Auf hoher Seh in der Turing-Galaxis
Visuelle Poesie und Hypermedia


Friedrich W. Block

»Daß das Verstehende, das Kreative selbst ein Mechanismus ist,« bildet für Oswald Wiener den Kern einer Kunst und »Poetik im Zeitalter naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorien«. Im Akt des Kunstmachens, in der buchstäblichen Poesie, liege die Möglichkeit, Aufmerksamkeit für die elementaren Bedingungen menschlicher Aktivität zu gewinnen. Dem zentralen Problem des ›Verstehens von Verstehen‹ würden daher die Anstrengungen der Wissenschaften wie auch der verschiedenen avancierten und ›experimentellen‹ Künste gelten. Als für diesen Zusammenhang grundlegendes Modell sieht Wiener das Konzept der universellen Turing-Maschine, deren Operationen ihrerseits, bei aller möglichen Unterschiedlichkeit, als Turing-Maschinen beschreibbar wären.

Der Computer stellt offenbar die technische Errungenschaft dar, die diesem Modell optimal entspricht. In diesem Sinne steht er als Medium und als Metapher (schon etymologisch geht es also um Vermittlung) im Zentrum der aktuellen Medienkunst und ihrer Ästhetik. Die orientierende Rolle, die Oswald Wiener im Bereich experimenteller Poesie bis heute spielt, aber auch die medienkritische Haltung, die in das Programm visueller Poesie eingeschrieben ist, lassen fragen, wie in einer ›hohen Seh‹ (Franzobel) der Turing-Galaxis (V. Grassmuck) navigiert wird.

Der Stand der Dinge

Schaut man in Reihen, Anthologien und Kataloge, die die visuelle Poesie im Mitteleuropa der 80er und 90er Jahre repräsentieren, so finden sich kaum Hinweise auf Arbeiten, die den Computer über ein Schreib- und Grafikwerkzeug für Druck- und Blattwerke hinaus benutzen. Der Befund betrifft sowohl die kanonischen wie auch die jüngeren Vertreter dieses nach wie vor sehr aktiven Kunstbereichs. Die Gegenprobe, der Versuch, die vertretenen Autoren und Künstler im Speicherbereich der elektronischen Literatur aufzufinden, liefert mir derzeit ein ähnliches Bild. Dabei muß ich die Subjektivität dieses Eindrucks betonen, die auch noch weitgehend gutenbergisch geprägt ist und noch kein rechtes ›Home‹ im digitalen Netz gefunden hat.

Auf der kommunikativen Handlungsebene ist damit zuerst ein Distributionsproblem angesprochen: Das Internet ist einerseits so global wie unübersichtlich, und was andererseits nicht ins Netz gelangt, was an visueller Poesie also auf Disketten oder CD-Rom gespeichert wird, ist hier bislang noch schwer zugänglich. Allerdings macht die Recherche im Internet schnell die neuen, zumal die nicht ökonomisch interessierten und direkten Präsentationsmöglichkeiten deutlich, auch im Hinblick auf Arbeiten, die die Hypermedien ästhetisch nicht spezifisch nutzen (Vgl z. B. die offene Anthologie von Kenneth Goldsmith mit zumindest in der Präsentationsform ›konventioneller‹ visueller Poesie vor allem aus Amerika). [...]

Immerhin finden sich in Dokumentationen aus dem deutschsprachigen Raum der letzten Jahre doch schon einige Beispiele visueller Poesie, die die digitalen Medien spezifisch nutzen. In »Die Sprache der Kunst« (1993) ist Jeffrey Shaws »Lesbare Stadt« vorgestellt und in »Kritzikratzi« (1993) und »linzer notate - positionen« (1994) finden sich Hinweise auf hypermediale Arbeiten von André Vallias und Siegfried Holzbauer.1 Für weitere Beispiele muß man sich vor allem weiter westlich orientieren, nach Frankreich etwa, wo seit 1988 die Gruppe L.A.I.R.E. aktiv ist und ihr Organ »alire« 1989 erstmals in Form von drei Disketten oder auch das von Jean-Pierre Balpe herausgegebene E-journal »KAOS« erscheinen. Eine soeben erschiene und von Eduardo Kac betreute Sondernummer der amerikanischen Zeitschrift »Visible Language« gibt erstmals Einblick in die Poetik internationaler ›new media poetry‹.2 Aber auch hierzulande zeigte bereits 1992 die ›Galerie am Markt‹ im ostdeutschen Annaberg-Buchholz, dem Heimatort von Carlfriedrich Claus, in einer ihrer letzten Ausstellungen und kaum beachtet ›digitale Dichtkunst‹ aus Brasilien, Deutschland, Österreich, Portugal und den USA.3 Unsere weitere Darstellung bezieht sich im wesentlichen auf das mit diesen Hinweisen abgesteckte Feld computergenerierter visueller Poesie. An wiederum subjektiv ausgewählten Beispielen soll es dabei besonders um die rezeptionsästhetische Frage gehen, welche spezifische Anwendung diese Texte finden können.

