Innovation oder Trivialität?
Zur hypermedialen ‚Übersetzung‘ der Moderne am Beispiel des Elektronischen Lexikon-Romans


Friedrich W. Block

 

I. Vom 'Neuen' und 'Besseren' und was davon zu halten ist

Mein Beitrag beschäftigt sich kritisch mit zwei hartnäckigen Gerüchten: 1. mit digitaler Literatur geschehe etwas radikal Neues, 2. das Elektronische sei sozusagen das bessere Medium für die in der Moderne entwickelten poetischen Schreibweisen bzw. die eigentliche Einlösung ihrer Poetik. So stellt sich nicht nur die Frage nach der Spezifik, sondern auch nach dem ästhetischen Gewinn einer um hypermediale Formen erweiterten Dichtkunst. Veranschaulichen werde ich diese Fragen anhand der 1998 erschienen CD-Rom "Elektronischer Lexikon-Roman" (ELEX), die die Roman-Vorlage von Andreas Okopenko aus dem Jahr 1970 hypermedial um- bzw. übersetzt. Doch zunächst einmal zu den beiden Gerüchten:

1. In den letzten Jahren gibt es kaum einen Begriff, der so fröhliche Wiederkehr feiert wie der des Neuen. Die Neuen Medien machen's möglich. Poetiken und akademische Diskurse verwenden das 'Neue' exzessiv. Nur ein markantes Beispiel: Eduardo Kacs Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen, gerade zur Neuausgabe bereiteten Poetikband zur sog. "New Media Poetry": "This is the first international anthology to document a radically new poetry, one that is impossible to present directly in books and that challenges even the innovations of recent and contemporary experimental poetics ... The poems discussed in this anthology ... state that a new poetry for the next century must be developed in new media, simply because the textual aspirations of the autors cannot be physically realized in print" (Kac 1996, 98f.). Der Titel der Anthologie führt neben dem lancierten Gattungsnamen, eben "NEW Media Poetry", das Neue noch gleich zweimal im Schilde: "Poetic Innovations and New Technologies".

Um den empirischen Befund kommen wir nicht herum: Es gibt offenbar wieder ein Avantgarde-Bewußtsein im Einzugsbereich digitaler Ästhetik, ein Avantgarde-Bewußtsein, das in Stil, Gestus und auch Aussage nicht selten an historische Manifeste erinnert, etwa an das "futuristische Manifest zur mechanischen Kunst" aus dem Jahre 1922: "Durch die Maschine und in der Maschine wickelt sich nunmehr das Schauspiel der Menschheit ab. Wir Futuristen zwingen die Maschine, sich von ihren praktischen Funktionen loszulösen, um in das rein geistige und zweckungebundene Leben der Kunst einzutauchen ... All dies ist unsere neue geistige Notwendigkeit und das Prinzip unserer neuen Ästhetik, während sich die tradierte Ästhetik noch von Legenden und Mythen nährt" (zit. nach Caramel et al. 1990, 163).

Mit dem Focus auf Neue Medientechnologien wird der aggressivste Zeitbegriff der Moderne wiederbelebt, nämlich der des Fortschritts. Schreibt man sich damit nicht ein in ein ausgesprochen lineares Modell? Unterwirft man dabei den so empfundenen oder gewollten ästhetischen Mehrwert nicht etwas ungeschützt der "Logik des ökonomischen Tauschs" (vgl. Groys 1992, 63ff.)? Heißt die Rede von der "Literatur für neue Medien", bei Christiane Heibach (2000, 171ff.) etwa, nicht auch, daß die Literatur zur Promotion des medientechnologischen Fortschritts auftritt?

Mit dem Neuen handelt man sich jedenfalls paradoxerweise das Älteste oder Traditionellste ein, was die Moderne zu bieten hat: Mit der Querelle des Anciens et des Modernes Mitte des 18. Jh. vorbereitet, wird das Neue als ästhetischer Wert erstmals bei Baudelaire (1989) explizit mit Modernität verknüpft. Den historischen Avantgarden gilt das Neue im Gegensatz zum Alten oder Tradierten bekanntlich als Leitdifferenz.

