Reinhard Döhl
Collagen lesen. Musik, Schrift und Realität im Dialog Braques und Picassos
Ich möchte im folgenden versuchen, die kubistischen Arbeiten und Collagen Pablo Picassos und des ein Jahr jüngeren George Braque im Spannungsfeld der Künste zu 'lesen', undzwar nicht nur in den Wechselbeziehungen zwischen Schrift und Bild, sondern gleichermaßen in den Wechselbeziehungen zwischen Bild und Musik, sowie in ihrem Bezug zur Realität. Und ich 'lese' sie dabei für die Jahre 1908 bis 1914 als einen Quasi-Dialog, wobei ich mit meiner Lesart ansatzweise den Gedanken verfolge, daß entscheidende Leistungen der Künste im 20. Jahrhundert dialogisch waren. Ich beginne mit einem Schwitters-Zitat. Die Merzmalerei, notierte Schwitters in einem kleinen Essay
gleichen Titels, bediene sich nicht nur der Farbe und der Leinwand,
des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien
und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die
verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren
oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die
Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft
durch Wahl, Verteilung und Entformelung der Materialien. Das Entformeln
der Materialien kann schon erfolgen durch ihre Verteilung auf der Bildfläche.
Es wird noch unterstützt durch Zerteilen, Verbiegen, Überdecken
oder Übermalen Bei der Merzmalerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte,
der Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder
Bleistiftschrift zur Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes
Butterbrotpapier zur Lasur, Watte zur Weichheit. Entsprechend aber hatte Guillaume Apollinaire schon Mitte des Jahres 1912 betont, daß Picasso es zuweilen für nicht unter seiner Würde gehalten habe, authentische Gegenstände: ein Zweigroschenlied, eine wirkliche Briefmarke, ein Stück Wachstuch mit der eingeprägten Rille eines Sessels der Helle anzuvertrauen. Und Apollinaire hatte verallgemeinert: Man kann mit allem Möglichen malen: mit Pfeifen, mit Briefmarken, mit Post- und Spielkarten, mit Kandelabern, mit Wachstuchfetzen, mit Bierschaum, mit buntem Papier, mit Zeitungen. (2). Wenn auch Apollinaire von Picasso, und demzufolge von den Kunsthistorikern und Chronisten des Kubismus nie ganz ernst genommen wurde - Als Apollinaire über die Bilder Picassos schrieb, schränkt zum Beispiel Pierre Cabanne ein, da begriff er dank seiner Intuition, die sein Urteilsvermögen weit überstieg, welchem Ziel Picasso zustrebte, (3) - Wenn auch Apollinaire deshalb heute im Kontext des Kubismus immer noch nicht ernst genug genommen wird, so ist er doch, zusammen mit Max Jacob und André Salmon, ein gewichtiger Zeitzeuge, sind seine Angaben im gegebenen Zitat anhand der kubistischen Bilder und Collagen Picassos leicht verifizierbar (4). Zugleich stellen zumindest einige Texte Guilleaume Apollinaires, Max Jacobs und natürlich Gertrude Steins durchaus so etwas wie ein literarisches Pendant zum malerischen Kubismus dar (5). Ich verweise im Falle Gertrude Steins nicht nur auf die "Tender Buttons" oder ihr berühmtes "Wenn ich es ihm sagte. Ein vollendetes Portät von Picasso". Im Falle Apollinaires denke ich nicht nur an die "Calligrammes" und "Poemes conversations", im Falle Jacobs, von dem noch die Rede sein wird, auch an die Radierungen Picassos zu "Saint Matorel" aus dem Jahre 1910 (6), die ähnlich wie das "Bildnis Guillaume Apollinaires" aus dem Jahre 1913 (7) durchaus Korrespondenzen andeuten. Auf weitere literarische Bezüge werde ich von Fall zu Fall eingehen; desgleichen auf die Bedeutung der Musik vor allem für das Werk Braques; so daß ich mich jetzt den Bildbeispielen aus den Jahren 1908 bis 1914 zuwenden kann. Musikalische Stilleben Und dieser Längsschnitt könnte mit einem Stilleben Picassos, mit der "Komposition mit Schädel" aus dem Frühjahr 1908 (8) beginnen. Es geht mir dabei hier und im folgenden nicht um Bildexegese, Fragen der Komposition und ähnliches. Das ist in der inzwischen umfangreichen Literatur zum Kubismus weitgehend geleistet. Was mich interessiert, sind lediglich einige inhaltliche, auch formale Spezifika. Und das betrifft bei diesem Stilleben vor allem zwei Punkte. Erstens den Totenschädel und damit die Möglichkeit, das Bild in eine Vanitas-Tradition einzuordnen, der sich manches kubistische Stilleben wegen seiner Symbole zuordnen ließe. Vor allem aber betrifft es die Zuordnung von Malerei und Literatur, denn deutlich werden der in der oberen Bildhälfte dominierend durch Palette, Pinsel und Bild angespielten Malerei links unten ein Bücherstapel, noch einmal zwei einzelne Bücher und ein Tintenfaß mit Federhalter zugewiesen, wobei Tintenfaß und Federhalter auch die Deutung des noch ungeschriebenen Buches zulassen. Dabei ordnet die vertikale Bildordnung Pinsel und Palette dem Tintenfaß mit Federhalter zu, während die Diagonale das Memento mori als Thema bzw. Gegenstand zwischen Bild und Buch plaziert. Im Herbst des gleichen Jahres führt Braque - soweit ich sehe erstmals die Musik in Gestalt von Instrumenten und Notenblatt "Musikinstrumente" (9) in den künstlerischen Dialog mit Picasso ein. Auch dies wäre in der Geschichte des Stillebens nichts eigentlich Neues, originell allenfalls durch die Bildlösung, die Art, wie hier Klarinette oder Flöte. Mandoline, Notenbla[e]tt[er] und Schifferklavier einander zugeordnet sind. So will es jedenfalls beim ersten Hinsehen scheinen. Und doch gibt es mehr Bemerkenswertes: nicht nur die traditionell unübliche instrumentale Komposition, sondern und vor allem die Tatsache, daß Braque zumindest einen Teil der von ihm immer wieder in seinen Stilleben plazierten Instrumente selbst spielen konnte und spielte, zum Beispiel die Geige. In seiner Heimatstadt Le Havre hatte er bei Gaston Dufy (dem Bruder des Malers Raoul Dufy) Flötenunterricht genommen. Zwei Atelierfotos aus den Jahren 1911 und 1912 (10) haben ihn beim Spielen des Schifferklaviers bzw. Akkordeons festgehalten. Das erste der beiden Fotos zeigt darüber hinaus weitere Instrumente, unter ihnen, an der Wand hängend, eine Mandoline und eine Geige. Auch ist verbürgt, daß Braque, wenn er in Paris abends nicht in eine Boxhalle oder einen Tanzsaal ging, in seinem Atelier Ziehharmonika zu spielen pflegte (11). Er kannte also weitgehend den Klang des Instrumentariums seiner Stilleben, und dies sollte nicht unberücksichtigt bleiben angesichts der Dominanz der Musik in seinem Oeuvre. Daß es Braque primär um das Instrument, möglicherweise seinen Klang zu tun war, und weniger um die Verbindung von Instrument und Instrumentalist wie Picasso, kann ein Vergleich andeuten. Während Braque, in einer Reihe weiterer musikalischer Stilleben, in "Gitarre und Obstschale" (12) im Winter/Frühjahr 1909 eine Gitarre oder Mandoline, Notenblätter und Obstschale immer noch - möchte