Visuelle Poesie als ›Naturzustand‹ von Hypertexten?

Studiert man die Theorien zu elektronischen Texten, so macht man schnell eine zunächst verblüffende Beobachtung: Sie reformulieren bezüglich der textuellen Möglichkeiten und Auswirkungen des Computermedium ständig Positionen der modernen Avantgarden, des literarischen Experiments, insbesondere auch der visuellen Poesie. Dies gilt nicht nur im Bezug auf dezidiert literarische Texte, sondern auf jegliches Schreiben und Lesen von Hyper- und Cybertexten. Als grundsätzliche Aspekte werden u. a. die Explizierung von Räumlichkeit und Visualität, die Intermedialität, die Konzeption eines aktiven Lesers als zweiter Autor und die Selbstreflexivität im Gebrauch von Hypertexten betont - Auffassungen wie sie spezifisch für Seh-Texte (Christina Weiß) und den Umgang mit ihnen herausgestellt wurden:

Die Räumlichkeit von Hypertexten wird material begründet und daher nicht nur zu einer Frage der Imagination, sondern auch der sinnlichen Wahrnehmung. Jay David Bolter etwa spricht von einem neuen visuellen »Writing Space« (Hillsday usw. 1991) mit konzeptuellen und kulturellen Entsprechungen. Dabei gelten die Nicht- oder Multi-Linearität von Schrift und Formulierung bzw. das Aufbrechen der Zeile und die intra- und intertextuelle Fragmentierung als entscheidende Kriterien der Verräumlichung, die mit Metaphern wie Landschaft, Topographie oder Netzwerk umschrieben wird. »The end of the line«, d. h. das Ende ihrer Vorherrschaft wird verkündet, da im Hypertext »the line, the tree and the network all become visible structures at the writer's and reader's disposal« (114). Dieses Schreiben und Lesen wird topographisch, weil es sowohl visuell als auch sprachlich und, wie Bolter meint, mit ›buchstäblichen‹ Orten - »spatially realized topics« (25) - agiert. Anders als im druck- oder handschriftlichen Medium, wo topographisches Schreiben ebenfalls konzeptualisiert werden könne, exemplarisch eben in den literarischen Avantgarden, werde es im Computer quasi natürlich. Die Intermedialität (cf. Dick Higgins) der Verbindung von Wort und Bild werde zudem dadurch deutlich, daß jeder Buchstabe auf dem Bildschirm gepixelt, d. h. grafisch aus Quadraten bzw. Rechtecken aufgebaut ist bzw. mit der gleichen Software erzeugt werden kann wie ein bildliches Element. Das digitale Medium ist inter- und hypermedial, daher synästhetisch (27), weil es alle vorgängigen (technischen) Medien integrieren kann. Die Möglichkeit, Lexia, also distinkte und über Links verbundene textuelle Einheiten, nicht- bzw. multilinear auszuwählen und zu verknüpfen, begründet die Aktivität des Lesers. Statt passiv zu konsumieren, können und müssen er oder sie zumindest teilweise die angestammte Rolle eines Produzenten übernehmen. [...]

Unseren Abriß, der bewußt auf Parallelen zu Theorien der Visuellen Poesie verkürzt wurde, können wir mit folgender Meinung Bolters resümieren: »Topographic writing redefines the tradition of modernism [i. e. experimental literature] for a new medium« (132) und: »Concrete poetry too belongs into the computer« (145).