Eine andere Frage ist, wie nun die Differenz von Innovation und Tradition im digitalen Diskurs gehandhabt wird, wie möchte man sie haben? Doch oftmals so, daß das Traditionelle ein wenig an Windmühlenflügel erinnert: Gutenberggalaxis, books realized in print, lineare Erzähltechniken, Eindimensionalität, Auktorialität, Sinntiefe, Finalität etc. Spätestens die Romantik hatte hiermit bereits aufgeräumt.

Eine andere und sicherlich fruchtbarere Option wäre, daß die 'Tradition' das umfaßt, was als Vorgeschichte und Hinführung zu aktuellen Möglichkeiten digitaler Literatur gelesen wird.

2. Damit sind wir aber erst einmal beim zweiten Gerücht: Das Digitale sei das bessere Medium für die in der Moderne entwickelten experimentellen Schreibweisen; Konzepte wie Multilinearität und -perspektivität, Multi- bzw. Intermedialität, Fragmentierung, Bewegung, Aleatorik, Publikumsaktivität etc. seien nun sozusagen 'angekommen'. Bei Bolter (1991, 132) etwa heißt es zum Hypertext: "Topographic writing redefines the tradition of modernism for a new medium". Und in Philippe Castellins Editorial zum Doppelband von Alire / Docks (Castellin 1997, 6f.) wird eine große Gleichung aufgemacht; auf der einen Seite des Gleichheitszeichens findet sich eine lange Liste: die Poesie, das Individuelle, das Intermediale, Collage, Cadavres exquis, Permutation, Poésie totale, Synästhesie, Multisensorik, Queneau, Schwitters, Pound, Joyce, Petronio, Haussmann, Zaum usw. Auf der anderen Seite steht nur ein einziges französisches Wort: "L'ordinateur". Mit dem Rechner hat man die ganze Moderne im Sack. Wird die Tradition also positiv konnotiert, so sind es nun der Rechner, das Digitale, das Internet, die ähnlich grob wie die sogenannte Printliteratur zugeschnitten werden.

Vor diesem Hintergrund möchte ich dafür plädieren, mehr auf Kontinuitäten zu achten, denn auf die vermuteten harten Zäsuren, mehr auf die feinen Unterschiede, denn auf die schroffen Brüche, mehr auf Erweiterung und Wechselwirkung, denn auf den Fortschritt. Das würde bedeuten, einzelne Konzepte digitaler Ästhetik auf ihre Geschichtlichkeit abzuklopfen. Das würde zudem bedeuten: den jeweiligen individuellen Text, das Netzwerk, Projekt oder Ereignis in dieser Perspektive zu beobachten - m. E. auch eine poetologische Vorgabe.

Also zum Beispiel: Für das Kriterium Multi- oder Hypermedialität wären aus meiner Sicht interessant die Konzepte zum Gesamtkunstwerk und zur Synästhesie, insbesondere aber zur Intermedialität, wie sie seit Dick Higgins, der diesen Begriff für die Intermedia- und Fluxuskunst prägte, als konzeptuelle Fusion von Text-, Bild- und Klangformen in der Visuellen Poesie, der Lautdichtung, in Film- und Videogedichten, der Holographie durchgespielt wird. Für das Kriterium der Bewegung wäre interessant die kinetische Kunst, Aktionismus, Op-Art - vor 40 Jahren von Franz Mon auf den Nenner gebracht unter dem Titel "movens": eine gesamtkünstlerische Poetik des offenen Kunstwerks unter dem Leitwert der Bewegung. Bewegung nicht nur der wahrnehmbaren Formen, sondern auch der Wahrnehmung und des Denkens (Mon 1960). Damit ist schon das Kriterium Interaktivität berührt. Zu bedenken wäre zudem die Aktivierung des Publikums im Happening, in der Konzeptkunst, aber auch in der Rezeptionspoetik des kreativen Lesens und Betrachtens, das Konzept der Ko-Autorschaft. Aber auch die Idee der Kopplung oder Fusion von Mensch und Maschine im Futurismus, in der Literaturmetaphysik Max Benses und ihren konkreten Umsetzungen seit den 50ern oder in der Turingpoetik Oswald Wieners. Im Großen und Ganzen sind dies Ansätze, die in den 50er bis 70er Jahren losgetreten wurden.
 

