Literatur in der Informationsgesellschaft
Vortrag Universität Bremen, 20.10.98


Friedrich W. Block




Einleitung

Literatur in der Informationsgesellschaft lautet das Thema. Ein etwas großspuriger Titel. Noch dazu von jemandem, der sich allenfalls fragmentarische Einblicke, ganz gewiß aber nicht einen Durchblick zu dieser Problematik zugesteht. Aber es gibt einen konkreten Anlaß für diesen Titel, nämlich eine Initiative des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie unter dem Stichwort „Forum Info 2000". An der zugehörigen Arbeitsgruppe 8 „Kunst und Kultur in der Informationsgesellschaft" war ich beteiligt und habe von dort eine Reihe von Fragen mitgebracht, die von den Teilnehmern diskutiert worden sind. Ich möchte sie hiermit weitertragen. Sie lauten im einzelnen:

1. Wie sehen Sie die Entwicklung von Kunst und Kultur in einer künftigen Informationsgesellschaft? Welche Rolle können Kunst/Kultur bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft spielen?

2. Stellen sich Akzeptanzprobleme? Insbesondere Probleme aus allgemein kulturpolitischer Sicht bzw. der Sicht der Produzenten und Adressaten (Publikum)? Wie kann diesen Problemen begegnet werden?

3. Stellen sich neue Anforderungen für die Aus- und Weiterbildung? Welche?

4. Können neue Entwicklungen in Kunst und Kultur die allgemeine Innovationsförderung Technik, Wirtschaft usw. unterstützen?

5. Eröffnen die digitalen Medientechnologien neue Möglichkeiten bei der Vermittlung von Kunst und Kultur? Welche?

6. Werden durch neue Entwicklungen vorhandene Kunst- und Kultursparten verdrängt oder treten die neuen Angebote neben die bisherigen? Sind wechselseitige Ergänzungen und Möglichkeiten des Zusammenwirkens denkbar?

7. Entstehen durch neue Medientechnologien (Internet, Multimedia, Interaktive Medien etc.) neue künstlerische Ausdrucksformen? Welche?

8. Können Sie für die von Ihnen vertretenen Kultur- und Kunstsparten ein besonders gelungenes Beispiel für die Nutzung der neuen Technologien nennen?

Sicherlich können sich etliche von Ihnen kompetenter als ich zu diesen Fragen äußern. Ich möchte sie nur nutzen, um in ein gemeinsames Gespräch während des Seminars zu treten. Dazu werde ich die Fragen erst einmal literaturspezifisch umformulieren. Und ich werde mich auf literaturinterne und ästhetische Aspekte des Fragekatalogs konzentrieren und die Aspekte Akzeptanzprobleme, Innovationsförderung und Aus- und Weitbildung hier ausklammern. Es bleiben also fünf Fragen:

1. Wie sehen Sie die Entwicklung von Literatur in einer künftigen Informationsgesellschaft? Welche Rolle kann Literatur bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft spielen?

2. Eröffnen die digitalen Medientechnologien neue Möglichkeiten bei der Vermittlung von Literatur? Welche?

3. Werden durch neue Entwicklungen vorhandene Kunst- und Kultursparten verdrängt oder treten die neuen Angebote neben die bisherigen?

4. Entstehen durch neue Medientechnologien (Internet, Multimedia, Interaktive Medien etc.) neue künstlerische Ausdrucksformen? Welche?

5. Können Sie für die Literatur ein besonders gelungenes Beispiel für die Nutzung der neuen Technologien nennen?


1. Wie sehen Sie die Entwicklung von Literatur in einer künftigen Informationsgesellschaft? Welche Rolle kann Literatur bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft spielen?

Das Problem geht wie immer schon bei den Begrifflichkeiten los. Informationsgesellschaft - was soll das heißen? Eine Gesellschaft, die von Information und der Technologie ihrer Erzeugung geprägt ist? Und Information? „a difference that makes a difference", heißt es bei Bateson. Doch Differenz an sich gibt es nicht, auch nicht Information an sich, sie ereignet sich abhängig von der Organisation eines sinnproduzierenden Systems, sei es nun die Kognition des Menschen oder die Kommunikation der Gesellschaft. Die Information der Informationsgesellschaft ist also immer von Gesellschaft geprägt. Und Gesellschaft, als organisierte Kommunikation, ist und bleibt wechselseitig abhängig vom psychosozialen Erleben und Handeln der Menschen.

Diese Grundvoraussetzung sollte man im Auge behalten, wenn man über die Zukunft der Gesellschaft unter dem Einfluß der sich rasant entwickelnden Medientechnologie und dabei vor allem über folgende Problematik nachdenkt: Diese Entwicklung hat längst die Ausmaße eines eigenen, komplexen Systems, das sich selbst organisiert. Es sorgt in ständig wachsendem Maße dafür, daß bei Kommunikation „keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfinden kann" (so Luhmann 1996, 11). Die gigantische Freisetzung von Kommunikationsmöglichkeiten verschärft zugleich die Kurzlebigkeit und Unverbindlichkeit von Information und das Risiko des Verstehens bzw. Mißverstehens.

Auch das Literatursystem, seine medialen Strukturen, Institutionen, Akteure und Produktionen sind davon natürlich betroffen. Die Entwicklung der Literatur im Informationszeitalter zeichnet sich zunächst einmal daran ab, daß sie sich mit ihrer Abhängigkeit vom Mediensystem beschäftigt. Davon ist der literarische Diskurs der 90er geprägt. Die Feuilletons haben zur Buchmesse auch in diesem Jahr besonders wieder über technologische Neuerungen berichtet. Für die Lesekultur reflektiert die Stiftung Lesen bereits seit 1988 den Wandel des Lesens unter dem Einfluß der elektronischen Medien.