ich fast sagen - zu einem Stilleben komponiert, führt Picasso im Frühjahr 1909 das Musikinstrument als ein gespieltes in seine Bilderwelt ein. Wobei es ihm bei "Frau mit Mandoline" (13) zugleich um eine (hier auch karikaturistische) Analogie von Instrument und menschlicher Figur (hier des Korpus des Instruments und des Gesichts der Spielerin) geht. Bei der erotischen Einfärbung nicht nur mancher Akte ließe sich sogar fragen, ob sich Picasso des doppeldeutigen jouer de la mandoline bewußt war, nach Auskunft eines Argot-Lexikons: se dit d'une femme qui se masturbe (14). Von derart anthropomorphen Musikinstrumenten (15) kann im Werk Braques die Rede nicht sein, wie zum Beispiel seine "Frau mit Mandoline" (16) leicht einsichtig macht, bei der es eindeutig nicht um Analogie, sondern um Synthese von Instrumentalist und Instrument geht (17). Im künstlerischen Dialog Braque/Pisasso wäre dies zugleich die Antwort des ersteren auf die Aufnahme der Musik auch in die Bilderwelt des zweiten. Eine Annahme, die sich ferner mit dem Hinweis stützen ließe, daß die Verbindung von Instrument und Instrumentalist sich in der Folgezeit bei Braque eher selten vorfindet. Während das Bücherregal hinter der "Frau mit Mandoline" die bereits angesprochene stärkere Bindung des Malers Picasso an die Literatur bestätigt, hat Braque seine Malerei, ebenfalls 1909, in "Geige und Palette" (18) eindeutig mit der Musik verbunden, wobei das zwischen Geige und Palette plazierte Notenblatt, wenn auch noch keine Melodie, so jetzt doch Noten erkennen läßt. Wie bei Picasso der Literatur, ist bei Braque die Malerei im Aufbau des Bildes der Musik übergeordnet. Allerdings hängt die Palette im Hintergrund an einem Nagel - beiseite gelegtes Mittel zum Zweck der malerischen Thematisierung von Musik. Braques realistisch, mit logischem Schatten gemalter Nagel, den er 1910 in "Violine mit Krug" (19) noch einmal verwendet, diesmal jedoch, ohne seine Palette daran zu hängen, ist von Daniel-Henry Kahnweiler als erste jener realen Einzelheiten benannt worden, in deren Kontext es zu Collage und papier collé gekommen sei (20). Dieser lange gültigen Auffassung der Vorwegnahme jener eigentlichen Einführung des "Realen" ist neuerdings, vor allem von William Rubin, widersprochen worden, der in Braques Trompe-l'oeil-Nagel (21) allenfalls eine[n] subtile[n] künstlerische[n] Gag sehen will, der auf die Prämissen des kubistischen Stils lenke, indem er anzeige, was genau dieser eben nicht sei (22). Ich kann mich dem nicht anschließen, möchte es vielmehr mit Kahnweilers Einschätzung halten, denn der Schritt von diesem realistisch gemalten Nagel, an den Braque seine Palette hängt, zu jenen konkreten Nadeln, mit denen kurze Zeit später er und Picasso auf ihren Arbeiten Papiere festheften, probeweise, aber gelegentlich auch, ohne sie anschließend zu kleben, was heißt: ohne die Nadeln zu entfernen, dieser Schritt scheint mir handwerklich ähnlich naheliegend und folgerichtig wie der Schritt von der gemalten Holzimitation zur Verwendung einer Holzmaserung vortäuschenden Tapete (ich werde dies noch mit Beispielen belegen), wie der Schritt von der Schablonenschrift zur freien Einschrift von Buchstaben, Wortfragmenten oder Wörtern in das Bild und schließlich zum Einkleben kleinerer oder größerer Zeitungsausschnitte. Einschriften Einen frühen Beleg freier Einschrift und ein zugleich hintersinniges Zitat bietet Braques "Feuerzeug und Zeitung" (23) noch aus dem Herbst 1909. Hintersinnig dann, wenn man die eingeschriebenen Buchstaben GIL B zu Gil Blas ergänzt, was einerseits einen berühmten französischen Schelmenroman, die "Histoire de Gil Blas de Santillane" aus dem 18. Jahrhundert anspielen könnte, andererseits aber und konkret eine Zeitung beim Namen nennt, in der am 14. November 1908 und noch einmal im Frühjahr 1909 Louis Vauxcelles (vulgo: Louis Mayer) den Kubisten (wie schon zwei Jahre zuvor den Fauvisten) zu ihrem Schimpfnamen verhalf, und zwar anläßlich einer Ausstellung in der Galerie Kahnweiler (für deren Katalog Apollinaire das Vorwort schrieb). Herr Braque, lasen es 1908 die Leser des "Gil Blas", ist ein wagemutiger junger Mann. Das irreführende Beispiel Picassos und Derains hat ihn kühn gemacht. Vielleicht beschäftigen ihn auch der Stil Cezannes und die Erinnerung an die statische Kunst der Ägypter über die Maßen. Er konstruiert entsetzlich vereinfachte, deformierte, metallische Männchen. Er verachtet die Kraft, er reduziert alles, Landschaft, Figur, Häuser, auf geometrische Schemata, auf Kuben (24). Ob bereits auf diese erste Kritik oder erst auf die kubistischen Absonderlichkeiten, die Vauxcelles ihm anläßlich seiner Beteiligung an der Frühjahrs- und zugleich 25. Ausstellung des "Salon des Artistes Indépendants" testierte, Braque jedenfalls reagiert mit diesem Bild, das durch seine Nachbarschaft von Feuerzeug und Zeitung in einer zweiten Leseschicht alles andere als das harmlose Stilleben ist, als das es zunächst scheinen will. Alvin Martin hat 1982 anläßlich der Ausstellung der papiers collés Braques im Centre Georges Pompidou noch eine weitere Beziehung, nämlich zu Cezannes "Le père de l'artiste", herstellen wollen, einem Bild, auf dem Louis-August Cezanne in die Lektüre der Zeitschrift "L'Evénement" vertieft sei, in der er - so der Kommentar Martins - un article d'Emile Zola hätte lesen sollen (25). Wie immer dem sei, spätestens seit Braques "Feuerzeug und Zeitung" ist also bei dem Zitat von Zeitungs- oder Zeitschriftentiteln mit Kontext zu rechnen, ist zum Beispiel zu fragen, ob es sich bei den Fraktur-Kürzeln für L'Indépendant ausschließlich um den in 'realer' Typographie wiedergegebenen Titel einer lokalen Zeitung handelt und damit um eine versteckte Ortsangabe der Bilder "Kerzenleuchter" (26) und "Stilleben mit Fächer" (27) von Braque bzw. Picasso, die beide im August 1911 in Ceret entstanden. Oder ob sich in dem Wortkürzel nicht zusätzlich eine Anspielung verbirgt auf den "Salon des Indépendants", an dem sich Picasso und Braque 1911 zwar nicht beteiligten, dessen Kubistensaal jedoch einigen Tumult auslöste, in dessen Folge auch ihre Namen wiederholt genannt wurden, u.a. als Begründer einer Braque/Pisasso-Schule (28). Eine ähnliche Bewandtnis könnte es mit dem eingeklebten "Figaro"-Zitat haben in Picassos "Vieux-Marc-Flasche, Glas, Gitarre und Zeitung" (29), das sich auch als eine Revanche in Richtung einer Zeitung lesen ließe, die sich wiederholt speziell über Picasso mokiert hatte, u.a. am 3. Oktober 1911 über einen ersten Picasso-Anbeter (30); die ferner in zahlreichen Karikaturen Abel Faivres, die von Apollinaire gesammelt wurden, die Kubisten nicht nur aufspießte, sondern ihnen auch verbal verbrecherische Extravaganzen vorwarf und ernsthaft vorschlug, sie mit dem großen, vortrefflichen Schweigen zu strafen, das