II. Vom Lexikonroman zum Elex: eine fragwürdige Transformation

Gute Beobachtungsverhältnisse liegen vor, wenn eine konkrete Vorlage, die unter solchen Leitwerten entwickelt wurde, nun hypermedial umgesetzt und verarbeitet wird. Solche Projekte sind kaum bekannt geworden: Florian Cramers Permutationen fallen mir ein, die CD-Rom "Ottos Mops" (Jandl, John, Quosdorf 1996) mit Spielen zu Jandl-Gedichten, auch Steward Moulthrops Umsetzung von Borges' "forking paths" oder Ted Nelsons Bearbeitung von Nabokovs "Pale Fire".

Aus dem Jahre 1998 stammt die CD-Rom "Elektronischer Lexikonroman" der Wiener Gruppe "Libraries of the Mind", die sechs Jahre daran gearbeitet hat, den Lexikonroman von Andreas Okopenko umzusetzen, ein Buch, das im Jahre 1970 beim Residenz-Verlag herauskam. Okopenko hatte damals seine Leserschaft in einer Gebrauchsanweisung angewiesen: "denken Sie an den ersten Computer, erweitern Sie den Roman durch eigene Weiterknüpfung an Reizwörter, am besten: schreiben Sie ein Buch, das meines in seiner Kleinheit festnagelt..." (Okopenko 1996, 7). Schauen wir uns erst einmal an, was knapp 30 Jahre später aus dem Denken an den Computer geworden ist, zur Vorlage kommen wir später:


Die CD-Rom liefert einen geschlossenen Hypertext, der aus dem Material der Vorlage gearbeitet ist, dabei die einzelnen Fragmente über Stichwörter verknüpft. Es gibt sodann mehrere Navigationsangebote: 

Eine Image-Map liefert eine lineare Auswahl 'entlang der Donau', dem Reiseweg der Hauptfigur folgend.




Innerhalb der Lexien gibt es Verknüpfungen zu anderen Stichworten. Das Menue "A-Z" listet, alphabetisch geordnet, die Stichworte und damit die Links zum kompletten Textmaterial
 



Außerdem kann man eine Voreinstellung vornehmen, die alle besuchten Links auflistet, so dass diese zurückverfolgt werden können. Ebenso sind Volltextsuche und Notizen zu jedem Stichwort möglich.
 



Sodann gibt es multimediale Ergänzungen: Einzelnen Stichworten bzw. Orten sind Grafiken von Alfgard Kircher und Fotos von Christa Kempinger angeschlossen. Autors Stimme ist zu ausgewählten, von ihm gelesenen Fragmenten zu hören. 
 



Dann läßt sich noch die Lexikon-Sonate von Karl Heinz Essl anspielen, eine, wie es heißt, "interaktive Realtime-Komposition für computergesteuertes Klavier": Die Komposition entsteht in Echtzeit, keine Tonfolge ist vorgegeben, sondern nur bestimmte historisch fundierte Kompositionsmodule, die - darin besteht die sog. Interaktivität - untereinander wechselwirken. Ein Verfahren, das von der Aleatorik des Lexikonromans inspiriert wurde. Beim Elektronischen Lexikonroman hat man die Möglichkeit, die Sonatenkomposition anzuspielen, mitlaufenzulassen und zu beobachten bzw. zu hören und wieder abzuschalten.
 

Man hat es also mit einem aus heutiger Sicht normalen Hypertext im Stil der Expanded Books zu tun. Interaktivität, Multimedialität, Navigationspflicht - alles vorhanden. Aber künstlerisch überzeugend ist er nicht. Ein schlechtes Beispiel also, aber gut, weil es die eingangs geschilderte Problematik verdeutlicht: Auch wenn man technisch halbwegs 'vorn' ist, muß dies künstlerisch nicht automatisch überzeugen. Kritikpunkte wären, daß die einzelnen medialen Formen - Grafiken, Fotos, Stimme, Musik - nebeneinander stehen und nirgends in eine wechselseitige intermediale Abhängigkeit und Verdichtung gebracht werden. Die Fotos und Grafiken illustrieren lediglich ebenso wie Autors Stimme - warum bestimmte Textfragmente mit diesen Elementen verknüpft werden, bleibt im Dunklen. 