Ein konkreteres Beispiel: die Entwicklung des deutschen Literaturstreits. Zunächst, also seit der Veröffentlichung von Christa Wolfs „Was bleibt" im Frühjahr 1990, war das eine vor allem politische Diskussion um die Einschätzung der DDR-Kultur und sogenannte Gesinnungsästhetik (Bohrer/Greiner). Bald aber geht es um die Funktion der über Zeitung und Fernsehen vermittelten Literaturkritik, und es geht um den Einfluß der Medien selbst. Die Aufregung über „Ein weites Feld" von Grass, die die literarische Öffentlichkeit über Monate in Atem hielt, ist vor allem eine Aufregung über den Verriß von Marcel Reich-Ranicki. Genauer: sie richtet sich auf den geschmacklosen Appetizer des Spiegeltitels, eine digital erzeugte Bildmontage vom buchzerreißenden Literaturkritiker. Und sie richtet sich auf dessen wenig später in der Fernsehshow des ‘literarischen Quartetts’ mit Goebbelsvergleichen wirkungsvoll inszenierten Ausfälle gegen Grass. Im Urteil einer englischen Zeitung: „Reich’s Kristallnacht". Die breite Diskussion zu diesem Medienspektakel, an der sich Kritiker, Autoren und Wissenschaftler beteiligen, zeigt schon einmal, was Literatur in der Informationsgesellschaft leisten kann: eine mehr oder weniger differenzierte öffentliche Reflexion, die sie exemplarisch an sich selbst als Betroffene vollzieht.

Dazu gehört aber natürlich auch, daß der Gebrauch der neuen Medien Gegenstand der literarischen Produktion selbst wird. Vor diesem Hintergrund entdeckt man die Langsamkeit wie bei Nadolny, die Technik des Sehens wie in Reto Hännys „Helldunkel" oder die des Hörens wie in Marcel Beyers „Flughunde". Man zeigt den Menschen als Marionette der Apparate und der Unterhaltungsindustrie wie in den Theaterstücken Elfriede Jelineks oder läßt die Welt von einem weiblichen Computer auseinandernehmen wie in „Galaxas Hochzeit" von Stefan Schütz. Auch die lyrische Sprache ist zusehens vom Mediendiskurs geprägt, als Beispiel für postmodernes Sprechen ein Gedicht von Durs Grünbein:

 

Falten und Fallen

Leute mit besseren Nerven als jedes Tier, flüchtiger, unbewußter
Waren sie’s endlich gewohnt, den Tag zu zerlegen. Die Pizza
Aus Stunden aßen sie häppchenweise, meist kühl, und nebenbei
Hörten sie plappernd CDs oder fönten das Meerschwein,
Schrieben noch Briefe und gingen am Bildschirm auf Virusjagd.
Zwischen Stapeln Papier auf dem Schreibtisch, Verträgen, Kopien,
Baute der Origami-Kranich sein Nest, eine raschelnde Falle.
Jeder Tag brachte, am Abend berechnet, ein anderes Diagramm
Fraktaler Gelassenheit, später im traumlosen Kurzschlaf gelöscht.
Sah man genauer hin, mit der aus Filmen bekannten Engelsgeduld,
Waren es Farben, verteilt wie die Hoch- und Tiefdruckzonen
Über Europas Kartentisch. Sie glichen dem Fell des Geparden
Im Säugetier-Lexikon, den Blättern fixierten Graphitstaubs
Mit Fingerabdrücken in der Kartei für Gewalttäter. Deutlich
War diese Spur von Vergessen in allen Hirnen, Falten, Gesichtern,
Flüsternd, bis auf den Lippen das dünne Apfelhäutchen zerriß.
(Grünbein 1994, 97).

 

Ein Diagramm fraktaler Gelassenheit, der Indifferenz und des Nichtssagenden an den multimedialen Oberflächen, freilich in kunstvoller Metrik - ein ironischer Bruch? Oder nicht vielleicht doch mehr ein Gedicht im sicheren Hafen der Tradition der Moderne, das seine Zeitgeistigkeit nur in der Wortwahl vorspiegelt?

Aber auch die Produktions- und Rezeptionstechnik selbst kann ins Zentrum rücken, was in der experimentellen Literatur schon lange Tradition hat. Dazu gehört auch der Einsatz neuer und neuester Medien, von elektronischer Lautpoesie und Radiophonie über Film- und Videopoesie bis zur Digitalen Dichtkunst.

Fazit: Wenn es sich mit der Funktion der Literatur noch so verhält, und ich gehe davon aus, daß dies der Fall ist, daß sie den Bereich der Gesellschaft darstellt, in dem ein zweckfreies, nicht pragmatisches Probehandeln stattfinden kann, in dem der Musilsche Möglichkeitssinn waltet und in dem ‘Gesellschaft in der Gesellschaft erscheinen’ (Luhmann) kann, dann kommt der Literatur, wie überhaupt dem Kunst und Kultur Genannten, eine entscheidende Rolle zu: Sie ermöglicht zu beobachten, worauf man sich einläßt, wenn man sich neue Technologien für Kommunikation und Bewußtseinsprozesse leistet.

Sie mögen es für überkommenen Idealismus halten, aber ich glaube, daß avancierte Kunst und Literatur sich in einer Gesellschaft, in der es immer weniger um unmittelbar mitmenschliche Kontakte geht, sich nach wie vor mit der Krise beschäftigt, die aus der paradoxen Spannung zwischen Vermassung und Vereinzelung erwächst. Wo denn mehr als im Bereich von Kunst und Literatur sollte für den Umgang mit den neuen Medien die Möglichkeit liegen, Individualität als persönliche und soziale Verantwortung zu erleben – und nicht als ständig wachsende Entfremdung. Hier ist der Ort, an dem, wie Oswald Wiener es formuliert hat, das einzige künstlerisch wichtige Thema des gegenwärtigen Zeitalters bearbeitet werden kann, nämlich das Erkennen der elementaren Mechanismen des Verstehens. In diesem Sinne muß sich die Gesellschaft Kunst und besonders natürlich auch Bildung im Informationszeitalter mehr denn je leisten, d. h. sich etwas kosten lassen.

