Laudatio Pegasus98


von Susanne Berkenheger


Neulich im Internet passierte ist mir folgendes: Ich hatte mich verirrt, hatte auf ein falsches Link geklickt und wollte schnell zurückeilen zu meinem Ausgangspunkt, als ein Fensterchen mich aufhielt: "Geehrter Besucher, Sie haben sich weniger als 0,3 Sekunden Zeit genommen, unser Internet-Angebot zu prüfen. Glauben Sie wirklich, das sei ausreichend? Wollen Sie nicht noch mal zurückkehren?"

Wenn Bücher das könnten? Ein Buch, welches ich nach den ersten Seiten mit einem Gähnen und der ratlosen Frage auf den Lippen "Was will mir dieser Text nur sagen?" beiseite lege, könnte aufblinken, hupen, mich beschimpfen "Hey, ich bin dir wohl zu hoch" oder locken: "Auf Seite vier werde ich wirklich spannend." Es könnte auch diskreter, geistreicher reagieren und stillschweigend seinen Inhalt ändern oder seinen Hauptpersonen zuflüstern, daß ich schon auf der ersten Seite das Interesse an ihnen verloren habe. Sollte ich später einmal weiterlesen, wie würden die mit mir sprechen?

Eines ist sicher: "Was will der Text mir sagen?" wäre nicht mehr das zentrale Problem. Vielmehr würde mich die Frage quälen: Was hat dieser Text mit mir vor? Wie komme ich wieder raus? Was kann ich tun? Und was weiß der Text noch von mir?

Bücher können das nicht, Internet-Literatur ja. Rund 270 Beiträge waren beim diesjährigen Internet-Wettbewerb von Zeit, IBM, ARD online und Radio Bremen angemeldet - und jeder hatte eine andere Rolle für den Leser vorgesehen, die ihm je verschiedene Aktionsmöglichkeiten bot.

Labyrinthartige Hypertexte wollten begangen werden, andere suchten Leser, die Fragmente zusammensetzten, Textmaschinen warteten auf Lieferanten von Wortmaterial, um es nach Belieben zu neuen Texten zusammenzusetzen. Ein Multi-User-Dungeon (MUD) lud seine Leser ein, nach Einarbeitung in die Befehlsstruktur des MUD eine Spielerfigur in seiner Abenteuerwelt zu werden und neue Räume zu programmieren. Sphinxartige Seiten warteten - manche immer noch - auf ihre Entschlüßler.

Weil nun ein Leser nie weiß, welche Möglichkeit er überhaupt hat, fahren viele Benutzer die angezeigte Seite erst einmal großflächig mit ihrer Maus ab, um zu sehen, wo sich was tut, oder sie vertiefen sich in eine Bedienungsanleitung, die immer mehr Internet-Autoren ihren Seiten voranstellen. Der Einstieg in einen Beitrag ist oft das schwierigste. Die Leser müssen nicht nur Interesse gewinnen, sie müssen auch lernen, was sie tun können und sollen, um mit den folgenden Seiten überhaupt etwas anfangen zu können.

Können Sie das, kommt der interessantere Teil der Lektüre. Jetzt zeigt sich: Wie reagiert der Text oder das Programm auf mich. Je länger ich mich in den Wochen vor der Jury-Sitzung durch die Beiträge klickte, um so mehr schienen sie mir, Gesprächspartnern zu gleichen, manche auf Anhieb sympathisch, andere bockig, schüchtern oder dreist. Als Leser sitze ich ihnen zwar stumm gegenüber, doch auf gewisse Signale reagieren sie. Ich kann meinen Computerzeigefinger heben oder mein Computerhändchen dem Text auf einen Hyperlink legen.

Beim Lesen entstehen imaginäre Räume - im Kopf des Lesers. Im Internet, so scheint es mir, wird dieser Raum auf das Internet selbst übertragen und dort, unter anderem weil der Leser dort mitmischen kann, zu einem begehbaren, virtuellen Raum uminterpretiert. Wenn ich mich länger darin aufhalte, stelle ich nicht selten fest, daß ich beobachtet werde, daß das Programm sich merkt, was ich tue, von welcher Seite ich komme, auf welches Bild ich zeige, welchen Link ich klicke. Manchmal weiß Internet-Literatur sogar noch, was ich gestern getan habe - und sie kann darauf reagieren. Viel später merke ich, daß auch der Autor mich bei meiner Lektüre beobachten kann, wenn er will. Etliche Teilnehmer des diesjährigen Wettbewerbs hatten alle Besucher auf ihren Seiten registrieren lassen. Sie wollten sehen, ob und falls ja wie lange die Jury eine bestimmte Seite auf dem Bildschirm hatte. Sicher, ob ein Juror die aufgerufene Seite auch wirklich anschaut oder sich etwa gerade eine Tasse Kaffee holt, läßt sich meines Wissens nicht feststellen - noch nicht. Wer weiß, wie das nächstes Jahr ist.

Als die Jury sich dieses Jahr traf, hatte sie nicht mehr Bewertungskriterien zur Hand als im Vorjahr. Ja, zunächst schien es gar, als sei ihr das Hauptkriterium, nämlich daß es um Literatur ginge, auch noch genommen worden. Die Ausschreibung des Pegasus 98 richtete sich an alle, die Sprache mit den technischen und künstlerischen Mitteln des Internet verknüpften, und nannte sich ansonsten schlicht Internet-Wettbewerb. Der Literaturbegriff war zu eng geworden, nachdem schon im vergangenen Jahr die eingesandten Beiträge zunehmend Text, Design, Bild, Ton kombinierten. Außerdem - darin war sich die Jury einig - sollte die Programmierung als Teil der Autorschaft anerkannt werden. Der literarische Fokus sollte jedoch beibehalten werden.

