Über Anmut und Stille
Zur aktuellen Ästhetik der Intermedialität
Leipzig, Freie Akademie / Gohliser Schlösschen, 27.11.00


Friedrich W. Block

Guten Abend meine Damen und Herren,

ich danke der Freien Akademie und besonders Josef Anton Riedl für die Ehre, hier zum Abschluss der Ausstellung zu "lautpoesie- und lautmusik" sprechen zu dürfen. Vielleicht erwarten Sie, dass ich Ihnen nun Details zu Formen und Geschichte des Genres "lautpoesie und -musik" näherbringe. Davor werde ich mich hüten - denn dies hat Michael Lentz schon vor mir besorgt. Er ist hier der ausgewiesene Experte, und ich würde mich mit Anstrengungen in die gleiche Richtung nur blamieren. Daher werde ich mir nur einige kurze Assoziationen zu grundsätzlichen Motiven erlauben, die ich mit der hier vertretenen Kunst verbinde. Dies ist angekündigt unter dem Arbeitstitel "Zur aktuellen Ästhetik der Intermedialität". Etwas sperrig nicht? Und Herr Riedl ist auch nicht ganz glücklich mit der Medialität, weil sie scheinbar so modisch daherkommt.

Vielleicht wäre Ihnen - und mir - angenehmer: "Über Anmut und Stille"? - Auch das ginge hin und ließe sich gleichwohl mit der Intermedialität verbinden. Wir werden sehen.

Beginnen wir also mit der Anmut. Und nun bitte ich Sie, sich vor Ihrem geistigen Auge vorzustellen ein Hexagramm aus sechs übereinandergelagerten Linien: zuunterst eine einfache Linie, darüber eine weitere Linie, die jedoch unterbrochen ist, darüber wieder eine ganze Linie, gefolgt von einer geteilten, darüber eine weitere geteilte und zum Schluß, oben eine ganze Linie. Dieses Hexagramm aus ganzen und geteilten Linien ist ein altes asiatisches Symbol. Es trägt den Namen "Bi", d.h. "Die Anmut", und entstammt dem über 5000 Jahre alten "Buch der Wandlungen", dem "I Ging". Dieses Buch versammelt 64 solcher Strichsymbole und versieht diese mit Kommentaren, die die kosmologische Weisheit Asiens verdichten und bis zum heutigen Tag zur Inspiration und Entscheidungshilfe dienen. Im Kommentar zum Zeichen "Bi" heißt es:

"… innen Klarheit, außen Stille. Dies ist die Ruhe der reinen Betrachtung. Wenn das Verlangen gestillt ist und der Wille zur Ruhe kommt, wird die Welt als Idee offenbar. In dieser Sicht ist die Welt schön und entrückt dem Kampf um die Existenz. Dies ist die Welt der Kunst. Allerdings - Betrachtung allein wird den Willen nicht völlig zur Ruhe bringen. Er wird wieder erwachen und dann wird alle Formschönheit nur ein kurzer Moment der Begeisterung gewesen zu sein scheinen. Daher ist dies noch nicht der wahre Weg der Befreiung ... wichtige Fragen können so nicht entschieden werden."

Dieses Zitat habe ich nun nicht direkt dem "Buch der Wandlungen" entnommen, sondern einem Text von John Cage in der Übersetzung Ernst Jandls, nämlich dem "Vortrag über etwas", der dem "Vortrag über nichts" folgt und zusammen mit "45' für einen Sprecher" den Inhalt des Bandes "Silence" bildet. In diesen Vorträgen versucht Cage, äußerst verkürzt gesagt, die Kunst - seine Kunst - auf die 'wichtigen Fragen' hin zu beziehen. "Die wichtige Frage ist was ist es das nicht einfach schön ist sondern auch häßlich, nicht bloß gut sondern auch böse, nicht bloß wahr, sondern auch Illusion".