Kommen wir zur zweiten Frage.

2. Eröffnen die digitalen Medientechnologien neue Möglichkeiten bei der Vermittlung von Literatur? Welche?

Den Vermittlungsbegriff verstehe ich hier im Sinne der empirischen Handlungstheorie S. J. Schmidts und seiner Unterscheidung von Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung als die vier institutionalisierten Handlungsrollen von Literatur. Vermittlung als Speicherung und Verbreitung. Grundsätzlich werden die in der Gutenberg-Kultur angestammten Grenzen zwischen diesen Handlungsrollen durch Computer und Internet perforiert, zumindest verschoben. Etwa die zwischen Produktion und Rezeption. Allen Beteiligten stehen nun im Prinzip die gleichen Oberflächen, die gleichen Produktionsmittel zur Verfügung. „Im Gebrauch digitaler Informationsnetzwerke", so Heiko Idensen in einem Manifest der Netzwerkkultur, „bricht der für die abendländische Kultur konstitutive wesentliche Unterschied zwischen Schreiben und Lesen, Senden und Empfangen, Bezeichenen (...) und Interpretieren zusammen" (Idensen 1996, 146). Insbesondere die prinzipielle Möglichkeiten, einen Text ohne den ganzen Buchhandelsapparat und so gut wie kostenlos einer globalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, mag die Schwelle zur Autorschaft erheblich senken. Allerdings entstehen im Bezug auf technisch aufwendige und vor allem ästhetisch hochwertige Arbeiten, wie sie z. B. im Bereich der digitalen Poesie entstehen, schnell wieder Unterschiede, etwa zwischen künstlerischen Programmierern und ihren Konzepten einerseits, Anwendern andererseits – es ist eben auch hier nur potentiell jeder ein Künstler.

In naher Zukunft ist die größte Wachstumsrate m. E. aber weniger im Bereich der Produktion als viel mehr in dem von Speicherung, Distribution, Darbietung, Recherche und Kritik gedruckter Literatur zu verzeichnen. Dazu einige Beispiele. Der literarische Buch(!)markt ist online im Internet mit Katalogen, Bestsellerlisten, Leser- und Marktanalysen. Den Statistiken nach ist in den nächsten Jahren jedenfalls für die Belletristik nicht zu erwarten, daß sich der Anteil elektronischer Büchern der 5%-Hürde nähern sollte. Im Sachbuchberreich wird es sicherlich eine stärkere Dynamik geben.

Massiv verändert sich auch das Bibliothekswesen, zunächst vor allem im Service-Bereich: die digitale Bibliothek erstreckt sich inzwischen über regional und überregional vernetzte Opacs, CD-ROM-Kataloge, elektronische Zeitschriften und Volltexte. Mit der fortschreitenden Vernetzung in Verbundsystemen wächst eine riesige virtuelle Bibliothek heran.

Das Net eignet sich hervorragend für die analytische, kritische oder poetologische Kommunikation über Literatur in MUDs oder über Mailinglisten, z. B. „ht_lit", in der international über die Poetik des Hypertextes diskutiert wird. Oder in elektronischen Tageszeitungen und Zeitschriften. Literarische Websites bieten zudem auch Netzkritik mit zahlreichen kommentierten Links zu Beiträgen oder ganzen Sites im WWW wie z. B. die Tabula Rasa von Sven Stilllich, das Carpe-Projekt von Oliver Gassner oder die Hyperfictionsammlung von Beat Suter.

Wichtig wird auch die Speicherung, Verbreitung und Kommentierung von Klassikern: Am bekanntesten ist das ‘Projekt Gutenberg’, das nicht mehr copyright-geschützte Texte massenhaft im Net verbreitet. Qualitativ hochwertig sind z. B. die Angebote von Chadwyck-Healey, die bereits große Datenbanken auch deutschsprachiger literarischer Texte angelegt und historisch-kritische Gesamtausgaben herausgebracht haben (z. B. Goethes Werke nach der Weimarer Ausgabe).

Expanded Books ergänzen die Primärtexte mit vielfältigem Sekundärmaterial, auch multimedial durch Ton- und Videodokumente. Berühmt wurde zum Beispiel die CD-ROM „Poetry in Motion" der Firma Voyager aus dem Jahr 1992: Zu hören sind Lesungen und Interviews amerikanischer Autoren wie Bukowski, Burroughs, Cage oder Ginsberg, parallel zu den entsprechenden Schrifttexten auf dem Bildschirm. Aktuelle Expanded Books vom Schlage der beieindruckenden CD-ROM bei Klett zu Heines Leben, Werk und Zeit bieten zudem ein reichhaltiges Menue an Bearbeitungsmöglichkeiten durch den Benutzer wie: Markieren, Kopieren, Drucken von Texten, Stichwortsuche in einzelnen oder allen Dokumenten, Anbringen von Lesezeichen, Notizen, Exzerpten etc. und deren Verwaltung und anderes mehr. Rezeption wird durch diese programmgeleiteten Angebote zu einem mehr oder weniger produktiven Verarbeitungsprozeß, wobei die Spuren der Lektüren geordnet, transparent und damit reflexiv werden.

Ein weiteres Beispiel sind Digitalisierungsprogramme, die Altbestände erfassen. Etwa die Editio Theodoro-Palatina der Universitätsbibliothek Mannheim, die kostbare Rara aus der Zeit von 1470-1750 als Bilddateien mit Kommentaren zugänglich macht.

Computer und Internet fungieren im Bezug auf Literatur also in erster Linie als Speicher- und Verbreitungsinstrumente und zu einem weitaus geringeren Teil als ästhetische Medien.