sie verabscheuen, das sie verdienen und das zugleich Ausdruck religiöser Ehrfurcht und kluger Verachtung ist (31). Ich will dabei nicht unterschlagen, daß für mich damit die Lektüre dieser Collage noch nicht abgeschlossen ist, denn auffällig datiert das "Figaro"-Fragment mit dem 28. Mai 1883, einem Datum, das relativ nah an Picassos Geburtsdatum (1881) liegt. Das könnte eine Anspielung auf die monarchistisch-reaktionäre Haltung des "Figaro" nach 1870 sein, das ließe sich aber ebenso erklären mit dem Reiz, den das vergilbte Zeitungspapier für das Auge des Malers hatte. Und um hier noch einmal auf das "Stilleben mit Fächer" bzw. Braques "Kerzenleuchter" zurückzukommen: auch in ihrem Fall ist die Lesart, daß das Titelzitat einer Lokalzeitung eine versteckte Ortsangabe sei, nicht eindeutig, denn Zeitungen des gleichen Titels erschienen auch anderen Orts. In anderen Bildern haben wir es dagegen zweifelsfrei mit Ortsangaben zu tun. So ist in "Der Aficionado" (32) links oben Nimes zu lesen, also jener Ort, den Picasso von Sorgues aus eines Stierkampfes wegen besuchte. Das einschablonisierte Wortkürzel OL für olé und der im unteren Bildteil eingeschriebene Torero erklären selbst demjenigen die Zusammenhänge, der mit dem Bildtitel [Aficionado = Liebhaber, Kunstfreund] nichts anzufangen wüßte. In Braques "Obstschale, Flasche und Glas" (33) vom August 1912 ist das Kürzel ORG fraglos zu Sorgues zu komplettieren. Fast vollständig erscheint Le Havre, die Heimatstadt Braques, auf mehreren Arbeiten Picassos, u.a. 1912 auf "Violine, Weingläser, Pfeife und Anker" (34), einem Bild, dessen zahlreiche Einschriften ich noch nicht zur Gänze habe lesen können. Das MA JO im oberen Drittel spielt fraglos "Ma Jolie" an, das rechts unter Avre zu lesende FLEUR deutet aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Ort Honfleurs, auf dessen ungefährer Höhe 1843 Leopoldine, die Lieblingstochter Victor Hugos, bei einem Bootsunglück in der Seine ertrank. Diese Assoziation liegt deshalb nahe, weil Picasso - wie das ein Jahr zuvor entstandene "Palette, Pinsel und Buch von Victor Hugo" (35) belegt - mit Werk und Biographie Hugos vertrauter war. Andere Anspielungen dieses Bildes müssen - für mich jedenfalls - vorläufig noch offen bleiben. Waren es im Anfang vorwiegend Instrumente und Instrumentalisten, mit denen vor allem Braque die Musik ins Bild setzte, begegnen im Übergang der Jahre 1911/1912 jetzt auch konkretere Zitate, musikalische Genres wie zum Beispiel ein Valse in "Klarinette und Rumflasche auf einem Kamin" (36) oder gar die Ankündigung eines [GRAN]D BAL auf "Le Portugais (Der Emigrant)" (37), einem Bild, das noch weitere, für mich bisher unlesbare Buchstaben und Zahlen aufweist und - wie wir wissen - die Erinnerung Braques an einen portugiesischen Musiker festhält, dem er in einer Bar in Marseille begegnet war und den er wohl auch bewundert hatte (38). Noch konkreter werden die Bezüge in Picassos "Frau mit Zither oder [!. RD.] Gitarre" (39), einem Bild, dessen Einschrift Ma Jolie den Refrain eines damals populären Chansons anklingen läßt: O Manon ma jolie! / Mon coeur te dit bonjour. Die wie ein Bildtitel plazierte Einschrift war zugleich die Widmung für Eva Gouel, die Picasso im November 1911 wahrscheinlich kennen und lieben lernte und die bis zu ihrem frühen Tod am 14. Dezember 1915 seine Lebensgefährtin blieb. Wie vielfältig und in welchen Formen sich diese Liebe im damaligen Werk Picassos niedergeschlagen hat, ist nicht mein Thema. Mich interessiert hier ausschließlich, daß sich dieses Chanson-Zitat wie ein roter Faden durch die Arbeiten der nächsten Jahre zieht, deutlich lesbar auf dem "Tisch des Architekten" (40), eher versteckt in der schon gezeigten Erinnerung an eine gemeinsame Reise nach Le Havre, "Violine, Weingläser, Pfeife und Anker". Eine "Violine" (41) getitelte Arbeit von Mai/Juni 1912 redet schließlich Klartext, indem das eingemalte Notenblatt Jolie überschrieben und Eva gewidmet ist. Noch direkter wird einem weiblichen Akt des folgenden Winters (41a) J'aime Eva eingeschrieben, und noch im Frühjahr 1914 wird ein Stilleben aus "Pfeife, Glas, Kreuz-As, Bass-Flasche, Gitarre und Würfel" (42) vor einem Notenblatt mit der schablonierten Inschrift MA JOLIE arrangiert. In all diesen Beispielen bleibt auffällig, daß zu einer Zeit, in der Braque und Picasso längst gedruckte Buchstaben, Textfragmente, ja sogar Notenblätter in ihre papiers collés einfügen, die Eva Gouel 'gewidmeten' Arbeiten stets frei oder mit der Schablone geschriebene Buchstaben enthalten und damit - wenn auch in reduzierter Form - handschriftlich zugeeignet sind. Wie sich im Falle Picassos ein Chansonzitat als musikalische [= Melodie], literarische [= Text] und private [= Eva Gouel] Anspielung über Jahre verfolgen läßt, was das Prinzip der Anspielung nicht zum Doppelsinn, wie Jürgen Wissmann schrieb (43), sondern zu einem Dreifachsinn erweitert - Wie sich im Falle Picassos ein Chanson-Zitat, so zieht sich im Falle Braques seit dem Winter 1911/1912 der Name Bach durch das Werk, womit, wie eine erste Schabloneneinschrift signalisiert, stets Johann Sebastian gemeint ist. Einsetzend mit einer "Hommage an J.S.Bach" (44), wechselt Braque allerdings nach "Violine und Klarinette" (45) im Herbst 1912 das Medium, taucht der Name Bach jetzt nurmehr in seinen papiers collés auf: "Nature morte Bach" (46), "Papier collé (Nature morte Bach)" (47), "Bal" (48) und "Aria de Bach" (49). Verbunden wird dieser Medienwechsel nicht nur durch den zitierten Namen, sondern auch durch den Wechsel von gemalter Holzimitation zu Holzmaserung vortäuschender Tapete, der so etwas wie eine optische Klammer bildet und zugleich die Frage nach der Bedeutung stellt. Spielen gemalte Holzimitation und Holzmaserung vortäuschende Tapete die Holztäfelung eines Konzertsaals an bzw. - eher und naheliegender - das gemaserte Holz von Saiteninstrumenten, die ja auf jeder der hier einschlägigen Arbeiten ausschließlich anzutreffen sind? Zumindest beim zuletzt genannten papier collé scheint zugleich ein konkretes Musikstück gemeint, doch muß auch hier vorerst bei einer größeren Menge Bachscher Ariae offen bleiben, welche Aria Braque konkret im Ohr hatte. Die Vermutung der Literatur, es könne sich hier um die "Aria variata a-moll" (BWV 989) handeln (50), ist spekulativ, denn in ihrem Fall handelt es sich um ein Klavierstück, was dem von Braque eingezeichneten Saiteninstrument, einer Gitarre, widerspräche, es sei denn, man bezöge das eingeklebte schwarze Tonpapier ein wenig gewaltsam auf Klavier bzw. Konzertflügel (ein wenig gewaltsam schon deshalb, weil das Klavier in der Ikonographie Braques nicht, wohl aber bei Picasso begegnet). Ein Spiel mit Namen und Wörtern Picassos "Stilleben auf einem Klavier" (51) aus dem Frühjahr 1912 interessiert mich allerdings