"poetry-chat"



von Friedrich W. Block


<TIAMAT> weil wir beim poetischen angelangt waren: ich hab' zur poesie im internet nachgeschaut. die 2.550.000 ergebnisse bei "google" erschienen mir allerdings doch etwas unübersichtlich. also war ich mit dem stichwort beim "assoziationsblaster" und bei "günthers genialem gedichtgenerator" und gebe zwei gedichte zum besten. im "assoziationsblaster" schreibt <catmagirl> über "poesie": "Die Herzen aller Menschen werden von Poesie erfüllt, / Die schlechten Gedanken werden in einen Schleier der Harmonie gehüllt, / Beim Lesen werden sie vertrieben. / Das bringt den Leser dazu, sich in die Poesie zu verlieben. // Was ist Poesie? Was ist ein Gedicht? / Nur zusammengereimte Wörter, mehr nicht? / Ein Gedicht ist mehr als zwei oder drei Ferse, die sich reimen. / Gedichte werden von Dichtern geschrieben, die darin ihre Gefühle beschreiben. // :-) Ich hoffe das Gedicht kann sich sehen lassen. Ich kann meine eigene Leistung immer nicht beurteilen." die nutzer haben den text mit +2 beurteilt. und der "gedichtgenerator" schreibt mit der eingabe "poesie": "Das Suchen der Poesien // Poesien wollen machen. / Sie machen verzweifelt und würdig. / Sie wachsen gram und behämmert. // Verzweifelt! würdig Fritz. // Aber was wachsen, was suchen? / Die Anzeigen... / Wachsende Poesien! / Verzweifelt machen die Poesien, / verzweifelt und behämmert." das war das gedicht nummer 1332905. aber ich frage euch: was hat das mit dem poetischen zu tun?

<@CHILLES> deine frage ist vielleicht schon eine antwort: wo die kunst ihrer etablierten theorie voraus ist, und das gilt mitunter für ihre beschäftigung mit den sogenannten neuen medien, da werden viele konzepte wieder zu fragen: ‚sprache' ‚text', ‚schreiben', ‚lesen', ‚autor', ‚leser', ‚qualität' etc. das poetische? - das wäre schon die produktive irritation, die dazu ermuntert, sich über solche begriffe neu zu verständigen. das interessante an deinen internetbeispielen sind ja weniger diese dürftigen gedichte, als mehr ihre schreibumgebungen. der "assoziationsblaster" beispielsweise überzeugt, weil er das schreiben, lesen, suchen, verknüpfen, wie es im internet üblich ist, verdichtet, überspitzt und veranschaulicht. digitales schreiben ist flüssig, prozessorientiert und richtet sich auf die eigenen materialen bedingungen. außerdem greift es in die babylonische sprachverwirrung ein, in das neben- und miteinander der natürlichen und alltäglichen sprachen, der fachsprachen, der maschinellen wie auch der biologischen sprachen. diese werden verarbeitet, kontrastiert, gemischt, transponiert, kurz: poetisiert.

<APFEL Q> poesie über das buch hinaus - und auch zu ihm zurück, nicht wahr? der rekurs auf material und medien erzeugt ja eine performative drift. da geht es nicht mehr allein um das wohlfeile setzen von buchstaben und wörtern, sondern um inszenierungen und aufführungen von sprache, um kunstwerke in bewegung. neben die erfahrung der stillen und einsamen lektüre, des schnellen und schlauen blicks durch die schriftoberfläche tritt das faszinierte starren und horchen, nicht nur auf die multimedialen spektakel oder die digitalen codes, auch auf die menschliche stimme, die körperliche artikulation im vortrag und auf datenträgern. so lässt sich erneut erfahren, dass die poesie alle künste enthält, bildkunst, musik, darstellendes spiel, rhetorik, mathematik. wie würde von daher das gedicht aussehen, das für die buchseite und nur für diese gemacht ist? und erfahren wir das buch nicht neu, beständig als speicher, flexibel zu handhaben, sinnlich zu erleben?

<YUKIKO_CAM> digitale kultur bedeutet doch ständigen übergang, fließende umgebung, nicht ausgerichtet auf repräsentation, sondern auf präsentation. technologien des klonens zeigen, dass die kopie das original der wirklichkeit ist. texte nähern sich wieder ihrer bedeutung des webens: sie sind zu bearbeitende kopien anderer texte und verwischen oder überschreiten dabei die grenzen zwischen buchstabe, bild und klang. nomadische geräte kehren den uralten hang zur sesshaftigkeit um. das poetische ich ist an vielen orten zugleich, als hybrider körper mit verdrahteten und biologischen ausstattungen. poesie heute heißt transit, verstreuung, entropie statt kontemplation. die schnittstelle des poetischen wird erweitert: nebeneinander statt gegeneinander, assemblage statt substitution, polysemie statt monotonie, wiederverwertung statt copyright-hysterie.