Zur nächsten Frage

3. Werden durch neue Entwicklungen vorhandene Kunst- und Kultursparten verdrängt oder treten die neuen Angebote neben die bisherigen?

Ich formuliere diese Frage so um: Sorgen die neuen Entwicklungen für ein Verschwinden der Literatur? Natürlich kann man das Schlagwort vom Verschwinden nicht mehr hören, und uns allen ist klar, daß die Literatur bis auf weiteres ihren Platz in der Gesellschaft behalten wird. Trotzdem kann man hier gerade angesichts mancher Hypertexttheorien ins Nachdenken kommen: So läßt uns Jay David Bolter in „Writing Space" wissen, daß das topographische Schreiben im Hypertext „die Tradition des Modernismus [das heißt der experimentellen Literatur] für ein neues Medium umsetzt" (Bolter 1991, 132). Folgt man seinen Spekulationen zur Wirkung der neuen kommunikativen Technologien, so werden experimentelle Schreibweisen, ihre Räumlichkeit und Visualität, ihre Multimedialität und Selbstreflexion und die Aktivierung des Rezipienten zum Koproduzenten, wird all dies zur zweiten Natur letztlich jedes Hypertextes trivialisiert. Gunnar Liestøl, um einen weiteren Beleg anzuführen, hebt aus experimenteller Poetik gut bekannte Eigenschaften für Produkte im „reader-dominated medium" hervor: „Hypertext und Hypermedia sind Mittel des Informationsaustausches, die Verfahren des Mitteilens und Zeigens auf innovative und provokative Weise mit einander verbinden" (Liestøl 1994, 103). Und ähnlich begründet Gregory Ulmer die generelle Eigenschaft von Hypertexten, daß sie als Rezeption mehr ein Schreiben und Reden vorgeben, mit ihrer Zeigefunktion bzw. ihrer „reflexiven Strukturierung, durch die ein Text zeigt, was er erzählt, tut, was er sagt, seine eigene Herstellung ausstellt, seine eigene Handlung reflektiert" (Ulmer, zit. n. Liestøl ebd.).

Nehmen wir zu diesen strukturalistischen Argumenten noch eines aus der systemtheoretischen Medientheorie hinzu, das den operativen Gesichtspunkt des Mediengebrauchs erhellt. Medien werden hier besonders hinsichtlich ihrer Fähigkeit diskutiert, die organisatorisch geschlossen Operationsbereiche von Kognition und Kommunikation zu vermitteln. Medienprozesse basieren daher auf „Mehrsystemereignissen" (Spangenberg 1995, 112ff.). Die elektronischen Massenmedien sprechen in erster Linie die Wahrnehmung an. Sie haben ein hohes Potential der Selbstreflexion, da sie in der Kommunikation vor allem Bewußtsein adressieren, also die Umwelt von Kommunikation. Und das ist sozusagen der Normalfall im Gebrauch der Neuen Medien. Niklas Luhmann (1995) oder Dirk Baecker (1996) sehen andererseits in der Thematisierung von Bewußtsein eine wesentliche Funktion moderner Kunst. Die Kunst der Moderne vermittele über das Ausprobieren von Formenkombinationen einen „zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen" (Luhmann 1995, 41). Das lasse Bewußtsein sowohl als Ausgeschlossenes wie auch als Bedingung von Kommunikation erscheinen.

Angesichts einer Massenkommunikation, die sich im Zuge technischer Innovationen ästhetisiert und abei einer Logik des ökonomischen Tauschs folgt (vgl. Groys 1992, 63ff.), ist die Rede vom Verschwinden der Kunst wieder laut geworden. Hier haben auch Verdikte ihren Platz, wie etwa das folgende von Helmut Schanze: „Heideggers schlimmstmögliche Wendung, das „Gerede", ist zum konstitutiven Element der Kultur des neuen Mediums geworden" (Schanze 1996, 125).

Die Ausgangsfrage nach der Rolle der Literatur in der Informationsgesellschaft stellt sich daher auch so: Ist sie in der Lage, sich selbst und ihre Umwelt in der Informations- und Mediengesellschaft zu beschreiben und dabei anderes als nur „Geschwätz" (Schanze, ebd.) zu produzieren. Ich meine: ja, allerdings. Kommen wir daher zur nächsten Frage.

4. Entstehen durch neue Medientechnologien (Internet, Multimedia, Interaktive Medien etc.) neue künstlerische Ausdrucksformen? Welche?

In der Literatur besetzen die Versuche im Bereich der Hypermedien in erster Linie die Tradition der literarischen Avantgarde, führen sie fort und erweitern sie. Die Programme des literarischen Experiments haben sich kontinuierlich für Bedingungen des Mediengebrauchs sensibilisiert und dabei Eigenschaften ausgebildet, deren Verwandtschaft mit aktuellen Kommunikationsweisen und technologischen Diskursen unübersehbar sind. Zu nennen wären Aspekte wie:

– das Interesse an einer Arbeit mehr mit, denn in der Sprache, d. h. die Präsentation und Reflexion der semantischen und materialen Kommunikationsmittel und ihres Gebrauchs,

– die Thematisierung der Prozesse des Hervorbringens und Verstehens ästhetischer Formen (‘Poiesis’ im engsten Sinne des Wortes),

– das Konzept eines ‘neuen’ Rezipienten als Alter Ego des Produzenten,

– die eher rationale und erkenntnisorientierte Haltung der beteiligten Akteure,

– die Kopplung oder Integration der in den angestammten Einzelkünsten gebräuchlichen Medien,

– Grenzgänge der Literatur hin zu anderen Künsten wie auch zu Wissenschaft und Politik, der Fokus auf die Grenzen der Literatur.