Diese in enger Nachbarschaft zur poststrukturalistischen Philosophie und Literaturwissenschaft betriebene Ästhetisierung der Medientheorie bedarf zunächst einer Relativierung, will man über den Zusammenhang von Kunst und Hypermedien sprechen. Medien haben an sich die Eigenschaft, in ihrem Gebrauch, also im Prozeß von Beobachtungen und Formbildungen, unbeobachtbar zu sein. Es macht wenig Sinn, bei einer Gebrauchsanweisung, einer Nachrichtenmeldung, in einem juristischen oder politischen Diskurs, die hypertextuell vermittelt sind, ständig zwischen Medium und Message zu oszillieren, die Strukturierung zu reflektieren, sich der Rolle des schreibenden Lesers bewußt zu werden. Kognitiv und kommunikativ geht es je nach sozialen und kulturellen Kontext um spezifische Beiträge, die die Aufmerksamkeit auf Werte wie richtig oder falsch, informativ oder nicht, recht oder unrecht usw. lenken. Um diesen Zweck zu erfüllen, dürfen technische Medien nicht ›stören‹, ›irritieren‹, ›verfremden‹. Kommen sie aber ›quasi natürlich‹ (s. o.) zum Einsatz, steht das einer ästhetischen Nutzung geradezu entgegen. [...]

Zwei Fragen erwachsen aus diesen Überlegungen für die folgende Besprechung einiger Beispiele: Welche spezifischen Beiträge erbringen sie im Kontext einer literarischen Nutzung der Computermedien, und wie erweitern sie das bisherige Spektrum visueller Poesie?

Computergenerierte Texte im Rahmen experimenteller Poetik

Wenden wir uns zunächst der ersten Frage zu. In der Diskussion zu Hypertexten fällt auf, daß sie sich vor allem auf wenige, inzwischen kanonische literarische Beispiele stützt, allen voran Michael Joyces »Afternoon, a story« (1987). Wie dieser Roman sind auch die anderen Beispiele fast ausnahmslos narrative Texte, die vor allem an die Tradition der klassischen Montageprosa, des Nouveau Roman und der Metafiction anschließen. [...]

Auch wird in »Afternoon« weiterhin erzählt, die ›Anti-Narrativität‹ verdankt sich dem Durchbrechen kontinuierlicher (monolinearer) Handlung und der Undurchsichtigkeit von Erzählebenen. Liest man in einzelnen Lexia, so findet man aber konventionelle Textstruktur und schwerlich eine so filigrane multilineare Syntax wie etwa in dem häufig als Vorläufer zitierten »Finnegans Wake« oder auch dessen Adaption durch John Cage. Lyrik bzw. Poesie sind bislang relativ selten im hypertextuellen Medium vertreten, möglicherweise, weil es eher Großformen anspricht, für die es sinnvoller anwendbar zu sein scheint als für ein kurzes Gedicht, das in einer Lexia Platz findet und ebensogut auf einer Papierseite gedruckt sein könnte. John Cayley kommt daher zu dem lakonischen Urteil: »Hypertext, as literature, is still in its infancy.«

Während Bolter (a. a. O., 164f.) jeden, zumindest jeden literarischen Hypertext für in sich dekonstruktiv hält, womit sich dekonstruktivistische Kritik mehr oder weniger von selbst erledige, zeigen Autoren wie Cayley und Jim Rosenberg, daß ›traditionelle‹ Hypertexte sehr wohl künstlerisch zu dekonstruieren und zu erweitern sind. Cayley setzt dazu an der immer gebräuchlicheren Link-Node-Struktur und der Form der Lexia an und öffnet sie mit Verfahren, die aus der Tradition der visuellen und konkreten Poesie oder von Oulipo adaptiert werden. Gewöhnlich werden Lexia so mit einander verbunden, daß der Leser zwischen ihnen je nach Verknüpfungsart in eine oder mehrere Richtungen navigieren kann. Die Lexia selbst, meist bestehend aus einer kurzen Prosapassage, aber bleibt von diesem Verfahren ausgenommen und innerhalb des Raumes eines ›Fensters‹ am Bildschirm fixiert. Cayley geht mit der hypertextuellen Verknüpfungspraxis dagegen meist bis zur Wortebene, überschreitet aber auch diese. [...]