weniger des Instruments, vielmehr der links oben einschablonierten Buchstaben CORT wegen. Hinter ihnen verbirgt sich zweifelsfrei der französische Pianist und Dirigenten Alfred (Denis) Cortot. Ob Picasso auch auf den Wagner-Dirigenten angespielt, denn ausgerechnet gegen den Wagner-Kult richtete sich die Bach-Renaissance zu Beginn des Jahrhunderts, in deren Kontext sicherlich auch die Bach-Allusionen Braques gerechnet werden müssen, - Ob Picasso auch den Wagner-Dirigenten angespielt, muß offenbleiben; mit Sicherheit aber zielt, was auch der Titel des Bildes nahelegt, das Cortot-Zitat auf den hervorragenden Interpreten der Klavierwerke Chopins, Schumanns, Debussys sowie zeitgenössischer Komponisten (52) und damit eine Instrumental- und Klangwelt, der Braque alsbald in einer "Violine" (53) getitelten Arbeit mit dem tschechischen Geigenvirtuosen Jan Kubelik und dem Komponisten Mozart antwortete. Offensichtlich vertrauten in dieser Dialogsequenz beide Künstler darauf, daß ein dem Instrument zugeschriebener Solistenname dem Bild eine zusätzliche Dimension gewinnen könne. Das ist von Seiten der Rezipienten auch durchaus bestätigt worden, wie zum Beispiel ein Blick in den Katalog einer Braque-Retrospektive von 1982 belegen soll, in dem Francoise Claverie zur Komposition des Braqueschen Bildes festhält: Die durch rosafarbene Beleuchtung besonders hervorgehobenen Namen ziehen sofort den Blick auf sich und suggerieren unweigerlich eine Welt der Klänge, deren Rhythmus sich durch die Verkettung der Bildpläne mitteilt und einen Tonraum schafft, in dem die Geige in synkopischen Brechungen widerhallt (54) Braques Kubelik-Zitat interessiert mich aber noch aus einem weiteren Grunde. Rubin sieht hier nämlich eine Korrespondenz mit einer anderen Arbeit Picassos: Zu den 'Markennamen', die Picasso für seine Beschriftungen fragmentierte, gehörte der Brühwürfel KUB, ein Wort mit Doppelsinn, das er zum ersten Mal Anfang 1912 in dem Bild "Bouillon KUB" einsetzte. Braque, der Musikinstrumente in die Ikonographie des Kubismus eingeführt hatte, reagierte in seiner Weise charakteristisch und konterte das Wörtchen KUB mit dem Namen eines Musikers, des Violinisten Jan Kubelik, in dem kurze Zeit später gemalten Bild "Geige" [...]. Es mag sein - fährt Rubin dann fort - daß Picasso die Herausforderung annahm und seinerseits die ersten vier Buchstaben des Namens eines anderen Musikers, des Pianisten Alfred Cortot, mit Schablone in sein "Stilleben auf einem Klavier" hineinmalte. (55). Ich zitiere diese Annahmen Rubins aus zwei Gründen. Zunächst, um zu zeigen, wie genau bei der Rekonstruktion des Braque-Picassoschen Künstlerdialogs auf die Entstehungsdaten der Arbeiten zu achten ist, worauf übrigens auch Rubin hingewiesen hat. Halte ich mich in diesem Fall an die gesicherten Daten, hat Picasso sein "Stilleben auf dem Klavier" bereits im Sommer 1911 in Ceret begonnen, im Frühjahr 1912 in Paris beendet. Braques "Violine" ist dagegen im Frühjahr 1912 in Paris gemalt worden. Es müßte also überprüft werden, wann genau die Cortot-Anspielung in Picassos "Stilleben [...]" eingeschrieben wurde. Ich möchte mich nach dem Stand der Dinge für die von mir vorgetragene Abfolge entscheiden, also Braques Kubelik-Anspielung als Antwort auf Picassos Cortot-Verweis lesen. Was nicht ausschließt, daß Braque zusätzlich an ein Konzert gedacht hat, daß Kubelik ein Jahr zuvor im Rahmen einer Ingres-Ausstellung in der Galerie George Petit gegeben hatte und das von Andre Salmon im "Paris-Journal" als Galavorstellung angekündigt worden war: Vor den hier ausgestellten Werken des berühmten Malers wird Kubelik auf Ingres' Violine jene Stücke spielen, die der Maler besonders mochte. (56). Ich habe bisher nicht ermitteln können, ob sich unter den Lieblingsstücken Ingres' auch eines von Mozart befand, halte es aber - davon unabhängig - für durchaus wahrscheinlich, daß sich Braque angesichts der Cortot-Einschrift Picassos an dieses Konzert erinnerte, was seinem Bild, worauf bereits Mark Roskill (57) hingewiesen hat, eingedenk der Häufigkeit, mit der er selbst dieses Steckenpferd ritt, eine zusätzliche Bedeutungsdimension eröffnet. Denn violon d'ingres bedeutet auch Steckenpferd, Liebhaberei und ist in diesem Sinne wahrscheinlich schon damals geläufig gewesen. Im übrigen wäre ein derart selbstironisches Spiel bei Braque kein Einzelfall, hat er doch zum Beispiel in seinen papiers collés mehrfach auf sich als Geigenmaler verwiesen. Wobei er einmal sogar den Gegenstand ganz ausspart, ihn vielmehr nur wörtlich [= VIOLON] in Verbindung mit angedeuteten Notenlinien anspielt. Diese Aussparung des Gegenstandes in "Glas, Flasche und Zeitung" (58) könnte im Dialog mit Picasso zugleich als Antwort verstanden werden auf die Obsession, mit der sich inzwischen auch der Freund der Geige bemächtigt hatte. Zunächst im Dialog und Braque zitierend, zum Beispiel im Frühjahr/Sommer 1912 in "Violine und Weintrauben" (59), dann im Kontext der papiers collés und der Reliefbilder auch innovativ, zum Beispiel in der "Komposition mit Violine" (60) oder in einem entsprechenden Modell "Violine" (61), zwei offensichtlich miteinander verwandten Arbeiten. Ich muß hier noch eine Kleinigkeit zu Braques "Glas, Flasche und Zeitung" nachtragen. Das links oben eincollagierte Fragment italienischer Provenienz ist aus der Zeitschrift "Lacerba", die 1913 von dem futuristischen Schriftsteller, Künstler und Kritiker Ardengo Soffici in Florenz begründet und mit herausgegeben wurde. Soffici, der von 1900 bis 1907 in Paris gelebt hatte und danach immer wieder einmal dorthin zurückkehrte, mit Apollinaire befreundet war und in den Ateliers von Picasso aber auch Braque ein- und ausging, vermittelte vor allem durch die Zeitschrift "Lacerba" die Ideen der Kubisten nach Italien und ist, neben Severini, zugleich der Vermittler zwischen italienischem Futurismus und französischen Kubismus, so daß das bei Braque versteckte, bei Picasso ("Pfeife, Weinglas, Zeitung, Gitarre und Vieux-Marc-Flasche" (62)) offensichtliche "Lacerba"-Zitat eine einfache Erklärung findet. Soffici sah übrigens den Unterschied der beiden Künstler deutlich, wenn er von der stummen Gewalt Picassos im Gegensatz zu Braques musikalischer Ruhe sprach, die leicht und zugleich von gemessener Strenge sei. Tristan Tzara hat 1931 in "Die Collage oder das Sprichwort in der Malerei" die Kubisten mitbedacht, als er schrieb, daß eine aus einer Zeitung ausgeschnittene Form, die in eine Zeichnung integriert werde, etwas Allgemeingültiges beinhalte, ein Stück täglicher, geläufiger Wirklichkeit im Vergleich zu einer anderen. geistvoll konstruierten Wirklichkeit (63). Nicht bedacht hat Tzara dabei, daß diese von den Kubisten zitierten alltäglichen Wirklichkeiten in Dialog und Hintersinn durchaus geistvoll konstruierte, ästhetische