Max Bense und die Kybernetik



von Elisabeth Walther


Im Januar 1942 trat Max Bense als Mathematiker und Physiker in das Labor für Hochfrequenztechnik und Utraschall von Dr. Hans Erich Hollmann in Berlin-Lichterfelde ein, in dem während des Krieges Rüstungsaufträge bearbeitet wurden. Das Labor stellte u.a. - heimlich - auch kleine Sender für Admiral Canaris her. Nach dem Krieg, als Bense Professor in Jena war, erzählte er, daß es im Labor Hollmann viele Spekulationen über zukünftige Möglichkeiten der Übertragung von Bild und Ton gegeben habe, die so weit gingen, daß man meinte, demnächst den menschlichen Körper von Deutschland bis Kalifornien "rastern" zu können, und daß dieser "Rasterkörper" dann selbständig in San Francisco spazierengehen könnte. Das Wort "Rasterkörper" spielte einige Jahre lang noch eine gewisse anekdotische Rolle. Diese und ähnliche Überlegungen können als Beginn der Untersuchungen Benses auf dem Gebiet der Information und Kommunikation angesehen werden: denn sofort nach Kriegsende - zunächst in Jena, ab l948 verstärkt in Stuttgart - versuchte er, die neuesten Publikationen auf diesen Gebieten zu bekommen.

Dr. Hollmann, 1947 von Thüringen aus in die USA übergesiedelt und bei der Nasa in Kalifornien tätig geworden, schickte ihm 1949 die 6. Auflage von Norbert Wieners "Cybernetics or control and communication in the animal and the machine", dessen 1. Auflage 1948 in Paris und Cambridge/MA englisch erschienen war. Max Bense verfolgte seither die Publikationen auf diesem Gebiet und beschaffte sich die entscheidenden Schriften, z.B. von Claude A. Shannon, Donald McKay, Warren Weaver, Colin Cherry, Gotthard Günther und vielen anderen sowie auch die Berichte über die Kybernetik-Konferenzen, die Heinz von Foerster herausgegeben hat.

Im März 1949 wollte er auf Grund dieser Studien Hans Paeschke, den Chefredakteur des Merkur, dazu bewegen, eine Abhandlung über diese neuen Möglichkeiten zu publizieren. In seinem Brief schrieb er: "Natürlich interessiert Sie die Eniac besonders. Ich verrate Ihnen, daß diese Maschine einen Raum mit 150 m Kantenlänge einnimmt, daß sie mit 15000 Röhren (Radioröhren) arbeitet, auf 150 Kilowatt läuft, 30 Tonnen wiegt und 320 Kilometer Draht aufweist. C'est tout. - Die jüngste elektronengesteuerte Maschine - ein Bericht über sie steht im Technischen Lesebuch (das bis heute nicht erschienen ist) - arbeitet mit einem Ja-Nein Prinzip. macht also vom Grundsatz der chrysippischen und russellschen Aussagenlogik Gebrauch, danach eine Aussage ein Gebilde ist, das die Eigenschaft hat, entweder wahr oder falsch zu sein. D.h. logische Prinzipien sind in technische umgesetzt worden!" - Die Überlegungen Max Benses wurden im Märzheft des Merkur von 1951 unter dem Titel "Kybernetik oder die Metatechnik einer Maschine" publiziert.

1955 schrieb er dann die Einleitung zu Louis Couffignals "Denkmaschinen ("Les Machines à Penser", 1952), das in der Übersetzung von Elisabeth Walther in Stuttgart erschien. Das zweite Buch Couffignals, "Kybernetische Grundbegriffe" (Notion de Base), bildete den 1. Band der auf Anregung Benses l960 gegründeten Reihe "Kybernetik und lnformation" des Agis-Verlags in Baden-Baden. Gotthard Günthers "Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik" erschien dort 1973 als 3. Band.