Auch Jim Rosenberg bricht in seinen Intergrams die konventionelle und lineare Syntax der Lexia auf. Dabei torpediert er die Reisemetaphorik in der Poetik des Hypertextes und die Orientierung des Benutzers mit der Frage, wo man sich im Writing Space befinde, wenn man nirgendwo hingehe. Das Hier oder ›home‹ ist dann gewöhnlich immer fraglos die jeweilige Lexia. Wo aber befinde ich mich, wenn ich simultan mehrere Lexia vor mir habe, und was ist dann eigentlich die Lexia - das Ganze oder seine Teile? Rosenberg unterscheidet zwischen einer Logik disjunktiver Verbindungen, die dem Benutzer nur Entweder/oder-Entscheidungen erlauben und einer der Konjunktion, die zudem ein Sowohl/als-auch zuläßt. Dazu legt er mehrere Lexia nicht nur mit Anklang an die Konstellation neben-, sondern auch übereinander. Die Einheiten sind nicht durch Links verbunden, sodaß auch diese Form von Linearität unterminiert wird. Stattdessen gibt es unsichtbare ›heiße Stellen‹, die durch Bewegung der Maus bzw. des Cursors ertastet und ohne Klick aktiviert werden müssen, damit Textschichten freigelegt oder, wie er sagt, ›aufgelesen‹ (gathered) werden können.

Abbildung 1 zeigt einen Bildschirmausdruck mit der komplexen diagrammatischen Struktur von »Intergram 9« (1991). Während das obere Rechteck ein geschlossenes Feld sich überlagernder Textschichten darstellt, ist das untere bis zu einem einzelnen Satz geöffnet, der in diesem Zustand gelesen werden kann. Das rechte Feld zeigt drei nebeneinander liegende Palimpseste. Über den grafischen Knopf rechts unten kann ein vorgelagertes Diagramm aufgerufen werden, das wiederum in einer dreifachen syntaktischen Beziehung zum hier gezeigten steht. Auch die Sätze selbst sind ›antigrammatisch‹ organisiert, und die semantische Konstruktion durch den Leser kann schon auf dieser Ebene über polylineare syntaktische Kombinationen erfolgen, die sich dann quer durch die Textschichten erweitern mögen.

Mit der sehr dichten und paradoxen Verbindung von Simultaneität und Sequentialität ermöglicht Rosenberg, zwischen Lesen und Betrachten tatsächlich ständig zu ›oszillieren‹ (s. o.), ›Lesbares in Unlesbares zu überführen‹ (cf. Claus Bremer) und umgekehrt, ermöglicht ein Hin und Her zwischen »looking at and looking through« (Bolter 1991, 166ff.), das die Prozesse des Lesens wie auch des Sehens bzw. die Semiose explizit werden läßt.

In den Zusammenhang einer dekonstruktiven Bearbeitung des Hypertextmediums kann auch die Arbeit »horizontal rules the world« (1996) von Siegfried Holzbauer gestellt werden. Dieser reduktionistische Text führt die Leser bzw. Betrachter nonverbal durch eine Sequenz von unterschiedlich gestalteten Horizontallinien und Rechtecken, mit denen gewöhnlich Textfelder im Hypertext unterteilt werden, die hier aber leer bleiben. Somit wird die nach wie vor zweidimensionale und typografische, in der Konvention der Drucktextseite stehende Struktur von Lexia thematisiert.

Hypermedialität und Animation

Um nun auch zur zweiten der oben gestellten Fragen zu kommen, läßt sich an den genannten Beispielen schon deutlich erkennen, wie visuelle Poesie mittels der Hypermedien erweitert wird: Sie erhält neue Dimensionen von Dynamik. Gegenüber dem fixierten Zustand von zweidimensionalen Blatt- und Druckwerken und von dreidimensionalen Textobjekten sind die Texte auf dem Bildschirm graduell vorläufig und variabel, sie verändern sich während der Lektüre und sind veränderbar von Seiten des Benutzers. Damit eröffnen sich auch neue Möglichkeiten, Rezeption zu konzeptualisieren. Der wichtige Aspekt der Interaktivität ist schon angeklungen, wir kommen noch auf ihn zurück. Zuvor beziehen wir die Dynamisierung auf die Möglichkeit, visuelle Texte zu animieren und damit das komplementäre Verhältnis von Zeit und Raum spezifisch zu gestalten. Daß die strikte Trennung dieser beiden Kategorien, wie Lessing sie im Laokoon für das semiotische Verhältnis von Text und Bild formuliert hatte, nicht akzeptiert werden kann, hat visuelle Poesie immer schon deutlicher als jede andere Literatur vorgeführt.