Wirklichkeiten werden konnten. Bereits 1913 hatte Apollinaire in einem Vortrag in der Berliner Galerie "Der Sturm" für das Einführen von Buchstaben, Wortfragmenten in die Bilder der Kubisten festgehalten: Buchstaben von Schildern und anderen Inschriften seien deshalb aufgenommen worden, weil in der modernen Stadt die Inschrift, das Schild, die Reklame eine sehr wichtige künstlerische Rolle spielen und geeignet sind, in das Kunstwerk aufgenommen zu werden. (64). Das führt mich zu Rubins Kommentar zurück, den ich zweitens zitiert habe, um zu belegen, wie problematisch der Versuch werden kann, kubistische Bildinschriften in einem angenommenen Dialog zu lesen. Ich bezweifle nämlich, daß Braques KUBELICK [sic, R.D.] auf Picassos KUB antwortet, selbst wenn dies von der Datierung her möglich sein sollte. [Picassos "Bouillon KUB" (65) wird mit Anfang 1912, Braques "Violine" mit Frühjahr 1912 datiert.] Und ich begründe diesen Zweifel einmal von der Sache her. Denn erstens wurde die überraschende Verbindung eines Brühwürfels und eines Geigers erst auf dem Operationstisch der Surrealisten möglich, wobei ich an das durch Max Ernst populär gewordene Diktum Lautréamonts (66) denke, nach dem sich Schönheit aus der zufälligen Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch ergebe. Hinzu kommt zweitens, daß Picasso mindestens noch einmal in ein Bild KUB eingeschrieben hat, nämlich im Juli 1912 in eine "Landschaft mit Plakaten" (67), die man in Rubins Lesart dann als Antwort Picassos auf Braques KUBELICK-Einschrift verstehen müßte. Nur - Picassos KUB / KUB zielt von Anfang an in eine ganz andere Richtung, aus der sich dann auch der von Rubin zurecht vermutete Doppelsinn erhellt. Fündig wird der Interessierte in einer Anekdote, die ich nach Cabanne zitiere: Das Leben war angenehm, angenehmer als in Collioure, wo Matisse, ein entschiedener Gegner der Kubisten, plötzlich eine böse Überraschung erlebte, die ihm seine Ferien gründlich verdarb. In riesigen Lettern stand eines Tages auf allen Mauern das Wort KUB. Das genügte, wie Apollinaire behauptete, um den Maler in Weißglut zu bringen, und er konnte sich auch nicht beruhigen, als man ihm erklärte, daß der Reklameagent, der auf diese originelle Weise für die Produkte einer Nährmittelfirma mit der Schutzmarke KUB warb, ganz gewiß kein Parteigänger Picassos war. Apollinaire verarbeitete diese kleine Geschichte, phantasievoll aufgebauscht, zu einer Glosse für den "Mercure" (68). Was Picasso hier also gereizt hatte, war der Doppelsinn von KUB: cube / Cubisme, den er in seinem Bild auch in der Konturierung eines Würfels anspielt. Was weiterfragen läßt, ob die in der kubistischen Ikonographie gelegentlich anzutreffenden Würfel über ihre eigentliche Bedeutung hinaus, die sie traditioneller Weise neben Spielkarte und -brett haben, auch in diese Richtung weisen. Ferner wäre festzuhalten, daß die Verbindung von Markenname und Preis (= KUB 10, ausgesprochen: kyb diz) akustisch Cubisme, also den Kubismus anklingen läßt, wie überhaupt die Einschriften - von links oben nach rechts unten gelesen - fast ein Gedicht scheinen: LeonAtelierwirklichkeit und Café/Barmilieu Wenn über die Collagen Picassos und Braques gesprochen wird, erwartet man zurecht zwei Werke, gleichsam die Inkunabeln dieser künstlerischen Progression: Picassos "Stilleben mit Rohrstuhlgeflecht" (69) aus dem Mai 1912 und Braques erstes papier collé "Obstschale mit Glas" (70) aus dem September des gleichen Jahres. Picassos heute im Musée Picasso aufgebahrtes "Stilleben [...]" kam seinerzeit, wie Helene Seckel keinesfalls übertreibt, einer Sensation gleich, weil hier erstmals und ohne daß der Maler noch irgend ein Zeitgenosse die Konsequenzen für die Kunst des 20. Jahrhunderts auch nur ahnen konnten, ein Gegenstand nicht mehr nur möglichst realistisch, sondern konkret als er selbst wiedergegeben wurde (71). Wobei die Pointe darin besteht, daß dieser konkrete Gegenstand, die ins Bild eingebrachte Wachstuchdecke, ihrerseits in schönster Trompe-l'oeil-Tradition eine Realie: das Rohrstuhlgeflecht eines Stuhles vortäuscht, die zitierte Realität sich also wiederum illusionistisch aufhebt, oder aber als eine Wirklichkeit, die nur Schein ist, zitiert. Ich will dies hier nicht weiter verfolgen, stattdessen auf zwei weitere Bildelemente verweisen, die für mein Thema von allgemeinerer Bedeutung sind. Das ist zum einen das Bildelement Pfeife, das in typisch kubistischer Manier von mehreren Seiten zugleich gesehen ist: Pfeifenkopf von oben, durch einen weißen Kreis markiert, der Pfeifenstiel perspektivisch. Dabei interessiert mich diese Manier weniger als die Tatsache, daß die Pfeife ein immer wieder auf den Arbeiten Picassos und Braques anzutreffendes, gemaltes oder aus Papier eincollagiertes Requisit ist (72a) und zugleich ein (Selbst)Zitat. Denn beide Künstler waren, wie Fotos belegen (72b), wenigstens zeitweilig Pfeifenraucher, so daß die Pfeife auch als eines der vielen, in den damaligen Arbeiten anzutreffenden Atelierrequisiten zu lesen ist. Von den banalen und doch sehr persönlichen Objekten, die [ihrem] Kubismus als Motive dienten, spricht in diesem Zusammenhang Rubin, und er fährt fort, daß sich beide Künstler eine Atelierwelt konstituiert hätten, in die nach und nach eine dem mehr geselligen Milieu der Cafés [und der Bars, wie ich ergänze] entlehnte Ikonographie eingeflossen sei. Die Künstler kultivierten eine vertraute Beziehung zu diesen Gegenständen, die allesamt zu berühren, zu benutzen und ebenso zu betrachten sein mußten. (73). Das zweite Bildelement, auf das ich hinweisen möchte, ist das eingeschriebene JOU. Waren es in den bisherigen Beispielen, und sie stehen für den ganzen Zeitraum von 1909 bis 1914, konkrete Zeitungen, die aus zumeist auffindbaren Gründen als fragmentierte Titel zitiert wurden, tritt ihnen spätestens seit 1912 auch das Kürzel für Journal an die Seite, und zwar in unterschiedlicher Fragmentierung als JOU, LE JO, URNAL, RNAL, LE JOUR und NAL, wobei Picasso diese Kürzel meist einklebt, Braque sie hingegen eher einschreibt. Dabei öffnen unterschiedliche Schreibweise bzw. Schreibung ein größeres Bedeutungsfeld, das im Falle des "Stillebens [...]" zum Beispiel das Spielen (JOU[er]) wie das Spielzeug (JOU[jou]) mit einschließt. Von einer dem mehr geselligen Milieu der Cafés [und der Bars] entlehnten Ikonographie ließe sich bei Braques erstem papier collé "Obstschale mit Glas" sprechen. Die oben rechts und links unten eingeschriebenen Wörter BAR und ALE signalisieren dies deutlich. Daß es sich im Falle von ALE nicht um ein aufzufüllendes Kürzel, sondern um englisches Bier handelt, ist schon deshalb naheliegend, weil Braque und auch Picasso in andere hier einschlägige Arbeiten relativ häufig BASS eingeschrieben haben, was nun wiederum nicht auf Musik, sondern