In ähnlicher Form erschienen in:
Florian Hartling / Beat Suter [Hg.] Archivierung von digitaler Literatur:
Probleme – Tendenzen – Perspektiven, Frankfurt am Main et
al.: Peter Lang 2010. (=Sonderheft SPIEL: Siegener Periodicum zur Internationalen
Empirischen Literaturwissenschaft. Jg. 29 (2010). H. 1+2)
>> zum Buch Johannes Auer Archivierung von performativer Netzliteratur. Eine ernste Polemik When we talk about literature based on the computer, it is not possible to distinguish between content and describing hard- and software. This is of crucial consequence for the filing. Netliterature that has the character of a work of art is to be divided into works of art that need proprietary software as a basis to make a performance possible and works that rely on open(ed) standards. Talking about the latter it is possible to file works together with the source code of the software that is needed to perform them and the documentation of the open standard. If you are interested in this kind of thing you will always be able to reconstruct a functioning platform on a universal machine of your own time. Digital works of art depending on proprietary software, however, typically must be allocated to the performance art. Therefore this type of performance art with proprietary software can only be filed as documentation. This is true for any performing netliterature that does not have the character of a work of art. Therefore, a digital piece of work that has not been documented after a certain time hereby is sufficiently filed. Typologically the phenomenon of weblogs cannot be assigned to network literature. Blogs are a „digital enlargement of an oral tradition“ (Geert Lovink) and therefore not a new form of writing. When trying to file the blogosphere it seems that a snap-shot-method is the most appropriate method that produces and files snap-shots of the blogosphere in scientific-statistical intervals. Peerto- peer networks are most likely one of the best filing methods for a knowledge-based society. However, by extending patent- and brand-law as well as copyrights, knowledge is systematically made proprietary and therefore these adequate forms of filing are constricted for the digital era. Performance mit proprietärer Software Es gibt die Arbeit einer Netzkünstlerin, die sich nur mit dem PC und Internet Explorer aufführen lässt1. Eine andere, der selben Künstlerin, ist optimiert für Netscape 4.x2.Das macht zunächst deutlich, dass bei computerbasierter Kunst nicht mehr zwischen Content und darstellender Hard- und Software unterschieden werden kann. Beide sind gleichermaßen für die Aufführungspraxis entscheidend. Noch einen Schritt weiter geht in dieser Hinsicht Florian Cramer, der nicht nur Inhalte (Content), sondern auch Software- und Hardwarearchitekturen ihrerseits als politisch und ästhetisch codierte Schriften begreift3. Performative Netzliteratur Bisher haben wir uns mit digitaler Literatur beschäftigt, die noch den Charakter eines abgeschlossenen Werkes besitzt. Nun gilt aber gerade auch für meine letzten Arbeiten5, dass sie als offenes Setting, als Live-Performance mit Publikum konzipiert waren und aufgeführt wurden. Algorithmisch generierte Texten aufzuführen heißt, über diese "Vermenschlichung" des Ausgabeinterfaces - nach Max Benses Kategorisierung (Bense 1962) - künstliche Poesie in natürliche Poesie zu verwandeln. Entscheidend ist dabei, dass der Wiederholbarkeitsmaschine Computer die Unwiederholbarkeit der Performance entgegengesetzt, der autistischen Interaktion vor dem Computer die authentische Interaktion mit einem “menschlichen Interfaces” entgegengestellt wird6. Produkt ist dabei kein stabiler Text, kein stabiles Werk, der/das einfach archiviert werden könnte, sondern das Werk entsteht, wie eine Theaterinszenierung, situativ je neu. Blog In den letzten Jahren wurde in der Presse häufig die Blogosphäre mit Netzliteratur gleichgesetzt.8 An dieser Stelle kann dieser Irrtum nicht diskutiert, nicht der Frage nachgegangen werden, ob Weblogs typologisch der Netzliteratur zuzurechnen sind, wogegen vieles spricht. Nachruf auf das größte Musikarchiv der Menschheitsgeschichte Im Februar 2001 wurde das größte Musikarchiv der Menschheitsgeschichte vernichtet. Napster war die erste große Internettauschbörse nach dem Peer-to-Peer Ansatz mit ca. 80 Millionen Teilnehmern und einer Archivnutzung von ca. 2 Milliarden Dateien allein im letzten Monat vor seiner Zerstörung10.