Die wichtige Frage ist, mit anderen Worten, wie das Unterscheiden geschieht, sei es in der Symbolisierung von ganzen und geteilten Linien, sei es in den unterscheidenden Begriffspaaren und Konzepten, die die Welt bedeuten. Oder im künstlerischen Schaffen zwischen Bestimmung und Möglichkeit. Das "sowohl / als auch", "nicht nur / sondern auch" lenkt dabei die Aufmerksamkeit auf das Dazwischen, den Nichtort, der das eine vom anderen, das Nichts vom Etwas, innen von außen, schön von häßlich, das Geteilte vom Ganzen trennt, um es zugleich zu verbinden. Damit sind wir schon fast bei der Inter-Medialität.

John Cage jedenfalls hat sich der Kunst der Unterscheidung u.a. dadurch geöffnet, dass er sie dem Zufall überlassen hat. Dabei bediente er sich, wie Sie vielleicht wissen, häufig des "I Gings" mit seinen 64 Hexagrammen, die sich über das Teilen von Schafgarbenstengeln oder das Werfen von drei Münzen oder - später bei Cage - mit Hilfe eines Computerprogramms erzeugen lassen. Eine andere Methode war, bestimmte eingeführte Formulierungsweisen und Gattungen zu verschmelzen. So auch die drei Vorträge von "Silence", die Cage als Poesie verstanden wissen wollte und die nach bestimmten rhythmischen Regeln, die seine damalige Kompositionsweise bestimmten, gearbeitet sind: Zeitlich genau festgelegte Takte, Einheiten und Teile, Zäsuren und Pausen sowie Wiederholungen sorgen für die musikalische Strukturierung des sprachlichen Materials seines Vortrags.

Intermedialität ist nun die Bezeichnung für ein künstlerisches Programm, das sich solchem Ineinanderwirken vormals getrennter oder eigenständiger Gestaltungsweisen, Kunstmittel, Genres, technischer und symbolischer Medien verschreibt. Auch wenn der Begriff Intermedialität heute im Kontext der Mediendiskurse Mode sein mag, er hat eine dort selten bedachte ästhetische Tradition, in die sich die Kunst von Cage, die Kunst der Lautpoesie oder Lautmusik wie auch verwandter Erscheinungen wie konkrete oder visuelle Poesie oder auch zeitgenössische Erscheinungen der Computerkunst stellen lassen.

Der Begriff der Intermedialität als ästhetisches Konzept stammt von dem Fluxuskünstler Dick Higgins, der auch mehr oder weniger in den hier gezeigten Kreis von Künstlern gehört. Higgins also findet den Begriff der Intermedialität in der Romantik, im Werk von Coleridge auf und übernimmt ihn als Programm "um arbeiten zu definieren, die konzeptuell zwischen bereits bekannten Medien liegen". Abgegrenzt wird der Begriff von "mixed media", ein Ausdruck "der arbeiten bezeichnet, die in mehr als einem medium ausgeführt sind", wobei aber die einzelnen Medien getrennt bleiben. Entscheidend ist also der Gedanke methodischer Fusion und Innovation eingeführter Medien. Das adverbiale 'konzeptuell' verweist dabei nicht nur auf die damals gerade aktuelle Konzeptkunst, sondern verdankt sich besonders einer Rezeption der Hermeneutik Hans Georg Gadamers, dessen Leitbegriff der 'Horizontverschmelzung' von Higgins übernommen wird. Intermedialität ist für ihn vor allem ein Prozeß der konzeptuellen Fusion von Horizonten (das sind "Informationen, Gefühle, Erfahrungen und Vorstellungen"), die sich bei Künstlern oder Rezipienten mit bestimmten Medien verbinden. Intermedialität (zwischen Laut und Klang, zwischen Schrift und Bild) hat also insbesondere etwas mit der selbstbezüglichen geistigen Aktivität zu tun. Die mag sich im Umgang mit entsprechenden Arbeiten besonders gut einstellen, weil die sogenannte Fusion gerade auf das Unterschiedensein verweist, das Dazwischen.