Im Juli 1955 gelang es Max Bense auch, den schon berühmten Norbert Wiener an die TH Stuttgart einzuladen, dessen Vortrag vor Professoren und Studenten, vor allem der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät, in der überfüllten Aula der TH ein stark beachtetes Ereignis war. Da Bense damals auch Gastprofessor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm war, konnte er Wiener auch zu einem Vortrag nach Ulm einladen. Max Bense genoß unter den Studenten aller Fachrichtungen der TH Stuttgart den Ruf, anregende Vorlesungen zu halten, die nicht nur philosophische Themen, sondern auch die Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik betrafen. Von der in seinen Schriften und Vorlesungen behandelten engen Abhängigkeit auch der Ästhetik von Mathematik bzw. der Verbindung von "Mathematik und dem Schönen" wurden vor allem junge Mathematiker und Elektrotechniker (Rul Gunzenhäuser, Siegfried Maser) zu verschiedenen Arbeiten angeregt. Ab Mitte der fünfziger Jahre experimentierten einige Studenten am Rechenzentrum der TH, aus dem später die Abteilung für Informatik hervorging, mit der "Zuse 22", die Professor Knödel für das Zentrum gekauft hatte. Rul Gunzenhäuser, Helmar Frank, Frieder Nake, Theo Lutz u.a. "spielten" an diesen neuen Maschinen. Theo Lutz ließ z.B. die Maschine "dichten". Max Bense fand diese Versuche faszinierend und regte Lutz an, ein Repertoire von 100 Wörtern aus Franz Kafkas "Schloß" sowie einfache Satzstrukturen programmatisch vorzugeben und die Maschine dichten zu lassen. Die erste Arbeit von Theo Lutz veröffentlichte er 1959 in seiner Zeitschrift "Augenblick". Im gleichen Jahr unterstützte er Helmar Frankes Gründung der Zeitschrift "Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft". Zu ihren Herausgebern und Mitarbeitern gehörten damals z.B. Max Bense, Felix von Gube, Gerhard Eichhorn, Helmar Frank, Gotthard Günther, Rul Gunzenhäuser, Abraham Moles und Elisabeth Walther. Anfang der sechziger Jahre begann Frieder Nake mit seinen ersten Versuchen am "Graphomat" der "Zuse 22" der TH Stuttgart. Etwa gleichzeitig arbeitete Georg Nees bei Siemens in Erlangen an "statistischen Grafiken", die er als "Modelle des künstlerischen Produktionsprozesses" verstand und auf seine Lektüre von Benses "Aesthetica III" zurückführte. Er legte seinem ersten Brief vorn 20. Dezember 1964 einige Grafiken bei, die er bewußt von ästhetischen bzw. kunsthistorischen Überlegungen aus programmiert hatte. Bense stellte diese ersten "Computer-Grafiken" im Februar 1965 in seinem Institut aus. Zur Ausstellung erschien in der edition rot als Nr. 19 das Büchlein "computer-grafik". Es enthielt die Abhandlungen "Über die Programme der stochastischen Computer-Grafiken" von Georg Nees mit sechs Computer-Grafiken und "Projekte generativer Ästhetik" von Max Bense. Die Ausstellung war ein Ärgernis für die eingeladenen Künstler und Kunstwissenschaftler, aber eine Ermutigung für Frieder Nake, nun seine Versuche ebenfalls bekannt zu machen. Wendelin Niedlich zeigte die Arbeiten beider Autoren in seiner Stuttgarter Buchhandlung im Herbst 1965. Danach sorgten sie an vielen Orten des In- und Auslands, in Galerien und Institutionen für Aufsehen. Die Ausstellungen wurden mehrfach von Bense selbst eingeleitet, der diese Kunst vorsichtig "künstliche Kunst" nannte. Georg Nees promovierte dann 1968 bei Max Bense mit der Dissertation "Generative Computergraphik", die 1969 als Buch erschien.

Dieser kurze Abriß der ersten Versuche auf dem Gebiet der Kybernetik und Computerkunst, deren Weiterentwickung heute als fast selbstverständlich gilt, soll belegen, daß sie Max Benses Einsatz, Anregungen und Überzeugungskraft in den fünfziger und sechziger Jahren viel zu verdanken haben.

[Aus: Computer Art Faszination", 1999, S. 360]