Interessanter scheint mir das Verfolgen der Lexikonsonate im Transfer zum Text. Aber man hätte eine nachvollziehbare Kopplung von Leseraktivität und Strukturierung der Kompositionen erwartet. Darüber hinaus fallen Fotos und Grafiken gegenüber der Sonate und dem Text in ihrer Qualität stark ab.

Wie sieht nun die Buch-Vorlage aus? Es handelt sich um ein experimentelles Erzählwerk, das erprobt, wie weit sich die eingeführten Grenzen von Textgestaltung und Erzählen dehnen lassen. Das gesamte Textmaterial ist alphabetisch geordnet. Sie entspricht also dem Menuepunkt "A-Z" der elektronischen Umsetzung, nur daß dort lediglich die Stichwortliste geliefert wird und nicht sukzessiver Fließtext. 
 



Der Buchtext bietet im Wesentlichen zwei Navigationsweisen: Sukzessive die Einträge entlang oder den Querverweisen folgend. Wir erinnern uns: der ELEX dagegen bot etwas mehr an - Lesezeichen und vor allem: sogenannte 'Hauptstichworte', die erstens eine eigene graphische Navigationsleiste erhielten, zweitens in der Stichwortliste fett hervorgehoben werden und drittens linear hintereinandergeschaltet sind. D.h. das Ende eines jeden Fragments führt ausschließlich auf das nächste sogenannte Hauptstichwort, auch im Text wiederum fett markiert. Der ELEX also hebt massiv einen Lektüreweg heraus, während dies in der Vorlage überhaupt nicht geschieht. Zwar ist diese Kette in der Vorlage angelegt, doch wird sie grafisch keinesfalls in ähnlicher Weise nahegelegt. Der ELEX sagt in den Erläuterungen auch, was er hier herausgefiltert hat: nämlich den Haupterzählstrang. Davon schweigt die Vorlage, gibt allerdings mit deutlichen Ironiesignalen zu verstehen, für wen diese Struktur gedacht ist: "Das Gros folge mir gleich zum Anfang der Reise" (7), "Wen die tiefen Gründe des Erzählerwechsels nicht interessieren, der folge mir gleich zur Brücke" (12). Ich aber will nicht zum Gros gehören, ich bin interessiert, ich entziehe mich dem Erzähler - und schon bin ich draußen aus dem Haupterzählstrang.

Beide Varianten beginnen mit der erwähnten Gebrauchsanweisung. Im ELEX führt sie unweigerlich zum "Anfang der Reise", im Buch blättere ich um - oder ich habe sie gleich übersprungen und lande bei "A.", und da steht: "Sie sind es gewohnt, ein Buch - unter Umgehung des Vorwortes - von vorn nach hinten zu lesen. Sehr praktisch. Aber diesmal schlagen Sie bitte zur Gebrauchsanweisung zurück, denn ohne die werden Sie das Buch nicht zum Roman machen" (9). Oder man hat - eine andere bekannte Lesegewohnheit - erst einmal hinten nachgeschaut, beim letzten Eintrag "Zz.", und da steht: "Sie sind es gewohnt, zuerst nachzulesen, ob sie sich kriegen, Napoleon und Désirée, oder Bulle und der Kunde. Sehr praktisch. Diesmal aber erfahren Sie auf diese Weise nur, daß Zz bei den alten Apothekern Myrrhe, bei den neuen Ingwer bedeutet. Wollen Sie besser informiert werden, schlagen Sie, bitte, zur Gebrauchsanweisung zurück. Denn Sie selbst müssen dieses Buch erst zum Roman machen" (292).

Auf der CD-Rom verliert sich dagegen die Inszenierung von Anfang und Ende ebenso wie das ironische Spiel mit Lesegewohnheiten. 

Auch gibt es im Buch immer wieder "Raum für einschlägige Erinnerungen des Lesers" oder zum "Übertragen eines Schulaufsatzes" - nur ist der Raum paradoxerweise schon durch die Aufforderung selbst versperrt. 



Im ELEX dagegen - habe ich artig die Möglichkeit, eine Notiz zu machen. Und wo das Buch hier eins zu eins zitiert wird, daher keine mediale Transformation erfolgt, verhält sich die Chance zur Ironie (ich kann ja auch hier gar nichts eintragen, es sei denn ich schreibe auf den Bildschirm) wie die Komik der Friederike Kempner.