 

Denken Sie beispielsweise an Carlfriedrich Claus, der in dieser Ausstellung selbstverständlich vertreten ist. In der Produktion seiner Sprachblätter und Lautprozesse hat er, sich selbst beobachtend, bis in die feinsten Verästelungen erforscht, wie geistige und körperliche Abläufe im Formulierungsprozess zusammenwirken. Exerzitien nannte er das. Claus Arbeiten entwickeln und vermitteln - so wie die anderen Vertreter dieser Ausstellung - Aufmerksamkeit für das 'Dazwischen' der Medien, für die Schnittstellen. Das aber heißt, sich auf den Moment zu konzentrieren, in dem die Möglichkeit aufblitzt, dass etwas in einem Medium zur Form wird (wie, in welchem Augenblick wird die Linie zur Linie, die Figur zur Figur, das Bild zum Bild, die Schrift zur Schrift, der Laut zum Laut?).

Hierher gehört auch die Topik der Grenzüberschreitung und des Neuen, die sich seit langem durch die Beschreibung intermedialer Kunst zieht - bis hin in die Ankündigung dieser Ausstellung. So geht es - ich sagte es eingangs im Bezug auf Cage - grundsätzlich um die Art und Weise des Unterscheidens, der Formulierung, der Hervorbringung, um das Wie unserer Erfahrungen, Gefühle, Vorstellungen, Erkenntnisse, um die Weisen der Welterzeugung. Und das heißt im wörtlichsten Sinne: es geht um Poiésis - "was die Ursache dafür ist, daß irgend etwas aus dem Nichtsein ins Sein übergeht", wie es in Platons Gastmahl heißt.

Das Dazwischen, die Zäsur, die Pause - das aber ist in einem nicht nur metaphorischen Sinne die Stille, Silence. ----

Die Stille ermöglicht nicht nur die Aufmerksamkeit für sich, sie ermöglicht idealerweise auch einen Augenblick der Ruhe in der unablässigen Anwendung von Unterscheidungen, Begriffen, Konzepten, Sinn. Einen Moment der Gelassenheit und des Gleichmuts. Stop making sense. Oder: es geht darum, immer besser - nichts zu verstehen.

Die Stille begegnet uns hier im Paradox einer Ausstellung von Lautpoesie und -musik. Sie begegnet uns in der Ansammlung von Schrift und Grafik, die doch weitgehend im Kontext der Produktion von Lauten stehen. Sie begegnet uns als Abwesenheit des Lauts, auf den verwiesen wird.

Lassen Sie mich zum Schluss noch auf dieses besondere Verhältnis zwischen Schrift und Laut, d.h. auch Stimme eingehen. Denn damit läßt sich nun auch etwas zur Aktualität der Lautpoesie sagen, die in den letzten Jahren durch zahlreiche Festivals in aller Welt dokumentiert wird.

Die 90er Jahre haben gezeigt, dass Kunst stark durch die medientechnologische, insbesondere die digitale Revolution bestimmt ist. Postmodern erscheint dabei das Phänomen der Verkünstlichung alles Humanen und einer Einebnung ehemals strenger Unterscheidungen wie der zwischen Körper und Geist oder auch zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Eingeleitet wurde das mit einer sogenannten linguistischen Wende. Alles erschien nur mehr als Symbolkonstruktion vermittelt über Schriftzeichen, radikalisiert in der digitalen Schrift von 0 und 1. - Nebenbei bemerkt: wir begannen heute mit der digitalen Schrift des "I Ging".

Bei Derrida etwa steht daher die "Grammatologie" unter dem Paradigma der Schrift, wobei zugleich die menschliche Stimme als Orientierungsgröße verabschiedet wird, und damit zusammen gleich die Größe Mensch. Was macht man da mit der Lautpoesie, die unbedingt von der individuellen Stimme und der körperlichen Präsenz des Laupoeten oder -musikers lebt? Ist das nicht etwas geradezu Reaktionäres? -- Weit gefehlt! Ich meine, dass die Stimmen der Laupoesie durchaus so etwas wie eine Anti-Grammatologie betreiben. Allerdings nur in dem Sinne, dass man Grammatologie untergräbt und ihren erneuten, historisch vielleicht notwendigen Ausschluss deutlich werden läßt, eben die Stimme, den Körper, den verkörperten Geist, das Individuum.