ein von ihnen offensichtlich bevorzugtes englisches Lagerbier verweist (74). Ein etwa gleichzeitig entstandenes Bild "Obstschale" (75), das von der Komposition her und wegen des Bildelements Weintraube Braques erstem papier collé durchaus vergleichbar ist, macht dabei leicht einsichtig, wie ein Sprachelement die ganze Bildaussage bestimmen kann. Barmilieu dort (Bar, ALE), Cafemilieu bzw. Stilleben mit Zeitung hier, wenn man das Wortkürzel zu QUOTIDEN DU MIDI ergänzt. (Übrigens gilt, was ich schon bei den Bach zitierenden Arbeiten anmerkte, auch hier: der Wechsel von mit dem Pinsel imitierten Holz ("Obstschale") zu eingeklebter, Holzmaserung vortäuschender Tapete ("Obstschale mit Glas")). Collage versus papier collé Es ist in der zuständigen Literatur diskutiert worden, ob man nicht und wie man Collage und papier collé begrifflich trennen müsse und könne (76). Ich muß diese Diskussion hier aufgreifen, weil ich selbst, einer üblichen Laxheit folgend, die Gegenstände meiner heutigen Vorlesung als (kubistische) Collagen angekündigt habe. Rubin hat in der genannten Diskussion vorgeschlagen, im Falle des Picassoschen "Stillebens [...]" von Collage zu sprechen, da bei ihm ein im Hinblick [...] auf das Medium und auf den Stil [...] fremdes Objekt [nämlich eine Wachstuchdecke] ins Bild eingefügt sei. Und Rubin möchte die Bezeichnung Collage auch dort noch gelten lassen, wo das Motiv [...] aus einem anderen Erfahrungskontext oder einer anderen Bewußtseinsebene stamme, wie bei den Surrealisten, zum Beispiel bei Max Ernst. Charakteristikum der Collage wäre demnach das Systemfremde, auch Subversive mindestens eines ihrer Elemente. Dieses sei - so immer noch Rubin - bei den papiers collés nicht gegeben, ganz abgesehen davon, daß sie ausschließlich aus Papier seien. Bei ihnen harmoniere die Zeichensprache des gesamten Bildes mit dem aufgeklebten Material, was schon daraus erhelle, daß jedes Element in seinem [= Braques, R.D.] ersten papier collé bereits im einen oder anderen Kontext seines bisherigen Werkes [ich ergänze: in gemalter Form] vorhanden war. (77). So plausibel sie zunächst klingt, sehr weit führt auch diese Unterscheidung nicht. Zunächst möchte ich, meiner Freundin, der Leiterin der Grafischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart folgend, erwidern: ob materialentsprechend oder materialfremd - gebäbbt isch gebäbbt [geklebt ist geklebt]. Darüber hinaus kann ich gerade im Falle der Rohrgeflechtimitation und der Holzmaserimitation in ihrer Trompe-l'oeil-Tradition diese Unterscheidung nicht nachvollziehen, geht es doch in beiden Fällen darum, eine real nicht gegebene Wirklichkeit vorzutäuschen und diese Täuschung zugleich sichtbar zu machen. Will man überhaupt unterscheiden, könnte man zwischen Collage allgemein und Papiercollage (papier collé) speziell unterscheiden, wobei erstere dadurch definiert ist, daß sie heterogenes, letztere dadurch, daß sie identisches Material zusammenfügt, was dann Ergänzungen und Differenzierungen in Richtung Stoffcollage oder Plakatcollage (und Dé-Collage) etc. zur Folge haben würde. Aber auch das wäre nur eine materiale, nicht aber eine inhaltliche Unterscheidung. Und die würde die Rechnung erneut aufmachen. Zum Beispiel, wenn ich Picassos papier collé "Gitarre, Notenblatt und Glas" (78) in Anschlag bringe. Denn hier sind auf einer Tapete so heterogene Dinge wie ein gedrucktes Notenblatt, ein gezeichnetes Glas, farbige Papiere, faux bois, sowie ein Zeitungsauschnitt versammelt, was ja schon 'systemsprengend' genug wäre oder gattungssprengend, wenn man dies lieber will, gesellt sich hier doch der Zeichnung [= der bildenden Kunst] die Musik und das gedruckte Wort, allenfalls verbunden durch die Klammer -bild: Zeichenbild. Notenbild, Schriftbild. Und das nicht ohne Widersprüche. Denn das Notenbild ist aus einem Lied mit Klavierbegleitung, das Instrument aber ist in seiner angedeuteten Kontur eine Gitarre. Das Lied scheint ein eher sentimentales Chanson und entspräche keineswegs der Bataille, von der die Überschrift des Leitartikels spricht. LA BATAILLE S'EST ENGAGE kontrastiert mit der Blümchentapete undsofort. Vielleicht kommt man am weitesten, wenn man dieses als eine wechselseitige Verfremdung, ein wechselseitiges Fremdmachen der Elemente versteht, ein Prozeß, der zugleich ihre Realität, die sie ja, jedes für sich, behaupten, in Frage stellt, was auch der Mehrdeutigkeit des Materials entsprechen würde. Das Material stellt der Künstler zusammen, die sich in seiner Komposition ergebenden Widersprüche muß der Betrachter auflösen, der in diesem konkreten Fall zum Beispiel entscheiden muß, was für eine Bataille denn in/mit Picassos papier collé eröffnet ist: die zwischen den heterogenen Materialien der Vorlagen, die der Balkankriege, auf die sich die Schlagzeile ursprünglich bezog, die Bataille zwischen Künstlern und Kritikern des Kubismus oder eine private Auseinandersetzung der beiden Künstlerfreunde auf dem Felde der papiers collés. Aber dies ist nur eine Möglichkeit, die Picasso findet, eingeklebte Zeitungsausschnitte ästhetisch produktiv zu machen. In einem anderen Fall (79) sind zwei Zeitungsausschnitte einmal einem farbigen Papier als Farbe zugeordnet, zum anderen ironisieren sie in ihrer Drehung um 90 Grad, also mit ihren jetzt vertikal laufenden Zeilen die Holzmaserung vortäuschenden Papiere Braques, ein Effekt, der sich schon auf der Collage "Vieux-Marc-Flasche, Glas, Gitarre und Zeitung" studieren ließ. Natürlich experimentiert Picasso auch mit faux bois und um 90 Grad gedrehten Zeitungsausschnitten neben- und miteinander. In einem weiteren Fall, den zwei zusammengehörenden papiers collés "Flasche, Tasse und Zeitung" (80) bzw. "Tisch mit Flasche, Weinglas und Zeitung" (81), deuten einmal die beiden eingeklebten, partiell lesbaren Zeitungsausschnitte spielerisch das Flaschenetikett an (82). Zum anderen kontrastieren sie durch das lesbare LITRE D'OR bzw. UN COUP DE THE (aus: UN COUP DE THEATRE) dem eingezeichneten Gegenstand und leisten damit das, was ich das Fremdmachen der Elemente genannt habe. Daß bei derart intensivem künstlerischem Umgang mit Zeitungen die Zeitung schließlich auch als Bildträger herhalten mußte, liegt auf der Hand. In diesem Zusammenhang wird gerne auf den "Männerkopf mit Schnurrbart" (83) verwiesen, doch scheint mir wegen der Verbindung von aufgeklebtem Papier und Kohlezeichnung die "Flasche auf einem Tisch" (84), zu der es ein von mir hier nicht berücksichtigtes Gegenstück gibt (85), wesentlich interessanter. Wobei mich die rechts neben dem Flaschenhals zwar auf dem Kopf stehenden, aber deutlich lesbaren ECHOS besonders interessieren. Denn sie lassen sich nicht nur - ihrem Erscheinungsort entsprechend - als Lokales, als Lokalnachrichten lesen, sondern auch - eben durch ihr Aufdemkopfstehen - als Echo, Widerhall, Schatten- oder Geisterbild und, was echo noch alles bedeuten kann, verstehen. Was sich sogar auf die Kohlezeichnung beziehen ließe derart, daß man den Flaschenumriß als Geisterbild, Widerschein einer Flasche deutet. Hier verfährt der 'musikalische' Braque ein halbes Jahr später sogar noch eindeutiger, wenn er in "Klarinette" (86) den Zeitungstitel "L'ECHO D'ATHENES" zu L'ECHO D'A fragmentiert und damit ein musikalisches Sprachspiel findet: L'ECHO D'A = LE CODA (87). Diese Arbeit Braques ist für mich zugleich ein weiterer Beleg dafür, daß es Braque bei seinem ikonographischen Instrumentarium auch um den Klang ging, auf den in diesem Fall nicht nur der Ton a und sein Echo verweisen, sondern auch die Klarinette, für die zwar am gebräuchlichsten die B-Stimmung ist, die aber auch in C- und A-Stimmung hergestellt wird. Während Braques "Violine" (88) mit dem eingeschriebenen Wortkürzel LODIE ein weiteres Mal sein Interesse an der klanglichen Dimension seiner Arbeiten betont, hatte Picasso mit MA JOLIE zwar ein Chanson zitiert, in seine papiers collés - und dabei viel radikaler als Braque - sogar größere Teile von Notenblättern eingefügt, zum Beispiel in "Notenblatt und Gitarre" (89), oder noch radikaler in einer Arbeit des Musée Picasso, "Geige [?, RD.] mit Notenblatt" (90), die man praktisch vom Blatt spielen könnte - Während - sagte ich - Braque immer wieder die klangliche Dimension seiner Arbeiten betont, hat Picasso zwar Musikstücke regelrecht und konkret zitiert, aber es ging ihm dabei weniger um die fremde Kunstart als solche, vielmehr entweder um die Erstellung eines persönlichen Bezugs bei MA JOLIE oder um die grafische Qualität eines Notenblatts, seine materiale Eignung für das Experiment papier collé. Berücksichtigt man nämlich die wenigen Wörter auf dem eingeklebten Notenblatt, beginnt die zweite Zeile mit morts. Und ich halte es für keine Spitzfindigkeit, hier nature morte [= Stilleben] zu assoziieren. Anders als im Falle Braques habe ich für Picasso auch keine Fotobelege finden können, die ihn mit der Musik und ihren Instrumenten in Verbindung gebracht hätten mit der Ausnahme eines Fotos (91) aus dem Winter/Frühjahr 1912/1913, das eine Gitarre zeigt, die vor der abstrakten Zeichnung eines Spielers aufgehängt ist, der diese Gitarre mit aus Zeitungsstreifen angedeuteten Armen spielt. Auf dem davor stehenden Tisch ist ein übliches Stilleben angerichtet. Diese in ihrer Radikalität wahrscheinlich einmalige Atelier-Installation Picassos führt weiter zu einer Frage, die heute geklärt zu sein scheint. Über lange Zeit hatte die Forschung angenommen, daß die zahlreichen Papierkonstruktionen und Reliefbilder von Musikinstrumenten in Picassos Oeuvre eine Folge oder Weiterentwicklung der papiers collés seien. Neuerdings (92) gilt als wahrscheinlich, daß den papiers collés Modelle vorausgingen, daß zum Beispiel Picassos Maquette "Gitarre" (93) erst zu den Gitarren der papiers collés führte, was - den damaligen künstlerischen Problemen Picassos und Braques durchaus entsprechend - eine Übertragung aus der Dreidimensionalität in die Zweidimensionalität des Bildes wäre. Eines von mehreren hier aufschlußreichen Atelierfotos zeigt diese Maquette im Kontext mit sieben einschlägigen papiers collés (94). Allerdings ist auch hier der Erfinder wiederum Braque, der aber seinen Papier- und Pappekonstruktionen offensichtlich nur Modellfunktion und keinen eigenen künstlerischen Wert beimaß, so daß sich nichts erhalten hat. Ein einziges Foto (95) einer späteren Papierkonstruktion aus dem Jahre 1914 hat nur geringen argumentativen Wert, sei aber wegen der Pointe gezeigt, die darin besteht, daß auf der Flasche deutlich die Buchstaben bzw. das Wort ART zu lesen sind. Nachträge Ich schließe ein wenig unsystematisch noch drei Dias an, die ich in den bisherigen Zusammenhängen nicht untergebracht habe. Im ersten Fall handelt es um ein Braquesches "Stilleben auf einem Tisch" (96) von Anfang 1914. Auf ihm versammelt und in die Zeichnung integriert sind die schon bekannten Elemente des Holzmaserung vortäuschenden Papiers, der Zeitung undsoweiter. Zentral aber und gewissermaßen als Etikett eingefügt ist mit Gillette der Hinweis auf Rasierklinge und damit auf ein Werkzeug, das Braque und Picasso neben der Schere zum Schneiden und Konturieren von Pappe und Papier verwandten. Die Gegenstände der Stilleben bieten damit ein Spektrum, das von ihren traditionellen Inhalten über die Gegenstände des täglichen Gebrauchs bis zum einfachen Handwerkszeug reicht. Oder anders gesagt: Die Arbeiten Braques und Picassos in den Jahren 1908 bis 1914 thematisieren zunehmend nicht mehr nur Gegenstände der Malerei, deren erneute ästhetische Diskussion den Beginn ihres Dialogs bestimmte, sondern der künstlerische Dialog bezieht zunehmend die Welt der Ateliers, des Alltags - und dies zunehmend in konkreten Zitaten - mit ein. Wenn in der Literatur geklagt wird, daß die erhaltene Korrespondenz der beiden Künstler so wenig gedanklichen Austausch enthalte (97), wäre dem zu entgegnen, daß in diesen Jahren einmal das Gespräch, der mündliche Austausch eine zentrale Rolle spielte, daß zum anderen die erhaltenen Arbeiten, in ihrer richtigen Chronologie gelesen, durchaus so etwas wie bildgewordenes Gespräch und Ateliertagebuch in eins sind. So wie mehrere Arbeiten Picassos den Besuch von Stierkämpfen als eines seiner Freizeitvergnügen thematisieren, verweist Braques "Schachbrett (Tivoli-Cinema)" (98) auf den gemeinsamen Spaß am Kino, wobei das Programmangebot Cowboy Millionaire auch als Hinweis auf die Vorliebe gelesen werden kann, die Braque und Picasso vor allem für Wildwestgeschichten entwickelten. Picasso hat nicht nur 1911 ein Bild mit dem Titel "Buffalo Bill" (99) gemalt, er hat auch nachweislich größere Mengen hier einschlägiger Heftchenliteratur verschlungen. Sie scheint damals seinen Interessen mehr als anspruchsvolle Literatur entgegengekommen zu sein, auch wenn sein "Palette, Pinsel und Buch von Victor Hugo", sein Apollinaire- (100) oder schon vorher das Gertrude-Stein-Portrait, seine Illustrationen zu Max Jacob oder "Weinglas und Kreuz-As" (101) anderes andeuten wollen. Der hier zitierte Prospekt für Jacobs ersten Gedichtband "La Cote" besagt noch nicht, daß Picasso ihn gründlich gelesen hat, wie denn auch seine nachweislichen Lektüren und seine eigene, dann allerdings bemerkenswerte Schriftstellerei erst später datieren. Wenn ich eingangs sagte, und damit komme ich auch zum Ende meines Überblicks, daß im Gegensatz zu Braques Bindung an die Musik, Picasso sich eher auf Literatur bezogen habe, ist dies kein Widerspruch, sondern will nur besagen, daß für Picasso die Verbindung von bildender Kunst und Literatur als Schwesterkünste naheliegender war als eine Verbindung von bildender Kunst und