1 “Die Schwimmmeisterin” (Berkenheger 2002). 2 “Hilfe! von Susanne Berkenheger funktioniert mit Netscape ab 4.0 auf PC uns Mac, bedingt (nur Demoversion) auch mit Internet-Explorer 4.0 auf PC”, ist zu lesen im verpackenden Cover der CD-ROM (Berkenheger 2000). 3 “Sogenannte digitale ‚Inhalte‘ (können) nicht von digitalen Formaten, Software- und Hardware-Architekturen separiert werden, die ihrerseits politisch und ästhetisch codierte Schriften sind” (Cramer 2002). Was damit gemeint ist, zeigt exemplarisch die aktuelle Zensurdebatte, ausgelöst durch Ursula von der Leyens ("Zensursulas") umstrittene Vorstöße zur Sperrung von Webseiten mit kinderpornographischem Inhalt. Kritiker befürchten dabei, dass unter dem Deckmantel eines (unbestrittenen) notwendigen Kinderschutzes, eine Sperrinfrastruktur im Internet mit technische Maßnahmen etabliert werden soll und sehen eine "eine Gefährdung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit". 4 Im Januar 1998 verkündete die Netscape Communications Corporation, dass alle zukünftigen Versionen ihrer Browser-Software kostenlos bereitstehen würden. Gleichzeitig wurde ein Open-Source-Projekt angekündigt, das den alten internen Codenamen Netscapes erhielt: Mozilla. “Netscape Communications Corporation (NASDAQ: NSCP) today announced bold plans to make the source code for the next generation of its highly popular Netscape Communicator client software available for free licensing on the Internet.” (Netscape Communications Corporation, 1998) 5 Insbesondere “free lutz!” (Auer 2005), “search lutz!” (Auer 2006) und “SearchSongs” (Auer et al. 2008). 6 Meine Überlegungen zur authentischen Interaktion habe ich ausführlich dargelegt in Auer 2008. 7 In meinem Fall ist das Webinterface von “free lutz!” (Auer, 2005) in PHP programmiert. PHP ist freie Software und erfüllt damit die hier aufgestellten Archivierungskriterien. Dennoch erwirbt der Künstler auch als Programmierer Urheberrechtsansprüche auf sein Programm, muss den Quellcode also bereitstellen und in die Speicherung einwilligen. 8 Beispielsweise von Söhler 2006. 9 Prominente Beispiele solcher Buchprojekte sind “Abfall für alle” von Rainald Goetz und “Die Dschungel. Anderswelt” von Alban Nikolai Herbst. Daran ändert auch nichts, dass Herbst sein Blog als Plattform zum Ausprobieren von Texten verklärt (vgl. Schwietert 2006) und etwa das Literaturarchiv Marbach diese Probiererei vor Publikum für archivierungswürdig hält. (vgl. Deutsches Literaturarchiv Marbach o. J.) So gesehen erscheint das Löschen der Onlineversion von “Abfall für alle” durch Reinald Goetz mit Erscheinen der Printpublikation in einem angenehm klaren und angemessenen Licht. 10 Daten nach Wikipedia <http://de.wikipedia.org/wiki/Napster>. (Stand: 01.07.2009)
11 HiFi Enthusiasten im Internet haben ihre Vinylschätze sogar in HQ-Audio (24 Bit bei einer Abtastrate von 96 kHz) digitalisiert. (c’t – Magazin für Computer und Technik, Heft 15, 2009, S. 157). Einen guten Eindruck davon, wozu Enthusiasten fähig sind, zeigt auch die Webpattform Ubu.com, u.a. eine großartige Ressource für experimentelle Filme und (Laut-) Poesie von Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute. Ubu.com bewegt sich rechtlich, besten Falls, im dunkelgrauen