Es ergeben sich nun vor diesem Hintergrund vier Tendenzen der Entwicklung, die in der Moderne vorgezeichnet sind:
 
 

Zum einen die mehr politisch und sozialkritisch ausgerichtete Realutopie eines kooperativen Lesens und Schreibens. Die Hypertext-Technologie – multi-lineare, nicht-hierarchische, interaktive Vernetzung von Dokumenten und ihre einfache und freie Zugänglichkeit – gilt hier positiv als Medium, Metapher und Modell für demokratische bis anarchische Kommunikationsformen. Als Beispiel ist das Projekt der „Imaginären Bibliothek" von Heiko Indensen und Matthias Krohn anzuführen. Die „Imaginäre Bibliothek" versteht sich als inszenierte Intertextualität, als Vernetzung von Texten und Textbausteinen unterschiedlichster Gattungen (Essays, Vorträge, Katalogbeiträge, Manifeste, Entwürfe ...), thematisch insbesondere auf die Gegenwart und die Vorgeschichte der Hypertextkultur gerichtet. Leitmotiv ist die Prämisse, daß Literatur prinzipiell von allen, nicht von einzelnen, gemacht werden soll. Der Benutzer betreibt eine dem Schreiben angeglichene Selektion im Text, soll im Prinzip in die vorgefundene offene und dynamische Struktur eingreifen können. Zitat und Plagiat sind der Normalfall. Copyright und Zensur gelten daher als Gegenwerte. Die Imaginäre Bibliothek verbindet sich mit anderen kooperativen Schreibprojekten, die einen unkontrollierten und rhizomatischen Austausch im Netz propagieren, beispielsweise die „Electronic Frontier Foundation: Blue Ribbon": von hier kann zu diversen Sites mit Anti-Zensur-Aktivitäten navigiert werden, oder zu „Alt-X: Dirty Desires": Nach der Beantwortung eines Fragebogens ("ARE YOU INDECENT?") konnte der Online-Leser zu den "Dirty Desires" vordringen, einer Literaturanthologie auf der spannenden Website von Mark America. Inzwischen kommt man ohne Hürde zum 'explizit schmutzigen Material' der Texte von Autoren mit illustren Namen wie Walt Benjamin, Bert Brecht ;-), Allan Ross Gregory, Mathew Fuller und vielen anderen.

Eng verwandt sodann zum zweiten die Hyperfiction. Wie die Kooperativen Schreibprojekte ist Hyperfiction Erzählmodellen verpflichtet, die in der Moderne vorgezeichnet wurden: vom Fragment über die Montage bis zu Nouveau Roman und Romanexperiment à la Heißenbüttel, Wiener oder Okopenko. Das Narrative ist dabei multilinear und multimedial ausgerichtet und mischt Sprach-, Bild-, Ton- und Videodateien. Als Klassiker gilt der Storyspace-Roman „Afternoon, a story" von Michael Joyce aus dem Jahr 1987. Es handelt sich um die Geschichte eines Verkehrsunfalls aus der Perspektive unterschiedlicher Personen. Die damit verbundene Poetik stellt vor allem den Leser oder Benutzer als neues idealisiertes Subjekt mit hohen Freiheitsgraden heraus: Er kann sich zwischen den vernetzten Fragmenten frei bewegen, bestimmte Erzählstränge separat verfolgen, im abgesteckten Rahmen seine eigene Geschichte konstruieren.

Als drittes findet die ars combinatoria permutativer Texte von Porfyrius über die Barockdichter und Dada bis zu Oulipo in digitalen Text- bzw. Poesiemaschinen zu neuer Blüte. Textgeneratoren, in denen ein bestimmtes Arsenal syntaktischer Verknüpfungsverfahren programmiert ist, wurden schon in den 50er Jahren im Einzugsbereich von Max Benses Stuttgarter Gruppe eingesetzt. Der Computer galt Autor und Leser, so Stickel, als „partnerschaftlicher Ideengenerator". Der Berliner Autor und Literaturwissenschaftler Florian Cramer hat eine ganze Reihe historischer Textmaschinen digital rekonstruiert, andere dazu erfunden, wie man an seinem beim Pegasus 98-Wettbewerb mit einem Sonderpreis bedachten Website "permutationen" nachschauen kann.

Schließlich knüpft eine mehr auf die Präsentation und Reflexion von Mediencodes ausgerichtete Literatur an die Intermedia-Tradition an. Hier werden die Hypermedien bzw. der sprachgebundene Umgang mit ihnen selbst zu künstlerischen Formen und zum Gegenstand von De-Konstruktion. Auf diese Variante, für die inzwischen Begriffe wie Cyber-Poetry oder New Media Poetry gehandelt werden, wollen wir uns im Rahmen von Frage 5 konzentrieren, um zumindest einmal an einer Stelle etwas tiefer einzustechen.

5. Können Sie für die Literatur ein besonders gelungenes Beispiel für die Nutzung der neuen Technologien nennen?

Diese letzte Frage möchte ich etwas ausführlicher mit einer Vorstellung des Labels „New Media Poetry" beantworten. Zunächst auch hier ein kurzer phänomenologischer Überblick. Dann will ich hier aber unter den Stichworten Intermedialität, Interaktivität und Verkörperung einige ästhetische und funktionale Möglichkeiten avancierter Dichtung mit den Hypermedien aufzeigen. Womit dann der Bogen zurück zur ersten Frage geschlagen wäre.Kommen wir also zunächst zum historischen und geographischen
 
 