Animationen schließen an Vorformen wie kinetische Poesie, besonders aber auch wie die Versuche mit Textfilmen zu Beginn der 70er Jahre an, die eher Einzelerscheinungen blieben.4 Sie bringen den Zeitfaktor in sehr differenzierbarer Weise in die Struktur von visuellen Texten wie auch die Form ihrer Rezeption ein. In diesem Sinne arbeitet etwa der Engländer Robert Kendall an seiner Softpoetry, deren kinetische und mit Geräuschen, Klängen und Sprachlauten kombinierte Gedichte er als »Schauspiel« auf dem Bildschirm inszeniert und versucht, die Dynamik oraler Artikulation in die Textform einzubringen. Dies gilt auch für die Polypoesia von Enzo Minarelli, der seine computergenerierten Videogedichte zudem auf seine lautpoetischen Performances hin konzipiert und so auch das Verhältnis von materieller und immaterieller Textdynamik ausstellt. [...]

Lautpoetischer Artikulation entspricht auch die Arbeit von Patrick-Henri Burgaud, der die Komposition von Bewegungsabläufen bereits auf der Ebene von Graphemen ansetzt, dabei nicht typo-, sondern kalligraphisch schreibt und ebenfalls Laute und Geräusche einbindet. Burgaud gehört in den Einzugsbereich der Gruppe L.A.I.R.E. um Tibor Papp und Philippe Bootz, die sich vor allem mit dem Phänomen der Zeit bzw. der Flüchtigkeit beim Lesen dynamischer visueller Texte beschäftigen. [...]

In allen Fällen muß beschleunigt fließende Information in den kognitiv und kulturell unterschiedlich figurierten Dimensionen des Lesens und Sehens selektiert, gespeichert und verarbeitet werden - um dabei permanent blinde Flecken zu erzeugen. Thematisiert wird auf diese Weise das wachsende Problem einer medienkulturell bedingten Gedächtnislosigkeit (cf. P. M. Spangenbergs »Medientheorie der Gedächtnislosigkeit«).

Ein etwas anders gelagerter Zugriff auf die Dynamik von Zeit und Raum findet sich in der Arbeit von André Vallias. Hier ist Animation ein - man könnte sagen: ›prometheisches‹ - Element neben anderen in einem von ihm als »diagrammatisch« bezeichneten Konstruktionsprozeß. In seiner Arbeit »Felsen« (1994) wird die linear-zeitliche Rhythmik von Lyrik räumlich transformiert, indem das metrischen Schema einer sapphischen Strophe als mobile Netzgraphik entworfen wird. Die erste Phase der Animation zeigt zunächst die Entstehung der Topographie der Strophe, während dann in einem zweiten Teil ein virtuelles Kamera- bzw. Betrachterauge zu altgriechischen Klängen durch die entstandene ›Landschaft‹ fährt. Anders als in den bisher besprochenen Arbeiten, wo sich die Bewegung für den Betrachter wie von außen ereignet, wird sie hier als seine eigene simuliert - dieses Prinzip wird uns bei Jeffrey Shaw noch einmal begegnen. In »Felsen« wird die Strukturverwandtschaft (die diagrammatische Ikonizität im Sinne von Peirce) von Zeit und Raum im Gedicht wie auch im Bezug auf die Akte des Sehens, Hörens und Lesens bildikonisch thematisiert. [...]

›Neue Leser‹ und Interaktivität

Das Prinzip der Bewegung, mit der digitale visuelle Poesie als vorläufig, flüssig, veränderbar konzipiert wird, ist eng mit der Möglichkeit der sogenannten Interaktivität verbunden, der wir uns in einem letzten Abschnitt widmen wollen. Sie betrifft nicht nur Hypertexte wie von Cayley und Rosenberg, sondern auch die soeben besprochenen Animationen. Alle in diesem Zusammenhang genannten Künstler haben in der letzten Zeit interaktive Texte erarbeitet. Damit ist übrigens auch ein maßgeblicher Unterschied zu Textfilmen und reiner Videopoesie angezeigt, denen diese Möglichkeit fehlt - mit Ausnahme der erwähnten Pause-Taste.