Bereich. Die Speicherungsarchitektur auf einem zentralen Server ist dabei abhängig vom Engagement und der Ausdauer der Betreiber. Daher wäre eine Peer-to-Peer Variante die bessere, da zukunftssicherere Lösung. Elektronische Primärliteratur “Die Dschungel. Anderswelt”, literarisches Weblog von Alban Nikolai Herbst. <http://albannikolaiherbst.twoday.net/>. (Stand: 01.07.2009). “free lutz!”, Netzperformance von Johannes Auer. 2005. <http://copernicus.netzliteratur.net/> (Stand: 01.07.2009) “Hilfe!”, Hypertext von Susanne Berkenheger. 1998. <http://berkenheger.netzliteratur.net/ouargla/>. (Stand: 01.07.2009) “Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen”, Hypertext von Susanne Berkenheger. CD-Rom, edition cyberfiction 1, update verlag, Zürich 2000. “Die Schwimmmeisterin”, Hypermediaspiel von Susanne Berkenheger. 2002. <http://berkenheger.netzliteratur.net/ouargla/websprudel/>. (Stand: 01.07.2009) “search lutz!”, Netzperformance von Johannes Auer. 2006. <http://halle.netzliteratur.net/>. (Stand: 01.07.2009) “SearchSongs”, Netzperformance von Johannes Auer, René Bauer und Beat Suter. 2008. <http://searchsongs.cyberfiction.ch>. (Stand: 01.07.2009) Sekundärliteratur Arns, Inke, 2008. Use = Sue. Von der Freiheit der Kunst im Zeitalter des ‚geistigen Eigentums. In: Inke Arns, Francis Hunger (Hg.): Anna Kournikova Deleted by Memeright Trusted System. Kunst im Zeitalter des “Geistigen Eigentums”, Dortmund 2008. Auer, Johannes, 2008. Netliterature and Radio. In: Heidi Grundmann et al. (Hg.): Re-Inventing Radio. Aspects of Radio as Art. Frankfurt am Main, 359-374. Max Bense, 1962. Über natürliche und künstliche Poesie. In: Theorie der Texte. Eine Einführung in neuere Auffassungen und Methoden, Köln, 143-147. Cramer, Florian, 2002. Vom Freien Gebrauch der Nullen und Einsen. “Open Content” und Freie Software. < http://cramer.pleintekst.nl:70/all/open_content/open_content.html > 04.06.2002 (Stand: 01.07.2009) Laughlin, Robert B., 2008. Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft, Frankfurt am Main. Lovink Geert, 2006. Digitale Nihilisten. Wie die Blogosphäre den Medienmainstream unterminiert. In: Lettre international, 73/2006, 94-99. Möller, Erik, 2006. Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblog, Wikis und freie Software die Welt verändern, Hannover. Söhler, Maik, 2006. Die neue Netzliteratur. In: Telepolis. <http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24281/1.html> 29.12.2006 (Stand: 01.07.2009) Sonstige elektronische Sekundärliteratur Deutsches Literaturarchiv Marbach, o. J.: Bibliothek. Literatur im Netz. Literarische Weblogs. <http://www.dla-marbach.de/dla/bibliothek/literatur_im_netz/literarische_weblogs/index.html>. (Stand: 01.09.2009) Netscape Communications Corporation, 1998: Netscape Announces Plans to Make Next-Generation Communicator Source Code Available Free on the Net. 22.01.1998. <http://web.archive.org/web/*/http://wp.netscape.com/newsref/pr/newsrelease558.html>. (Verweis auf archivierte Version, da Originalquelle inzwischen offline, Stand: 01.07.2009) Schwietert, Sabine, 2006: “Vergnügen an einem literarischen Spiel”. [Interview. Sechs Fragen an Alban Nikolai Herbst]. <http://www.boersenblatt.net/101643/> 31.01.2006 (Stand: 01.07.2009) |