Der Ort von New Media Poetry

Wenn nicht von Neuer Medien-Poesie gesprochen wird, so schon deshalb, weil die sogenannte Neue Poesie im deutschsprachigen Raum, meiner Kenntnis nach, sich noch kaum produktiv mit den Hypermedien beschäftigt hat. Die Präsentationen im Rahmen von Ausstellung und Veranstaltungen anläßlich des 20jährigen Bestehens des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie 1997 ließen jedenfalls nichts dergleichen erkennen. Anderes vermitteln weiter westlich erschienene Dokumentationen. In Frankreich z. B. die elektronischen Journale „ALIRE" und „a:\literature", in denen vor allem die Aktivitäten der Künstlergruppe L.A.I.R.E. um Philippe Bootz präsentiert werden. Eine Ende 1997 erschienene Doppelausgabe der Zeitschriften „ALIRE" und „DOC(K)S" präsentiert in einem Buch und einer CD-ROM Geschichte, Poetik, Kritik und Beispiele aus dem internationalen, vor allem aber französischen Bereich der ‘poésie generée par ordinateur’ (DOC(K)S série 3. 13/14./15/16, ALIRE 10, 1997). Die historische Filiation wird in den theoretischen Beiträgen immer wieder aus der ars combinatoria der von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründeten Gruppe OULIPO (Ouvroir de Littérature Potentielle) hergeleitet.

Der Begriff New Media Poetry aber wurde von dem brasilianischen Medienkünstler Eduardo Kac geprägt. Kac, der in Chicago lehrt, hat unter diesem Titel 1996 eine Sondernummer der Zeitschrift Visible Language herausgegeben (Kac 1996). Das Heft kann für sich beanspruchen, das erstemal überhaupt einen internationalen Einblick in Poetiken zur experimentellen Poesie im Bereich Hypermedia zu verschaffen. Die Sammlung enthält poetologische Beiträge von John Cayley, Jim Rosenberg, Philippe Bootz, Ernesto de Melo e Castro, André Vallias, Ladislao Pablo Györi und Eduardo Kac – steckt geographisch also den nord- und südamerikanischen sowie den westeuropäischen Raum ab. Titel, Untertitel („Poetic Innovation and New Technologies") sowie das Vorwort betonen - wieder einmal, muß man sagen - das Neue; sie verweisen auf die digitale Technologie und die experimentelle Tradition vom Futurismus bis zu Fluxus und visueller Poesie. Der innovative Schnitt wird – wie auch in Philippe Castellins Editorial zu DOC(K)S/ALIRE – in der Ablösung dieser Tradition von der Gutenberg-Galaxis gesehen, mit dem Ausblick: „daß eine neue Poesie für das nächste Jahrhundert einfach deshalb in neuen Medien entwickelt werden muß, weil das, wonach die Autoren textuell verlangen, nicht physisch im Druckverfahren realisiert werden kann" (Kac 1996, 98f.).

Die Anthologie wurde im Jahr darauf durch eine CD-ROM mit Arbeiten der im Heft vertretenen und einiger weiterer Autoren ergänzt (Kac 1997).

Der letzte Hinweis auf eine Dokumentation, die das internationale Feld der New Media Poetry meines Wissens als erste abgesteckt hat, führt allerdings doch zurück nach Deutschland und zwar nach Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, dem Heimatort von Carlfriedrich Claus. In der dortigen Galerie am Markt fand 1992 die Ausstellung „digitale dichtkunst" statt. Sie blieb hierzulande leider weitgehend unbeachtet, trotz der Beteiligung namhafter Künstler wie Augusto de Campos, Eduardo Kac, Richard Kostelanetz, Jim Rosenberg und anderen.

Natürlich muß aber auch auf die Medienkunst verwiesen werden, wo sie literarisch wird. Im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe finden sich die technisch hochkarätigsten Spracharbeiten von Künstlern wie Bill Seaman, Masaki Fujihata, Frank Fietzek oder Ken Feingold. Allen voran aber die Arbeiten des Australiers Jeffrey Shaw, der im ZKM das Institut für Bildmedien leitet, wir kommen darauf zurück.
 
 

Intermedialität und Interaktivität

In André Vallias’ Vorwort zum kleinen Katalogs der Annaberger Ausstellung heißt es:

„Digit. Gespeichert auf einem dem Menschen unzugänglichen undifferenzierten Zifferngewebe. Original- und manuskriptlos. Immer abrufbar, veränderbar und übertragbar. Daten lösen die Grenze zwischen Körpern, Flächen, Texten, Klängen, Wörtern, Punkten, Tönen, Buchstaben und Nummern auf" (Vallias 1992, S. 0010).

Das Zitat orientiert nicht nur über den ästhetischen Bezugsrahmen, in den die Arbeiten der Ausstellung gestellt wurden, sondern speziell auch über Vallias’ eigene Poetik. Zentral sind für ihn die im Computer zusammengeführten Möglichkeiten der Hybridbildung unterschiedlichster Medien und Verfahren auf der elementaren Basis digitaler Codierung.

Diese Codierung bleibt, wie hier ausdrücklich betont wird, unzugänglich, verschwindet hinter den wahrnehmbaren Oberflächen. Daher besteht der poetologische Wert des Digitalen vor allem im Konzeptuellen. Das Konzept der digitalen Grenzauflösung oder mit einem anderen Wort: der Fusion, verweist auf die Poetik der Intermedialität, die von Dick Higgins Mitte der 60er Jahre in genau diesem Sinne formuliert wurde. Dabei ist zu beachten, daß es hier nicht eigentlich um Fusion, sondern wesentlich um Grenzmarkierung geht. Die Aufmerksamkeit der Teilnehmer am intermedialen Ereignis wird mittels dieser Poetik paradoxerweise vor allem auf die formalen und funktionalen Unterschiede gelenkt, die zwischen den einzelnen, mit einander verbundenen Medien bzw. Codes bestehen. Dieser Orientierungsfunktion gilt überhaupt die Topik der Grenz- und Zwischenbereiche, die intermediale und verwandte künstlerische Kommentare einschließlich solcher zur New Media Poetry durchzieht. Das eigentlich Interessante ist das jeweilige Dazwischen, die mediale Zäsur.