Mit Interaktivität ist also zunächst einmal Aktivierung des Rezipienten gemeint. Das hat natürlich Tradition. Die Avantgarden der Moderne haben immer wieder einen Leser visioniert, der nicht konsumiert, sondern bewußt in den ästhetischen Prozeß eingreift. Der ›neue Leser‹ wird bekanntlich auch im konkretistischen Programm visueller Poesie beschworen. Exemplarisch geschieht dies z. B. in dem als Schullesebuch angelegten und von S. J. Schmidt herausgegebenen Band »konkrete dichtung. texte und theorien« (München 1972): »Produktive, spontane Leser, die Veränderungen als notwendig und interessant betrachten und bereit sind, ohne gelernte Vorurteile neue Möglichkeiten zu durchdenken. Mutige Leser, die sich auf ungesichertes Gebiet wagen und auf die Rockzipfel der Autoritäten verzichten können. Neugierige Leser, die bereit sind, neue Entwürfe zu finden und aufzugreifen« (Vorwort, 6f.). Fehlende adäquate Erwartungshorizonte sollen durch poetologische Theorie kompensiert werden. Dieser neue Leser ist unsentimental, intellektuell und kreativ, ein gleichberechtigter Partner des Autors. Auch Christina Weiß (»Seh-Texte«. Diss. Saarbrücken 1982) betont diese Rezeptionshaltungen als adäquat für visuelle Poesie. Eine statische Lesehaltung, die nach fertigen Rezepten handelt, sei aufzugeben zugunsten des Nachvollzugs der »Beweglichkeit des Textmaterials« (143). Das heißt, daß die durch den Text angebotenen polyvalenten Perspektiven durchgespielt und reflektiert, »das Oszillieren von Möglichkeiten von Textvarianten« (ebd.) mitgelesen werden. Die Frage, die das Schullesebuch stellt: »Aber gibt es solche Leser?« (a. a. O., 7), ist nach wie vor schwer zu beantworten, und dies liegt auch am Konzept selbst:

Vor dem Hintergrund digitaler Dichtkunst wird besonders deutlich, daß es beim ›konkreten Sehen und Lesen‹ ausschließlich um kognitive Aktivität geht, deren potentielle Dynamik mit der Textstruktur begründet und auch wieder metaphorisch als »Beweglichkeit des Textmaterials« auf diese Struktur zurückprojeziert wird. Es geht um innere, mentale Bewegung, die allerdings gerade kein Pendant in ihrer materiellen Umwelt hat. Geschichtlich wird man diese Auffassung damit erklären können, daß sie im Kontext der Konzeptkunst entsteht: Diese konzeptualisiert das Konzept - in der Literatur entsprechend die ›konkrete Semantik‹ (S. J. Schmidt) und den Prozeß der Interpretation. Die ›Materialität‹ des Kunstwerks versteht sich in erster Linie als Funktion der Idee.

Wenn nun aber von Interaktivität gesprochen wird, so bedeutet dies für unsere Beispiele, daß das Ideelle der Aktivität um zwei materielle Komponenten ergänzt wird: Das vormals statische Material der Signifikanten wird beweglich, und seine Bewegung erfolgt in Abhängigkeit von der physischen Präsenz des Rezipienten. Der Körper wird daher selbst zu einem Signifikanten des Werkes neben anderen, die ihn mitqualifizieren. Auch darin besteht eine entscheidende Erweiterung der visuellen Poesie. Wir wollen diesen Aspekt abschließend an zwei Beispielen veranschaulichen, die die körperliche Aktivität des Benutzers deutlicher einsetzen, als dies für die ›normale‹, aber immerhin notwendige Betätigung von Tastatur und Maus gegeben ist.

Das erste Beispiel ist die digitale Holopoetry von Eduardo Kac. In diesen Arbeiten werden animierte Modulationen von sprachlichen und graphischen Formen auf das Endmedium eines Hologramms übertragen, das in weißem Licht betrachtet werden kann. Je nach körperlicher Bewegung des Betrachters können er oder sie unterschiedliche Fragmente des Textes, Veränderungen der Position und Form von Buchstaben und Wörtern, von Farben, Größenverhältnissen, Graden der Transparenz in einem virtuellen dreidimensionalen Raum wahrnehmen. [...]