"Die Aaleskorte der Ölig" von Dirk Günther und Frank Klötgen

Die Aaleskorte, ein Bilderdrama in 20 Szenen, sucht Regisseure, die diese Szenen abdrehen. Ein schrilles Schauspielerensemble wartet schon darauf: ein Aal, ein Aalverkäufer namens Hohmännchen, der kindliche Erzähler, die Ölig und eine Reihe von Kindern, die den Aalmythos erzählen. Anhand von Regieanweisungen, wie "Hohmann bereitet die Hinrichtung vor", "Der Erzähler verstümmelt den Henker" oder "Die Ölig stellt sich ihrer Schuld" (Beispiele aus Szene neun) kann der Zuschauer-Regisseur entscheiden, was er sehen will, welche Perspektive, die gleichzeitig eine bestimmte Bedeutungsebene ist, er sehen will. Ja nach Regietalent versteht er früher oder später, worum es in der Geschichte geht. Zahlreiche Assoziationsmöglichkeiten und Vieldeutigkeiten machen Bezüge auch zwischen den verschiedenen Ebenen möglich und knüpfen das Netz der Geschichte allmählich immer enger. Die Photos überraschen mit abenteuerlich-ironischer Symbolik und kruden Szenerien. Es ist ein Genuß, die Aaleskorte in immer wieder neuem Licht abzufilmen. Am Ende einer jeden Neuverfilmung winkt Hohmännchen, der Aalverkäufer, mit dem Aalkopf goodbye. Beide grinsen, heißt es, nur - so scheint's - jedesmal über etwas anderes.

"Der Trost der Bilder" von Jürgen Daiber und Jochen Metzger

Jürgen Daiber und Jochen Metzger treiben in "Trost der Bilder" ein widersprüchliches Psychospiel mit dem Leser. Ein finsteres Männergesicht verspricht dem Leser Erfolg, Geld und sexuelle Erfüllung - und zwar mittels der Psychographie. Sobald er mehr darüber erfahren will, belehrt uns ein strahlendes Frauengesicht, daß Psychographie Müll sei, die schönen Frauen und Männer immer schon vergeben und prophezeit: "Sie werden sterben." Geschichten sollen einstweilen trösten. Wer zuvor ein paar Fragen beantwortet, erfährt, welche Trostgeschichte für ihn am besten geeignet ist. Der Trost der Geschichten liegt nun darin, daß nichts passiert. Die sich ankündigende Katastrophe tritt nicht ein oder bleibt nahezu folgenlos. Die geschilderten Nicht-Ereignisse zeugen von genauer Beobachtung und sind ebenso präzis geschrieben. "Trost der Bilder" ist graphisch perfekt inszeniert und schafft - zusammen mit Text und Ton - eine glänzende, kühle Oberfläche, unter der es ganz leise zu knirschen scheint.

"Looppool" von Bastian Böttcher

Mit dem Looppool, graphisch als Ornament dargestellt, läßt sich ein Rap steuern. Parallel laufende Erzählstränge können jederzeit neu kombiniert werden, und so dem Rapsänger neue Bedeutungen in den Mund gelegt werden. Aus "du stellst die Weichen, so wie du sie willst, du hast die Wahl und die Visionen" kann bei der nächsten Umdrehung werden: "du stellst die Weichen, da kommen all die süßen Sachen, Rumkugeln und all das auf den Tisch" Bastian Böttcher hat mit dem Looppool noch Größeres vor. Zuhörer sollen zu Autoren werden und eigene Text- und Taktteile beisteuern können. Die Jury fand den Looppool zukunftsweisend.

"Permutationen" von Florian Cramer

Florian Cramer machte aus den vorgestellten Apparaten der kombinatorischen Dichtung von 330 n. Chr. bis heute digitale Maschinen. So kann zum Beispiel Georg Philipp Harsdörffers "Fünffacher Denckring der deutschen Sprache, ein barocker Wortkombinationsautomat von 1654, der die "ganze deutsche Sprache auf einem Blättlein weisen" soll, mittels eines cgi-Programms nun ausprobiert werden. Die Leser können bekannte und neue Wörter zusammenstellen. "Permutationen" setzt die Idee der Kombinatorik, der Wechselsätze, Cut-Ups auf wissenschaftlich fundierte, aber auch spielerisch lustvolle Weise um.

Warum sollen wir Internet-Literatur lesen?

Was Internet-Literatur vom Leser fordert, tun wir andernorts schon längst: ob wir versuchen mit elektronischen Toastern ein produktives Gespräch zu führen, ob wir Internet-Suchmaschinen erklären, was sie für uns finden sollen, oder ob wir nach Strategien suchen, uns in einer komplexen, unübersichtlichen Welt und ihren Systemen zu orientieren - wir gleichen einem Leser im Internet.

Deshalb schließe ich mit dem Appell, sich in einer neuen Kulturtechnik zu üben und Internet-Literatur zu lesen, zum Beispiel die Aaleskorte. Wie schreiben die Autoren? 6,9 Milliarden Kombinationsmöglichkeiten gebe es.

Viel Spaß damit.


Gehalten bei der Preisverleihung am 22. November im ZKM Karlsruhe