Die Literaturwissenschaft und die digitale Literatur

von Christine Böhler (www.lichtzeile.at)


An der Universität Kassel fand die erste deutschsprachige Konferenz zur digitalen Literatur statt. Die Tagungsbeiträge sind nun im Netz unter www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/programm.htm
nachzulesen.

Schon vor der Eröffnung der Konferenz hatten die Teilnehmer jedes einzelne Wort des Titels in Frage gestellt. "Ästhetik digitaler Literatur", da läßt sich tatsächlich über jeden Begriff und mindestens so gut über die Kombination streiten.

Relative Einigkeit herrschte bei den Teilnehmern darüber, daß digitale Literatur nicht gedruckt werden könne und daß das literaturwissenschaftliche Instrumentarium für die Untersuchung der Literatur in den neuen Medien nicht ausreichend sei. Kontinuitäten würden überbetont werden, und die Wissenschaft gehe zuwenig auf den Bruch ein, den der Computer für die Literatur bedeute.

Die Konferenz war bestimmt von dieser Suche der Literatur- und Medienwissenschaften nach Abgrenzungen und neuen Definitionen. Florian Cramer von der Freien Universität Berlin kritisierte die Verwendung von Begriffen wie Hypertext, Multimedia und Cyberspace in der Poetik der neuen Medien, die einen "Trümmerhaufen im Diskurs" hinterlassen habe. Dazu habe die Fehllektüre des Computers als Medium mit beigetragen, der Computer sei wesentlich mehr, nämlich Sender und Empfänger, Leser und Schreiber zugleich.

Die Referate der Wissenschafter und Autoren aus Deutschland und der Schweiz zeigten die Breite des Spektrums der "digitalen Literatur", von Permutationen zu Hypertext, zu Browserkunst und elektronischen Spielen.

Hypertext verfügt als ältestes Genre über die breiteste wissenschaftliche Auseinandersetzung, die Aufregung um die unendlichen Möglichkeiten von Hypertext ist in der internationalen Aufmerksamkeit inzwischen allerdings ziemlich verklungen. Über die CD-ROM "Elex", die Hypertextumsetzung von Andreas Okopenkos "Lexikonroman" sprach Friedrich W. Block (Kassel), fand aber in der elektronischen Version gegenüber dem gedruckten Original aus dem Jahr 1970 keinen wesentlichen Fortschritt. Als eine der wenigen österreichischen Hypertextproduktionen, hergestellt von Libraries of the Mind mit Musik von Karlheinz Essl, ist "Elex" vorerst nur für die Literaturwissenschaft von Interesse.

Den literarischen Traditionen verbunden blieben die meisten Referate, behandelt wurden die Unterschiede zwischen Fußnoten und Links, die Parallelen von Hypertext und Emblemen und der Zettelkasten und seine Verwandtschaft zu Datenbanken. Der Schweizer Beat Suter gab einen Überblick über Merkmale der digitalen Literatur, und stellte seine "Edition Cyberfiction" <www.cyberfiction.ch> vor, die als erster deutschsprachiger Verlag Hyperfiction auf CD-ROM herausgibt.

Über den Briefroman und Parallelen zum Telefongespräch und zum elektronischen Chat sprach Uwe Wirth und brachte damit die Romantiker ins Spiel. Am zweiten Tag nahmen daher Novalis, Jean Paul und Brentano an den regen Diskussionen der Konferenz teil. So sehr die Konferenz der Suche nach dem Bruch, und dem Neuen verschrieben war, so sehr ging es doch um Fortsetzungen und Wiederholungen literarischer Traditionen. Christiane Heibach belegte ihre Thesen zum Wesen der Netzliteratur vor allem mit Beispielen aus der "Browser Kunst", das sind Kunstwerke, die über die
Verwertung von Daten im Internet funktionieren, und damit für eine Selbstreflexivität des Mediums stehen. Da war am Tag der Romantiker natürlich der Einwand nicht weit, daß ja auch die Romantiker schon literarisch über ihre Literatur reflektiert hätten.

Es ist nicht gelungen, und war wohl auch nicht Absicht des Forums "Ästhetik digitaler Literatur", mit den alten Werten zu brechen, denn wenn auch der Computer wesentliche Veränderungen bringt, so scheint es doch sinnvoller, die Kulturgeschichte zu nutzen und neue Begriffe hinzuzufügen, als alle
alten Werte über Bord zu werfen. Im nächsten Jahr geht die Suche weiter, diesmal an der Universität Erfurt, gemeinsam mit Kassel Initiator der Konferenz.

Joseph Wallmannsberger, österreichischer Linguist an der Universität Kassel, warnte in seiner sehr kakanischen Theorieperformance "Die vier M´s" (Musik, Melange, Modernismus, Mathematik) davor, Algorithmen als Texte zu akzeptieren, denn dies sei ein trojanisches Geschenk für die Literaturwissenschaft. Und stellte lakonisch fest: "Die Linguistik ist ja fein heraus".