Die Rezeption verbraucht einerseits kontinuierlich Zeit, andererseits wird die Zeit in der Veränderung als diskontinuierlich erfahrbar, als reversibel durch das Hin und Her des Körpers, dem ein Vor- und Rücklauf der Bewegungen im virtuellen Raum entspricht. Dieses ›Oszillieren‹ veranschaulicht eine Syntax fließender Differenz, des Changierens zwischen Präsenz und Appräsenz, Auflösung und Zusammensetzung, Medium und Form der Signifikanten. Das Dazwischen ermöglicht in einer Weise, wie sie im Printmedium nicht möglich wäre, die exemplarische Beobachtung semantischer Konstruktion und Dekonstruktion [...]

Ein Aspekt von Interaktivität ist die Funktion des virtuellen Raumes, in dem sich Text ereignet und in den die Rezipienten eingreifen. Es sollte an dieser Stelle daran erinnert werden, daß bereits Ende der 60er Jahre Aaron Marcus wohl als erster überhaupt mit interaktiven Bildschimtexten und grafischen Interfaces, die einen dreidimensionalen Raum simulieren, künstlerisch experimentiert hat. Seine »Cybernetic Landscapes« (1971ff.) erlauben dem Benutzer, per Joystick und Tastatur virtuell durch eine Landschaft zu wandern, die typographische bzw. textuelle Elemente enthält. [...] In Marcus' Poetik tauchen auch bereits die wesentlichen Stichworte auf, die uns hier beschäftigen: Interaktivität, Simulation, Bewegung, Diagrammatizität. [...]

Marcus' Arbeit führt uns direkt zu dem zweiten der angekündigten Beispiele, das erstaunliche Parallelen zeigt. Es handelt sich um eines der momentan berühmtesten Medienkunstwerke, das der visuellen Poesie zuzurechnen ist: »The Legible City« (1989-91) von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld.5 Hier kann der Benutzer auf einem Fahrrad durch eine virtuelle Stadt mit einer dreidimensionalen Buchstabenarchitektur fahren, die vor ihm auf eine Videoleinwand projeziert wird. Die Arbeit existiert in drei Versionen: Auf den Grundrissen von Manhatten, der Altstadt von Amsterdam und Karlsruhe wurden statt der Häuser maßstabgetreu Buchstaben errichtet. Entlang der Straßen sind Passagen aus Texten plaziert, die sich auf den jeweiligen Ort, an dem sie stehen, beziehen (fiktionale Texte in der Manhatten-Version, historisches Archivmaterial in den anderen beiden Fällen). Der Benutzer kann diese Texte fahrend betrachten und lesen, er kann dabei Richtung und Geschwindigkeit bestimmen, kann vom Weg abweichen und so willkürliche Texte erstellen. Vor sich hat er einen Stadtplan auf einem kleinen LCD-Bildschirm, auf dem die augenblickliche Position ermittelt werden kann.

Innerhalb des virtuellen Raumes werden auf diese Weise eine ganze Reihe angestammter Metaphern, die den Rezipienten und seinen Körper betreffen, dekonstruiert, in dem sie buchstäblich ins Bild gesetzt werden: Das betrifft die Metapher des Textes als Stadt und des Lesens als Bewohnen oder Flanieren - Metaphern, die nicht nur moderne Literatur und Architektur begleiten, sondern auch im Internet große Bedeutung bei der Organisation von Telepräsenz haben. Weiter ist der Leser / Betrachter ›im‹ Text bzw. ›im‹ Bild. Die entsprechenden Konzepte der Rezeptionsästhetik können im Licht dieses Werkes in ihrem Idealismus reflektiert werden, der einen rein geistigen, entkörperten Rezipienten zugrundelegt (darin den oben genannten Vorstellungen zum konkretistischen Leser verwandt). Entsprechendes gilt für die Postulate einer subjektiven Lektüre.

Ist der Leser im Bild, so wird hier außerdem veranschaulicht, daß er selbst bzw. sein Körper zum dreidimensionalen Signifikanten, daß er zur »Inschrift in den Raum« (Roland Barthes) wird: Metaphern des Körpers als Wohnung der Seele oder des Selbst und als Fleischwerdung des Wortes werden hier ebenfalls bildikonisch thematisiert.

