Die Metapher des Textes als Netzwerk

Während das technische Zeitalter in vielfachen Variationen den Mythos der Maschine als universelles Produktions- und Reproduktionsinstrument besiegelt hat, ergänzt unser Computerzeitalter diesen Mythos um einen neuen: den Mythos einer universellen Vernetzung. Dieser löst die Annahme, daß "das Medium die Botschaft" sei ab und postuliert, daß sich die Botschaft erst in einer Vernetzung von Medienströmen konstituiert: "das Medium ist die Vernetzung!" (Idensen 1996) Den jeweiligen neuen Medien werden in den Umbruchsituationen geradezu mythische Qualitäten zugeschrieben, da sie aus der Überwindung traditioneller Strukturen ein großes Energiepotential freisetzen.

Das Konzept vom Text als Netzwerk, in dem alle Knoten seriell verknüpft sind, entwickelte bereits Umberto Eco in seinem "Offenen Kunstwerk" (Eco 1962) in Opposition zu Modellen der textuellen Geschlossenheit, wie sie im statischen Strukturalismus vorherrschten. Warum kann, was es heute zu denken gilt, in der Form der Zeile oder des Buches nicht - oder nicht mehr - niedergeschrieben werden? In erstaunlicher Einhelligkeit würden Flusser, Bolz, Landow und eine Vielzahl anderer Medientheoretiker mit einem Modell antworten, das die Linearität der Schrift in den Mittelpunkt stellt. Konsens ist, daß die Schrift ihre Zeichen in eine eindimensionale, lineare Anordnung bringen muß, also ein restriktives Ordnungsprinzip fordert. Dieses läßt zu jedem Zeitpunkt nur die Auswahl einer möglichen Gestaltung zu, mit dem Ergebnis, daß andere potentielle Alternativen von der Auswahl ausgeschlossen werden. Die Anforderungen der Linearisierung geraten in Konflikt mit einer zunehmend komplexen Realität "was letztlich bedeutet, daß die Schrift als ein Modus der Abbildung vor dem Abzubildenden versagt" (Winkler 1997).

Dies führte zu einer tiefgreifenden Krise innerhalb der Literatur. Es entstanden zunehmend gebrochene oder offene Strukturen, wie sie für die Texte der Moderne kennzeichnend sind. Narrative Techniken, wie z.B. Intertextualität und rhizomatische Verflechtung, erreichen eine Simultanpräsenz zwar nicht materiell, aber imaginär. Dem Text werden weitere Dimensionen hinzugefügt, zugleich aber seine Einmaligkeit und Autonomie in Frage gestellt. Die Vorstellung einer Enzyklopädie als Netz oder Labyrinth, wie wir sie bei Eco finden, verbindet jeden Treff- oder Knotenpunkt mit einem anderen und wird so zu einem unbegrenzten Raum. Die Vorstellung des Zeichens - und somit auch des Textes als Makrozeichen - als Enzyklopädie stellt die anscheinend so stabile materielle Integrität und Geschlossenheit traditioneller Texte in Frage. Diese erweist sich als kulturelles Konstrukt, das das Ergebnis von Interpretationen ist und nicht eine den Texten inhärente Qualität (cf. Wenz 1997).

Hypertext als Netzwerk

Mit Namen wie Gertrude Stein, Joyce, Calvino oder Benjamin, Bakhtin, Kristeva, Derrida oder Eco wird die neue Technik zum einen in eine "stolze Ahnenreihe" literarischer Praxis eingefügt und zum anderen werden theoretische Modelle als Vorläufer zitiert. Landow geht sogar so weit, von einer tatsächlichen Konvergenz der gegenwärtigen Philosophie und der Technikentwicklung zu sprechen (Landow 1992). Grundvorstellung bei Landow ist, daß die Technik aufnimmt, was als Vorgeschichte im diskursiven Raum aufgebaut worden ist. Winkler (1997) verdeutlicht, daß diese Gleichsetzung als eine Formulierung von Wünschen ernst zunehmen ist, die als eine treibende Kraft in die Entwicklung des neuen Mediums eingehen. Die zunehmende Komplexität der Welt wird durch die Medienwelt aufgefangen, die entsprechend komplexe Instrumente verfügbar macht.