<MATRIX> das poetische ich ist ein denkkörper, der sich in einem kontinuierlichen zustand subtiler bedeutungsveränderungen befindet. mich interessiert das verstehen des verstehens, und die performative natur des computers ermöglicht, die konstruktion von bedeutung vorzuführen. ich baue an der technopoetischen maschine, in der man die ständig variierenden verbindungen von medienelementen genetisch erproben kann. um zu erforschen, wie in einer veränderbaren umgebung bedeutung spontan entsteht. geschriebener oder gesprochener text wird mit vielen anderen medienelementen kombiniert: eine interart-poesie, die einen sehr erweiterten sprachbegriff verwendet. jede computerbasierte erforschung von bedeutung ändert die gestalt des denkkörpers.

<VIRUS> wie die literatur ist der computer von grund auf sprachlich codiert. literatur und computer treffen sich, wo alphabet und digitaler code, umgangs- und programmiersprachen aufeinander stoßen. formale sprachen sind nur eine untermenge der sprache mit relativ einfacher syntax und semantik - und: sie sind von menschen, nicht von maschinen gemacht. wir sollten unsere schöpferische subjektivität in die automatisierten systeme einschreiben, anstatt naiv zu versuchen, einem automaten seine eigene kreative agenda zu verschaffen. ein gedicht ist eine formale instruktion. betrachten wir formale instruktionen also wie gedichte. haben computerviren mitunter nicht eine umwerfend poetische gestalt? potentielle literatur: alle schriftlich codierte poesie hilft, den computer, seine sprachliche und textuelle verfasstheit zu verstehen. umgekehrt schärfen computer und digitales schreiben den blick auf literatur und ihre sprachlichen kontrollinstanzen.

<gH[^0^]ST> video, holografie oder das web haben die möglichkeiten und die reichweite des poetischen erweitert. gegenwärtig, in einer welt der klone, chimären und transgenen organismen, ist es an der zeit, sich über neue richtungen einer poesie in vivo gedanken zu machen. transgene poesie zum beispiel: synthetisieren von DNA entsprechend entwickelter codes, um wörter und sätze mittels kombinationen von aminosäuren zu schreiben. einfügen dieser wörter und sätze in die genome lebender organismen, die diese dann an ihre nachkommen weitergeben, kombinationen mit wörtern anderer organismen erzeugend. durch mutation, den natürlichen ausschuss und austausch von DNA-material entstehen neue wörter und sätze. dieses transpoem mittels DNA-sequenzierung zurückübersetzen.

<GUEST#10> genetik? digitaler code? ist poesie nicht darstellung, reflexion und veränderung der umfassenden autopoiesis, der sie sich verdankt? wenn jeder sinn aus unterscheidungen entsteht, als setzungen, die auf voraussetzungen folgen, codiert mit positiv- und negativwerten - schön/hässlich, gut/böse, wahr/falsch, signifikant/signifikat, betont/unbetont, 1/0 -, dann wäre das poetische das medium, in dem diese schöpferische mechanik simuliert und beobachtet wird. poesie der poesie. wie erklärte diotima dem sokrates: du weißt doch, dass poiesis eigentlich alles schaffen bezeichnet, und dass das schaffen etwas gar vielfältiges ist. denn allem demjenigen, was die ursache dafür ist, dass irgend etwas aus dem nichtsein in das sein übergeht, legen wir eine schaffende tätigkeit bei, so dass eigentlich auch die werke sämtlicher künste dichtungen und ihre meister dichter heißen müssten. - im medium des poetischen bringt sich die kunst auf alle möglichen weisen selbst hervor und entspricht damit der allgemeinen selbstschöpfung von körper, rede, geist. poesie zeigt, wie es ist.

<TIAMAT> ich danke euch für eure lobworte zum poetischen. nun denn: verarbeiten, performieren, erforschen, verstehen, instruieren, simulieren - darüber sollten wir doch eins nicht vergessen: die lust am text. will er poetisch sein, muss der text mir beweisen, dass er mich begehrt. schließlich redet diotima über die liebe. und eros sei, so sagt sie, ein mittleres, mittler, medium. erotisch, poetoerotisch ist also das dazwischen, die zäsur, die unterbrechung wie die haut, die zwischen zwei kleidungsstücken glänzt (der hose und der bluse). das glänzen selbst verführt, oder besser noch: die inszenierung des to be or not to be. der text der lust, das ist das glückliche babel.



Anmerkung
Dieser "poetry-chat" verarbeitet schriftliche Gedanken u.a. von Roland Barthes, Giselle Beiguelman, Friedrich W. Block, Florian Cramer, Loss Pequeño Glazier, Eduardo Kac, Platon, Friedrich Schlegel, Bill Seaman und Adrian Ward.