Dekonstruiert wird allerdings auch das Konstrukt des virtuellen Raumes und Körpers, wenn der Benutzer sich außerhalb des virtuellen und innerhalb des ›realen‹ Raumes orientiert, in dem sich verkörpertes Wahrnehmen, Lesen, Hören, Schreiben, Sprechen usw. ereignen. Dazu ist die Schnittstelle des Fahrrades sehr gut gewählt: So sehr man auch unter Einsatz der ganzen Körperkraft strampelt und sich abmüht, im Environment selbst kommt man keinen Millimeter vorwärts. Diese Ironie macht ein wesentliches Moment der Mediennutzung deutlich: Bei aller ›immateriellen‹ Bewegung bleiben die Benutzer an die Schnittstellen ›gefesselt‹ - auch an den Rahmen der Videoleinwand bzw. andernorts an den Bildschirm, die Buchseite, das Blatt. Sie bleiben generell in ihrer kognitiven und kommunikativen, aber auch in ihrer senso-motorischen Aktivität gebunden an die medial und kulturell bedingten Konstrukte, mit denen sie sich und ihre Umwelt er-fahren. Zu diesen Konstrukten gehören die Konzepte des virtuellen Raumes und Körpers ebenso wie die des ›realen‹.

Dieser medienkritische Aspekt mußt m. E. der im Kontext der Techno-Ästhetik nicht seltenen Euphorie entgegengehalten werden, die den Musilschen Möglichkeitssinn mit Machbarkeitssinn verwechselt. Wie unsere Beispiele in interessanter und sehr unterschiedlicher Weise zeigen, experimentiert Medienkunst nicht nur mit neuen Ausdrucksformen, sie ermöglicht auch, die Poiésis der Mediennutzung zu beobachten. In diesem Sinne also wäre Bolter zuzustimmen: Visuelle Poesie gehört auch in den Computer!


Anmerkungen

  1. Christian Steinbacher (Hg.): »linzer notate - positionen«, Linz 1994; Franzobel (Hg.): »Kritzikratzi. Anthologie gegenwärtiger visueller Poesie«, Wien 1993; »Die Sprache der Kunst. Die Beziehung von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, Stuttgart 1993 (Kat. Kunsthalle Wien, Frankfurter Kunstverein), darin der Beitrag von Florian Rötzer: »The Legible City«, S. 337-342. (Zurück zum Text)
  2. »New Media Poetry: Poetic Innovation and New Technologies«, in: »Visible Language«, 1996; H. 2. Es finden sich poetologische Beiträge der Künstler Philippe Bootz, John Cayley, Ladislao Pablo Györi, Ernesto de Melo e Castro, Eduardo Kac, Jim Rosenberg und André Vallias. Eric Vos gibt eine gute Einführung in Poetik und Schreibweisen (»New Media Poetry. Theory and Strategies«) (Zurück zum Text)
  3. »p0es1e. digitale dichtkunst. Eine Ausstellung computergenerierter Gedichte«, organisiert von André Vallias in Zusammenarbeit mit Friedrich Block, Galerie am Markt Annaberg-Buchholz. 12. Sept. - 3. Okt. 1992. Beteiligt waren Arnaldo Antunes, Friedrich W. Block, Augusto de Campos, Eduardo Kac, Richard Kostelanetz, Fritz Lichtenauer, Silvestre Pestana und André Vallias. Zur Ausstellung gestaltete Vallias einen kleinen Katalog mit Biographien und Abbildungen zu den Arbeiten. (Zurück zum Text)
  4. Vgl. etwa Klaus-Peter Denckers Experimente mit TV-Poesie Anfang der 70er Jahre sowie Timm Ulrichs' 3-Sekunden-Film »kino/ikon« (1969). Der Portugiese Ernesto de Melo e Castro hat ebenfalls bereits 1969 Filmpoeme verfaßt und gesendet. 1980 nahm er diese Arbeit wieder auf und arbeitet heute im Bereich digital erzeugter Videopoesie.) (Zurück zum Text)
  5. Vgl. hierzu ausführlich Wenz, K. / Block, F. W.: »The construal of a city - Amsterdam, the imgagined and simulated city« (Zurück zum Text)

Original-URL: http://waste.informatik.hu-berlin.de/mtg/archiv/block.htm