Hypertext-Programme sind in Intertext-Theorien und ihren rhizomatischen Modellen vorgedacht, die beliebige Verknüpfungen von Datenmengen möglich machen, und nur darauf warten, technisch angewandt zu werden. Ein Text definiert dann seine Einheit nicht mehr durch die klassische typographische Differenz von Schriftbild und Hintergrund oder durch die Verteilung der Informationsstruktur im Text Thema und Rhema, sondern durch die Differenz von Thema und Konnex. Der Text wird prozedural beschreibbar als Anzahl seiner Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Datenmengen. Der Text als Netzwerk ist eher mit konnektionistischen Metaphern als mit den Bezeichnungen Schrift bzw. Redeform zu beschreiben. Er kommuniziert, indem er Verknüpfungs- oder Verzweigungsmöglichkeiten anbietet. Die Botschaft seines Mediums ist die unendliche Prozedur von Vertextung. Der Text wird zu einem Netz aus Daten, die beliebig manipuliert werden können. Jedes Textbild, jeder Textzustand ist gleichursprünglich. Hierarchisierungen lösen sich im Hypertext auf und es kommt zum Vorschein, was man schon vormodern wußte, daß Geschriebenes immer auf Geschriebenes zurückgreift.

Während traditionelle Texte trotzdem in ihrer materiellen Getrenntheit erfahren werden, ändert sich mit Hypermedien durch die unmittelbare Verknüpfung von Texten und den direkten Zugang die Situation des Lesers. Muß bei traditionellen Texten "die 'semiotische Disposition' des Textes vom Leser aktualisiert werden" (Holthuis 1993: 180) und ist das Erkennen der intertextuellen Bezüge abhängig vom Wissen und Gedächtnis des Lesers, ändert sich dies mit dem neuen Medium Hypertext. Hier sind diese intertextuellen Bezüge jetzt durch Verbindungen (links) offengelegt. Indem die elektronischen Verbindungen Text mit anderen Texten verweben, perforieren sie die Grenze zwischen den Texten. Landow (1992) folgert daraus, daß Textgrenzen insgesamt obsolet würden. Auch wenn dies zweifellos nicht der Fall ist, lenken Hypermedien den Blick in neuer Weise auf paratextuelles Material und auf den intertextuellen und intermedialen Raum. Hypermedien sind mit einer Collage vergleichbar, da sie fragmentarisch und zerstückelt erscheinen. Die Durchdringung von Texttheorien, Textkultur und Vernetzung der Hypermedien, sowie ihre intensivste Durchdringung mit der Apparatur macht die Darstellung von Text für den heutigen Menschen darum unvergleichlich bedeutungsvoller (wie Benjamin im Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit beim Vergleich von Malerei und Photographie bereits verdeutlicht).

Der elektronische Text kann in Situationen gebracht werden, die dem Original selbst nicht erreichbar sind. Auffällig ist im Zusammenhang mit der aktuellen Hypertextdiskussion ihre Verortung zwischen Poetik, Ästhetik und Medientechnik. Es werden Positionen der Avantgarde und der experimentellen Literatur und Kunst nicht nur übernommen, sondern Hypermedien werden als Materialisierung eben dieser Positionen verstanden. Hierbei liegt der Fokus auf dem Aspekt der Materialisierung. Intertextualität und Palimpsestcharakter - nach Landow das Strukturprinzip von Hypertext überhaupt - gehen in elektronischen links auf, Intratextualität, ein weiteres typisches Kennzeichen von Hypertext, findet sich in der Dopplung der Repräsentationsebenen wieder - auch hier materialisiert in Form von Programmiersprache(n), Skriptsprachen, Textauszeichnungssprache und Hypertextoberfläche. Der elektronischen Materialisierung dieser theoretischen Konzepte steht die Immaterialisierung von Schrift und Text gegenüber.