Musik. Um letztere war es dem auch konkret musizierenden Braque zu tun. Dabei ist bezeichnend, daß er sich von Picassos bildnerischen Hinweisen auf Literatur nie anregen ließ; daß der genialische Picasso dagegen, sobald er die Fruchtbarkeit der Verbindung Kunst und Musik für die Malerei und später die papiers collés erkannt hatte, sich diese Verbindung sofort ästhetisch-formal zu eigen machte, stets auf der Suche nach neuen Artikulationsmöglichkeiten und besessen von seiner Obsession des Findens. Der eigentliche Erfinder war Braque, der mit den Mitteln des Handwerkers (er war gelernter Anstreicher) die Malerei in Reichweite [seiner] persönlichen Begabungen (102) brachte, und entsprechend auch nie versuchte, zu malen, was er wollte, sondern stets nur - wie er selbst betont hat - was er konnte. Zwei Braque-Zitate führen mich zu einigen abschließenden Überlegungen. Das erste: In jener Zeit malte ich häufig Musikinstrumente: erstens hatte ich viele um mich, und zweitens paßte ihre Form und ihr Volumen in den Bereich des Stillebens, wie ich es mir vorstellte. Ich war bereits auf dem Wege zum greifbaren, oder wie ich zu sagen pflegte, handgreiflichen Raum, und das Musikinstrument hatte als Objekt die Besonderheit, daß es durch Berührung belebt werden konnte. (103). Das zweite: Wenn das Mysterium fehlt, fehlt auch die Poesie, die Eigenschaft also, die ich vor allem in der Kunst schätze [...]. Für mich geht es dabei um Harmonie, um Übereinstimmung, um Rhythmus - und für meine eigene Arbeit am allerwichtigsten - um Metamorphose [...]. Es ist mir gleichgültig, ob eine Form für verschiedene Menschen verschiedene Dinge darstellt oder vieles gleichzeitig oder gar nichts; sie mag vielleicht ein Zufall sein oder eine 'Melodie', wie ich sie manchmal gern meiner Komposition einverleibe. (104). Darf man, und die Zitate legen dies nahe, im Falle Braques davon sprechen, daß seine Bilder nicht mehr nur Musik (in welcher Form auch immer) abbilden bzw. darstellen, sondern versuchen, Musik auch als Klang zu fassen und sich damit in Richtung der Musik zu entgrenzen, ist dies in Richtung der Literatur so nicht gegeben. Konzeptuelle Wirklichkeit Die in den kubistischen Bildern/Collagen zunächst begegnende Schrift scheint auf den ersten Blick sprachlich außer Funktion gesetzt, sollte zunächst wohl, der Funktion optisch wahrnehmbar gemachter Sprache entzogen, weniger gelesen, vielmehr als Teil des Bildganzen innerhalb dieses Bildganzen gesehen werden. Dennoch spielen diese plötzlich ins Bild geratenen, als Sprache entfunktionalisierten Schriftzeichen, wenn auch rudimentär, 'zitierend' etwas Außerbildliches, nämlich die Sprache an. Rosenblum und Wissmann haben dies aus der Mehrdeutigkeit des Materials erklärt. Nicht umsonst seien die eingesetzten Buchstaben und Worte zumeist als Fragmente gegeben, die zwar kubistische Formen verifizieren, aber der Ergänzung zur Vollständigkeit durch die Kombination des Betrachters bedürfen. (105). Zunehmend erweist dabei die Lektüre kubistischer Bilder und vor allem Collagen die eingefügten Sprachpartikel aber als komplexer, gewinnen Kontext und semantischer Gehalt des Fragments für das Verständnis des Bildganzen an Bedeutung. Das hatte Tzara im Ansatz durchaus erkannt, als er Picassos papiers collés Sprichwörter in der Malerei nannte und ihnen testierte, sie bedeuteten etwas Ähnliches wie die Verwendung von Gemeinplätzen und fertigen Sätzen in der Dichtung. (106). [Wobei ein Vergleich mit den holländischen Sprichwortbildern nicht uninteressant scheint, die allerdings den zugrunde liegenden Text völlig ins Bild übersetzen - und dennoch 'gelesen' werden müssen]. Den radikalen Schritt der Schwitterschen MERZkunst vollziehen Braque und Picasso (noch) nicht, der mit Schwitters Worten darin besteht, Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammenzukleben, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt, wie umgekehrt Bilder und Zeichnungen zu kleben, auf denen Sätze gelesen werden sollen (107). Die von Apollinaire 1918 in "L'Esprit nouveau et les Poetes" erstmals prognostizierte Synthese der modernen Künste, das MERZunternehmen Schwitters' seit 1919 standen noch nicht zur Diskussion. Noch ging es ausschließlich um eine Neubestimmung der Malerei und dabei auch um radikale Neuerungen. Mit denen aber waren Braque und Picasso bereits auf dem Weg, die Grenzen der Kunstarten zu öffnen, mit den papiers collés in ein Feld vorzustoßen auf dem das Schwittersche vice versa erst möglich wurde, auf dem heute bildende Künstler und Autoren miteinander konkurrieren (ich verweise unter anderem auf den Schritt des tschechischen Autors Jiri Kolár zum heute ausschließlich bekannten Collageur). Bei dieser in der Entwicklung ihrer Bilderwelt vorbereiteten Erfindung und nicht nur spielerischen Erprobung der Möglichkeiten der papiers collés kam aber neben der Musik und Literatur noch ein Drittes zum Tragen, daß Wissmann die Integration der Realität ins Kunstwerk genannt hat (108). Wissmann und andere Autoren sind dabei, wie inzwischen zurecht eingewandt wurde, von einer noch zu naiven Vorstellung vom "Realen", von der "Wiedereinführung der Realität" (109) ausgegangen. Doch kommt zum Beispiel auch Rubin über eine Andeutung der Komplexität, mit der von den Kubisten Realität eingeführt und ästhetisch integriert wird, nicht hinaus. Wie komplex sich die Arbeiten Braques und Picassos den unterschiedlichen Realitäten öffnen, habe ich versucht, anhand einiger Bilder und Collagen anzudeuten, aber auch, daß man hier sinnvollerweise von heterogenen Realitätsebenen oder Realitätsstufen sprechen sollte oder sogar, wie Apollinaire, von konzeptueller Wirklichkeit (110). Trompe-l'oeil ist nicht zitierte Realität, eine Rasierklinge und eine Aria von Bach unterscheiden sich wie Zweck und Sinn, Atelierwirklichkeit ist eine andere Wirklichkeit als die fiktive Welt Hugos oder die Klangwelt der Musik, ein Chanson klingt und funktioniert anders als der violon d'Ingres' undsofort. Diese unterschiedlichen, auch heterogenen Wirklichkeiten aber in die ästhetische Realität ihrer Arbeiten integriert, zur Realität des Bildes synthetisiert zu haben, scheint mir neben den Grenzerkundungen in Richtung Musik und Literatur die dritte zentrale Leistung der kubistischen Collagen und Bilder Braques und Picassos zu sein. [Vortrag u.d.T. "Grenzerkundungen. Versuch über Realität, Musikalität und Poesie kubistischer Collagen" 20.6.1991 im Museumsverein/Städtisches Museum Mönchengladbach; überarbeitet u.d.T. "Collagen lesen - Musik, Schrift und Realität im Dialog Braques und Picassos" 10.6.1994 Stuttgarter Galerieverein; überarbeitet u.d.T. "Collagen lesen" 14.11.1996 Kansai Universität, Osaka [Übersetzung Morosawa Iwao]]. [Anmerkungen werden nachgestellt] |
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