießkanne durch keine intellektuelle Manipulation zu differenzieren war. Aus einer solchen Haltung heraus wuchs auch der Widerspruch, ja fast eine Ablehnung des Zürcher Dadaismus, was Hausmann später damit zu begründen versuchte, daß in der Schweiz dada mehr als "künstlerisches Spiel" auftreten konnte, während Berlin den Konflikten des Krieges und später des Bolschewismus unmittelbar entgegentreten mußte [...] Die bewußte neue geistige Haltung der berliner Dadagruppe wurde dadurch unterstrichen, daß die Vortragsabende gewisse aggressive [...] Absichten verfolgten, die in verschiedenen vorgetragenen Manifesten gegen die bürgerliche Verklitterung, gegen einen verschrobenen Expressionismus und gegen eine unwahre Pathetik kämpften. Eine solche Auffassung mußte notwendigerweise zu Spanaungen mit jenen Künstlem führen, die die Tendenz, einer abstrakten ungegenstandlichen Kunst den Vorzug zu geben, weiter verfolgten. Und was sich an gegensätzlichen Meinungen im Umkreis des "Cabaret Voltaire" noch bei wechselnden Konstellationen zusammenhalten ließ, führte jetzt, wo die verschiedensten Auffassungen nicht mehr auf einem Podium zusammengebracht werden konnten, sondern jede Auffassung gleichsam ihr eigenes Podium hatte, zu offenen Konflikten vor allem zwischen Huelsenbeck und Tzara, Huelsenbeck und Schwitters, der sich - nachdem Huelsenbeck in seiner Einleitung zum "Dada Almanach" erklärt hatte: Dada lehnt Arbeiten wie die berühmte "Anna Blume" des Herrn Kurt Schwitters grundsätzlich und energisch ab - auf seine Weise rächte, in dem er zwischen Kern- und Hülsendadaisten unterschied. Ursprünglich gab es nur Kerndadaisten, die Hülsendadaisten haben sich von diesem ursprünglichen Kern unter ihrem Führer Hülsenbeck abgeschält und bei der Abspaltung Teile des Kernes mitgerissen. Das Abschälen vollzog sich unter lautem Geheul, Absingen der Marseillaise und Verteilen von Fußtritten mit den Ellenbogen, einer Taktik, deren sich Hülsenbeck noch heute bedient. Daß in solchen Konflikten auch ganz persönliche Dinge zum Austrag kamen, vor allem in den scharfen Attacken Huelsenbecks gegen Tzara, sei hier nur am Rande erwähnt. Trotz solcher Spannungen und Querelen wird aus dem historischen Rückblick deutlich, daß alles, was sich in den verschiedensten Orten nicht nur Europas - auch in Japan zum Beispiel hat der Dadaismus seine Spuren hinterlassen - unter dem Schlagwort Dadaismus gruppierte und oft sehr schnell wieder zerfiel, bereits im Züricher Dadaismus vorgebildet war. Er hatte sich - was auch Huelsenbeck ihm nachträglich als Lei-stung bescheinigt - der drei Prinzipien des Bruitismus, der Simultaneität und des neuen Materials in der Malerei bemächtigt; er enthielt sowohl die Tendenz zu einer abstrakten Kunst wie die Tendenz zur politischen Provokation; er ließ die Überzeugung einer Veränderbarkeit der Welt durch die Kunst ebenso zu wie eine Kunst, die nur ästhetisches Mittel zum politischen Zweck war; er hatte es verstanden, in seinem Auftreten Tendenz und Experiment zu verbinden. Mit seinen - durch die Ausgangssituation des Kabaretts mitbestimmten - wesentlichen Elementen des Spiels, des Gelächters und des Zufalls konnte jeder der Beteiligten auf seine Weise etwas anfangen. Er wurde von einer Gruppe praktiziert, ohne einen Gruppenstil zu entwickeln, denn das gemeinsame Arbeiten in einer "société anonyme" war nur eine Möglichkeit neben anderen. Nicht zuletzt hatte er die absolute Freiheit proklamiert und sie auszuüben versucht. Dennoch war er bei aller Radikalität der Mittel nur ein Teilaspekt, eine Phase innerhalb einer Kunstrevolution, deren vorliegende Ergebnisse er aufnahm und in seinem Sinne veränderte, verschärfte und so der Entwicklung der modernen Künste neue Möglichkeiten gewann. Das schillernde Bild, das er dem rückblickenden Betrachter bietet, seine Vielgesichtigkeit und auch seine Widersprüchlichkeiten verdankt er nicht zuletzt dem Zusammentreffen der verschiedensten Temperamente. Er war mitbedingt durch die politisch-sozialen Gegebenheiten und zerfiel, als diese Voraussetzungen sich änderten. Nach dem Kriege - könnte man verkürzen - nahm jeder der Beteiligten dann sozusagen seine Spielart des Dadaismus mit und formte sie entsprechend den Gegebenheiten, die er vorfand, aus: Huelsenbeck in Berlin zu einer primär politischen, Tzara in Paris zu einer primar künstlerischen Variante. Zugespitzt gesagt, zerfiel der Dadaismus nach dem Kriege in seine einzelnen Tendenzen, die sich jeweils so lange behaupten konnten, bis sie sich selbst ad absurdum geführt hatten, bis die politischen Ereignisse und die Uneinigkeit der Mitglieder [...] ganz selbstverständlich zur Auflösung der Berliner Dadabewegung führten (Hausmann), bis sie durch andere Tendenzen - in Paris etwa durch die Uberführung der völligen Systemlosigkeit in eine neue Systematik durch den Surrealismus (Richter) - abgelöst wurden oder sich in der Merzkunst Schwitters' auf eine spezifische Weise weiterbildeten. Daß die meisten der am Dadaismus beteiligten Autoren und Künstler sehr wohl ein eigenes, unverwechselbares, komplexes Werk, oft auf mehreren Gebieten der Kunst, hinterlassen haben, sei abschließend angedeutet. [zuerst in: Hans Rothe (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Bern und München: Francke 1969, S. 719-739] |
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