Ein Beispiel von Vallias: "Wir haben Descartes nicht verstanden" ist ein Text, der den Sprung von der Buchseite in den virutellen Raum des digitalen Gedichts wie in einem Manifest thematisiert. Die weiße Druckseite wird als Gedicht im schwarzen (nicht mehr papier-weißen) Raum zum drei- bzw. vierdimensionalen Objekt. Die Wellenbewegung läßt sich dabei unter Anwendung des metrischen Codes als Versfuß aus Hebung und Senkung 'lesen': eine hybride Medialität, in die verbale, ikonische, diagrammatische (metrisches Schema) und nichts desto weniger lyrische Codes zur Anwendung kommen.

Lohnend ist ein Besuch auf Vallias' Website, in der zahlreiche seiner Arbeiten versammelt und untereinander verknüpft sind: eine Antilogia Laborintica, durch man sich hindurchnavigieren kann: lesen, betrachten, stöbern, auslösen, selber schreiben: all das ist dem Benutzer möglich, dessen aktive, ja produktive Beteiligung hier gefordert ist.

Produktive Rezeption wurde im Printmedium besonders für visuelle Poesie, genereller noch von Eco für die Moderne als „Kunstwerk in Bewegung" konzipiert (vgl. Eco 1977, S. 41). Produktive Rezeption wird, wie wir gerade gesehen haben, mit den Hypermedien um zwei zusätzliche Möglichkeiten erweitert: die Animation der materialen bzw. syntaktischen Oberfläche und damit eng verbunden: sogenannte Interaktivität. Interaktivität verstehe ich so, daß die Benutzer in Echtzeit in die Oberfläche bzw. Syntax eines Medienangebots eingreifen können. Das hat natürlich weniger etwas mit Interaktion im Sinne der Handlungstheorien zu tun, als mehr mit einem veränderten und veränderbaren Zusammenhang zwischen der je virtuellen Textoberfläche einerseits, der perzeptiven und – meist sehr beschränkten – motorischen Aktivität des Benutzers andererseits. Das jeweilige Computerprogramm konditioniert den Benutzer dabei in der Regel auf ein bestimmtes Set an Entscheidungen.
 
 

Verkörperung

Ästhetische Interaktivität bedeutet sowohl im Programm als auch für die Werkstruktur also in erster Linie, daß der Rezipient zum Konzept wird. Während aber die Rezeptionsästhetik einerseits, die experimentelle, insbesondere die konzeptuelle Kunst andererseits einen fiktiven, anonymen und völlig vergeistigten Rezipienten entworfen haben, gewinnt dieser in der Kunst mit den neuen Medien – vielleicht entgegen intuitiver Annahmen – zusehens an ‘Fleisch’. Der Textraum wird nicht nur belebt, sondern durch die Aktivität der Benutzer auch beleibt. Das wird besonders dort deutlich, wo der Körper des Rezipienten nicht nur auf die Betätigung von Tastatur und Maus reduziert ist, sondern als ganzer zum Einsatz kommt. Der Körper des Benutzers wird dadurch selbst zu einem dynamischen physischen Signifikanten des Werks, spannungsreich verknüpft mit den flüchtigen, virtuellen Signifikanten: verschiedene Raumkonzepte – den Körper, dessen Umfeld, den Apparat und den Text betreffend – werden in ihrer Konstruktivität und Differenz beobachtbar.

Die digitale Holopoetry von Eduardo Kac kann als Beispiel dienen. Kac hat sich mit vielfältigen Formen der Medienkunst beschäftigt. Seit den frühen 80er Jahre arbeitet er mit Hologrammen, die er seit 10 Jahren digital erzeugt. In seinen Holopoems werden animierte Modulationen von sprachlichen und graphischen Formen auf das Endmedium eines Hologramms übertragen, das in weißem Licht betrachtet werden kann. Je nach körperlicher Bewegung des Betrachters können unterschiedliche Fragmente des Textes, Veränderungen der Position und Form von Buchstaben und Wörtern, von Farben, Größenverhältnissen, Graden der Transparenz in einem virtuellen dreidimensionalen Raum wahrgenommen werden.

Die abgebildeten Fragmente des Holopoems „Adhuc" (1991) sind sozusagen Stills, wie sie durch Wechsel der Beobachtungsrichtung, durch die Bewegung des Kopfes, des Oberkörpers oder durch Herumgehen erscheinen. Dabei ist dieser Wechsel aber schon durch sehr feine Veränderungen möglich, die das binokulare Sehen bewußt machen: Jedes Auge ‘sieht’ eine andere Version des Textes, zusammen sehen sie eine dritte Version – was also wird gelesen?

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Durch das Hin und Her des Körpers, dem ein Vor- und Rücklauf der Bewegungen im virtuellen Raum entspricht, entsteht eine Syntax des Changierens zwischen Präsenz und Appräsenz, Auflösung und Zusammensetzung, Medium und Form der Signifikanten.

Der Körper des Nutzers bleibt dabei freilich an das Fenster des Hologramms gefesselt, nur an einer etwas längeren Leine als vor einem Bildschirm, was die Aufmerksamkeit auch auf die Fesselung selbst lenken mag. Über seine Bewegungen vollzieht der Benutzer Grenzmarkierungen und -verschiebungen bis hin zum Rahmen, der das Hologramm von seinem Umraum trennt.

Eine solche skeptische Reflexionsmöglichkeit, die bedenkt, daß der Benutzer nicht nur manipuliert, sondern auch manipuliert wird, blendet Kac in seiner Poetik, die mehr auf die Erprobung neuer künstlerischer Potentiale setzt, eher ab.

Nirgends aber wird sie in einer interaktiven poetischen Arbeit bislang so deutlich vermittelt, wie in der „Legible City" von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld.