Was mir beispielsweise an Arbeiten wie von Carlfriedrich Claus oder auch Valeri Scherstjanoi so bedeutsam erscheint, ist, wie sie die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Schrift und Stimme wie auch zwischen körperlichen, geistigen und kommunikativen Konstrukten vorführen. An sich selbst exemplarisch erproben. Eigentlich treiben sie damit nur auf die Spitze, was die Postmoderne und ihre pompe funèbre des Subjekts auszeichnet: eine "Extase der Subjektivität", wie Hans Ulrich Gumbrecht das einmal genannt hat. Zugleich weisen sie die Kunst, ihre Kunst, in einer technisch und wirtschaftlich durchfunktionalisierten Welt als den Ort aus, an dem Individualität mit ihren körperlichen, emotionalen und intellektuellen Facetten sich behaupten kann. Oder sagen wir besser: an der sie sich noch beobachten und ins Verhältnis zu ihrer Umwelt setzen kann.

Lassen Sie mich mit fünf poetologischen Unterscheidungen schließen:

Inside ‘ Outside

Was liegt außen – Bewußtsein, Körper, Stimme, Äußerung, Text, Schrift, Kommunikation – was innen? Dove sono io? Immer andere in einander verschränkte Schachteln, mehr oder weniger beleuchtet, die es auseinanderzufalten gilt, um das dumpfe, körperlich und kulturell vermittelte Innerlichkeitsgefühl zu untergraben («your inside is out»), um dem Einzelnen zugleich zurückzugewinnen, was die Bewußtseinsindustrie gnadenlos vereinnahmt («your outside is in»).

Analog ‘ Digital

Das Menschmedium, die Turingmaschine. In der artikulierenden Handlung verkörpert sich der Körper als Schnittstelle zur Eigenwelt: von feuernden Synapsen über den Mund, wie er sich öffnet und schließt, bis zu den Zähl- und Zeigefingern. Wie und wo kann man sich einschalten in den Strom der genetischen, neuronalen oder auch kulturellen Selbstschriften? Welche herzstärkenden Mittel stimulieren die universale Mechanik der Hebungen und Senkungen?

Mimesis ‘ Poiesis

Daß jede Nachahmung, jedes Verstehen der Wirklichkeit Hervorbringung sei. Präsentation, Erfindung, Inszenierung statt Repräsentation. Poiesis als das Medium der Formulierung, ohne weiteren Zweck, simulationsbereit, Gesellschaft in der Gesellschaft, Gedachtes im Denken, Wahrgenommenes im Wahrnehmen erscheinen zu lassen. Allem demjenigen, «was die Ursache dafür ist, daß irgend etwas aus dem Nichtsein in das Sein übergeht, legen wir eine schaffende Tätigkeit bei, so daß eigentlich auch die Werke sämtlicher Künste Dichtungen und ihre Meister Dichter heißen müßten» (im Gelage).

Entstehen ‘ Vergehen

«Erwachen am Augenblick» – das wäre das Exerzitium ästhetischer Vermittlung, das sich für die Zwischenzustände, die Übergänge von Nochnicht und Nichtmehr sensibilisiert. Denn aus schierer Angst vor dem Tod vergegenwärtige ich wieder und wieder die Gewißheit seines Eintritts zwischen Ein und Aus und die Ungewißheit seines Zeitpunktes.

Erkenntnis ‘ Vergnügen

«Unsere Poesie jetzt / ist die Er- / kenntnis / daß wir nichts / besitzen / Alles ist daher / ein Vergnügen» (John Cage).



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