Es ließen sich dergleichen Beispiele noch endlos anführen. Kommen wir daher gleich zum Fazit: Das Buch reflektiert ironisch sein eigenes Medium und seinen Gebrauch, der ELEX überträgt und zitiert und läßt dabei diese Funktion völlig verschwinden - für sein eigenes digitales Medium bleibt er blind.

Welchem Programm aber folgten die Hersteller der CD-Rom? Ein Text "Über" gibt Auskunft: Man wolle den hypertextuellen Vorläufer in heute technisch mögliche Voraussetzungen übertragen - kein Blättern mehr, verschwimmende Grenzen zwischen verschiedenen Darstellungsformen durch einfachen Mausklick. Das erzeuge Phantasien im Betrachter, ohne ihn zu gängeln. Der Leser brauche sich nicht davor zu fürchten, sich zu verlieren: Dafür gebe es den Hauptstrang, dargestellt als Landkarte, den man freilich frei verlassen, aber immer zu ihm zurückkehren könne - der Computer als Lesezeichen.

Sowohl diese Erklärung als auch die ganze Anlage liegt konträr zur Erfahrung, die das Buch ermöglicht und die in der Gebrauchsanleitung hüben wie drüben eingefordert wird. Die CD-Rom kommt daher als Didaktik daher. Sie veranschaulicht aufwendig und entgegen ihrem Konzept einige mögliche Lesarten der Vorlage und liefert einige mehr oder weniger assoziative Verarbeitungen. D.h. sie expliziert Lektüre, aber - im Unterschied zum Buch - sie exemplifiziert sie nicht. 

III. Resümee

Wir haben es hier mit einem generellen Problem medialer Übersetzung zu tun: Übersetzung mit Sinnkonstanz ist schlechterdings nicht möglich. Darüber hinaus erzeugt gerade Medientransposition immer ein Anderes. Und sie offenbart Medienkonkurrenz. Diese wiederum provoziert ästhetisch gesehen dazu, sich auf das zu konzentrieren, was nicht übertragbar ist. Das hat Friedrich Kittler (1995, 314, 335ff.) sehr anregend für die Konkurrenz zwischen Film und Literatur herausgestellt: Im Moment, da der Film zahlreiche Funktionen der Literatur übernimmt, besinnt diese sich auf 'Materialgerechtigkeit', also auf die Kunst des Wortes, des Lauts, der Schrift - und auch Okopenkos Lexikonroman ist genau hierauf eingestellt.

Das heißt: digitale Literatur im Geiste des Lexikonromans bzw. des poetischen Experiments wäre schlecht beraten, wenn sie moderne Schreibweisen einfach übertragen wollte. Gelungenere Beispiele (vgl. hier z.B. p0es1s) wären dagegen nicht nur Literatur für neue Medien, sie würde diese auch gegen ihren Strich bürsten und eine Reflexion über sie anregen. Sie würden nicht die Moderne (oder Spät- und Postmoderne) 'redefinieren', sondern allenfalls ihre Programme fortschreiben und erweitern, dabei aber auf ihr Spektrum künstlerischer Mittel sowie auf die damit verbunden Wahrnehmungs- und Kommunikationsweisen spezifisch eingehen.

Das 'Neue' relativiert sich gerade dann, wenn vom rein Technologischen abstrahiert wird - etwa im Sinne einer künstlerischen Kommunikation der Materialität, die jeweils 'Materialgerechtigkeit' walten läßt. In dieser Hinsicht wäre die Frage interessant, wie die Kunst (die Literatur) der Moderne sich darin überbietet, Medienreflexion und das Experimentieren mit Wahrnehmungen und Kommunikationen im Bezug auf informationstechnologische Entwicklungen zu inszenieren, die sie selbst mit provoziert. Es wäre zu beobachten, wie die medial bedingten Krisensyndrome konstant, aber auf immer wieder andere und aufregende Weise bearbeitet werden. Das heißt auch: digitale Poesie kann gar nicht das bessere Medium sein für bereits erfolgte künstlerische Leistungen. Sie kann hier Vorgegebenes allenfalls simulieren, was dann aber entweder nur zur Selbstbestimmung ex negativo oder zur Didaktik gerät. Digitale Poesie muß vielmehr ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten erproben und aufbrauchen, um qualitativ an den Stand des in der Tradition Erreichten anzuschließen.