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Der Benutzer kann  die Texte der Lesbaren Stadt fahrend betrachten und lesen, er kann vom Weg abweichen und so willkürliche Texte erstellen. Parole in Liberta. Er kann seine Rezeption aber über den visuellen Code arrangieren, sich auf Farben und Formen konzentrieren und dabei vom Text absehen. Besonders interessant wird es aber durch die Schnittstelle des Fahrrades, die den Benutzer deutlich zugleich im virtuellen wie auch im realen Raum verortet.

Innerhalb des virtuellen Raumes werden auf diese Weise eine ganze Reihe traditioneller Metaphern, die den Rezepienten und seinen Körper betreffen, dekonstruiert, indem sie buchstäblich ins Bild gesetzt werden: Das betrifft die Metapher des Textes als Stadt und des Lesens als Bewohnen oder Flanieren – Metaphern, die nicht nur moderne Literatur und Architektur begleiten, sondern auch im Internet große Bedeutung bei der Organisation von Telepräsenz haben. Denken Sie an die diversen digitalen Städte. Weiter ist der Leser/Betrachter ‘im’ Text bzw. ‘im’ Bild. Damit ist man bei der Rezeptionsästhetik. Erwähnt wurde der völlig vergeistigte Rezipient, auf dessen produktive Imagination die Werkstruktur projiziert wurde – dergleichen Konzepte können im Licht dieser Arbeit in ihrem Idealismus reflektiert werden. Ist der Rezipient im Bild, so wird hier außerdem veranschaulicht, daß er selbst bzw. sein Körper zum dreidimensionalen Signifikanten, daß er, wie es bei Barthes heißt, zur „Inschrift in den Raum" wird – im verbalen Notationsschema am ehesten als ‘i’, englisch für Ich, im Holländischen und Deutschen der Beginn der Worte ‘ik’ und ‘ich’: Metaphern des Körpers als Wohnung der Seele oder des Selbst und als Fleischwerdung des Wortes werden hier ebenfalls buchstäblich ins Bild gesetzt.

Dekonstruiert wird allerdings auch das Konstrukt des virtuellen Raumes und Körpers, wenn der Benutzer sich außerhalb des virtuellen und innerhalb des ‘realen’ Raumes orientiert, dort, wo sich verkörpertes Wahrnehmen, Lesen, Hören, Schreiben, Sprechen usw. ereignen. Dazu ist die Schnittstelle des Fahrrades sehr gut gewählt: So sehr man unter Einsatz der ganzen Körperkraft strampelt und sich abmüht, im Environment selbst kommt man keinen Millimeter vorwärts. Natürlich, sonst wäre der Spaß – patsch – an der Leinwand vorbei.

Jeffrey Shaws Kommentar dazu lautet: „Die körperliche Anstrengung, in der realen Welt Fahrrad zu fahren, wird direkt auf diese Schnittstelle mit der virtuellen Welt übertragen, wodurch die absurde, jedoch euphorische Verbindung des eifrigen Körpers im Virtuellen bestätigt wird" (Shaw 1995, S. 169). Diese Ironie macht ein wesentliches Element der Mediennutzung deutlich: Bei aller ‘immateriellen’ Bewegung bleiben die Benutzer an die Schnittstellen gesfesselt – auch an den rahmen der Videoleinwand bzw. andernorts an den Bildschirm, die Buchseite, den Bilderrahmen. Sie bleiben generell in ihrer kognitiven und kommunikativen Aktivität gebunden an die medial und kulturell bedingten Konstrukte, mit denen sie sich und ihre Umwelt er-fahren.

Damit kommen wir zum Ende und zur Frage nach der Option von Literatur in der Informationsgesellschaft zurück:
 
 

Resümee

Die verschiedenen experimentellen Verfahren der Poesie in und mit den neuen Medien ermöglichen m. E. insbesondere, Rezeption als Mediengebrauch zu reflektieren. Rezeption ist in diesen künstlerischen Umgebungen in erster Linie ein auf sich selbst gefalteter psychischer bzw. bewußtseinsmäßiger Prozeß und weniger ein ‘act of confirmation’ für die Kommunikation. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang noch einmal an den Vordenker der Techno-Ästhetik, an Oswald Wiener und seine Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz und der universellen Turingmaschine als Modell für innere Vorgänge. Unter der Formel des ‘Verstehens von Verstehens’ hat er individuelle Selbstbeobachtung als wesentlichen Ansatz einer „Poetik im Zeitalter naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorien" (Wiener 1987, S. 92) erprobt. Der Rezipient bzw. der interaktivierte User personalisiert diese Form psychischer Selbstbezüglichkeit, die das Konzept des Körpers mit einschließt. Das massenmediale Phänomen der Aufmerksamkeitslenkung, der Fesslung von Bewußtsein, von Wahrnehmungen und insbesondere auch von Gefühlen, wird im intermedialen Experiment Gegenstand von Beobachtung. Es gibt in diesem Zusammenhang übrigens einen bemerkenswerten Essay von Wiener über das Phänomen seiner ‘Ergriffenheiten’ (Wiener 1981).

Der produktive, selbstbeobachtende Rezipient erscheint als ‘Reinkarnation’ des in der Postmoderne verstorbenen Subjekts. Als Differenzgröße erscheint dieser Beobachter vor dem Apparat, hinter dem das Identitätsprinzip des Autors mehr und mehr verschwunden ist. Eine Option des experimentellen, künstlerischen Umgangs mit den neuen Medien ist also, daß Erlebnisse der Distanznahme möglich werden, die auch die Verbindung von Mensch und Maschine erfassen und die Schnittstellen sichtbar werden lassen. Der Teilhaber am Kunstwerk hat hier als Individuum Gelegenheit, sich von seiner Umwelt und damit auch von den Apparaten zu unterscheiden, mit denen er sich immer enger verknüpft.


Literaturverzeichnis

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