1.
Deutsche Sprache, schwere Sprache
Fehler! Im Spanischen
benutzt man zwei Ausrufezeichen, nämlich zu Beginn und am Schluß
des entsprechenden Ausdrucks, so wie auch bei Fragen (¡...! bzw.
¿ ... ?). Früchtchen - ob ich etwas darüber schreiben
könnte, fragt mich Peter. Die Telephonverbindung Stuttgart-Linz ist
schlecht. Mein hermeneutisches Problem, das Problem des Nicht- oder Schlechtverstehens,
ist in diesem Fall vielfältig. Ich kann das entscheidende Wort akustisch
kaum wahrnehmen. Peter ist geduldig: F-r-ü-ch-t-chen - wie Frucht,
eine kleine Frucht. Jetzt ist zwar die technische Barriere überwunden
aber meine Deutschkenntnisse versagen. Wie lautet es auf Hochdeutsch? Eigentlich
auch Früchtchen. Was ist damit gemeint? Ja..., das hat etwas mit einem
Jugendstreich und auch mit der Pubertät zu tun. Ob der Ausdruck so
etwas wie spitzbübisch meint? frage ich hilflos...
Am nächsten
Tag mache ich einen weiteren Versuch und frage bei StudentInnen nach, was
Ihnen einfällt: Früchtchen? Eigentlich würde ich dieses
Wort heute nicht mehr gebrauchen, aber gemeint sei so etwas wie frech,
keck, einer, dem man nicht richtig böse sein kann. Ältere sagen
über Jüngere: der ist vielleicht ein Früchtchen, Schlitzohr...
Bei diesem Verstehensversuch
anhand von Wortfamilien denke ich an Gadamer und Wittgenstein und... und
werde doch nicht ganz schlau. Aber ich finde eine Bestätigung der
Einsicht, daß man Worte nur dann eigentlich versteht, wenn man sie
richtig zu gebrauchen weiß. Meine Kindheit und Jugend verbrachte
ich in Uruguay. Dort spricht man Spanisch. In Deutschland hatte ich das
Wort bisher weder gehört noch gelesen, geschweige denn gebraucht.
Die Sprache ist wohl eine un-endliche Sache.
2.
Duden, Grimm, Monlau und co.
Es fällt mir
dabei ein: Ich könnte im Wörterbuch nachschauen. Dort ist zu
lesen:
"Früchtchen:
kleine Frucht; iron.: umg. Tunichtgut, Taugenichts: du bist mir ein nettes,
sauberes Früchtchen!" (Wahrig, Deutsches Wörterbuch).
Der DUDEN klärt
weiter auf:
"Früchtchen,
das zu mhd. vruht - Sprößling, Kind: 1. Vkl. zu Frucht, 2. ugs.
abwertend: Kind, junger Mensch, den man für ungeraten hält; Taugenichts:
ein sauberes Früchtchen!"
Ich schlage auch in
Grimms
Wörterbuch nach:
"FRÜCHTCHEN,
1) eine kleine Frucht. bisher hat sie geglaubt blosz ein bäumchen
zu sein, das zur zierde der schöpfung ihre früchtchen trägt:
itzt will man diese abnehmen, was wunder, wenn der schöne hauch der
jungfräulichen schamhaftigkeit, von dem sie bekleidet wird, bei dem
ungriffe leidet? C. F. Weisze lustsp. 3, 67; seht ruft die eine partei,
hin nach Paris, da seht ihr die früchtchen der gleichheit! Lichtenberg
(1801) 2, 228. 2) leichtfertiges ungeratenes kind, leichtfertige, schlimmer
streiche volle ungerathene junge person, nach frucht 4) am schlusse. nun
hab ich unrecht gehabt, dasz ich sie herbei geholt? da sehen sie das liebe
früchtchen, meine schwester, wie sie befehlen gehorcht! Weisze kinderfr.
6, 203; er ist ein schönes früchtchen geworden! Lessing I, 471;
Über diese
schlemerein (Fränzschens)
Lacht mama, drum
wirds auch immer
Mit dem schönen
früchtchen schlimmer.
Musäus kinderkl.
84.
Schon in der schule
sah man, welch früchtchen das geben würde! Das schwänzelte
um den lehrmeister herum und horchte und schmeichelte und wuste sich fremdes
verdienst zuzueignen und seine eier in fremde nester zu legen. Schiller
627; unser junger Konrad hat einmal wieder schlimme streiche gemacht. Ihr
werdet das saubre früchtchen heut noch sehen. Arnim kronenw. 1, 406.
S. früchtel, früchtlein."
Damit bin ich schon
mit meinem Verstehensprozeß etwas weiter aber noch lange nicht am
Ende. Irgendwie weiß ich immer noch nicht, was damit gemeint ist.
Es fehlt mir der eigene Lebenszusammenhang. Aber - warum schaue ich nicht
in einem Deutsch-Spanischen Wörterbuch nach? Ich weiß, ich komme
vom Regen in die Traufe... Denn, lassen sich Worte eigentlich übersetzen?
Und wird der damalige Übersetzer das gemeint haben, was das Wort in
der anderen Sprache (damals und heute) meint? Außerdem bestehen Unterschiede
zwischen dem Spanischen aus Spanien und dem in Uruguay gebrauchten... angereichert
durch italienische und französische (heute auch durch englische oder
amerikanische) -ismen. Aber probieren geht über studieren. Ich schlage
nach:
"Früchtchen
- buena pieza!"
Plöztlich glaube
ich zu verstehen, was damit gemeint sein könnte. Wie oft hatte ich
dieses Wort als Kind gehört. Täuscht mich aber das Wörterbuch?
Ganz sicher... Ich denke an Willard van Orman Quines These von der Übersetzungsunbestimmtheit.
Aber ich kann mir kaum vorstellen, mein Problem mit Hilfe der Physik oder
der Biologie lösen zu können! Leben wir alle in geschlossenen
sprachlichen Welten? Aber ich kann doch Spanisch und Deutsch und... Und
dennoch, kann ich erst mit buena pieza! wirklich etwas anfangen.
Ich bin mir aber nicht so sicher, ob ich Früchtchen auch passend gebrauchen
würde.
Weiß ich aber
wo der Ausdruck buena pieza herkommt? Ich merke, neue hermeneutische
Abgründe stehen mir bevor. Ich schaue im Diccionario etimológico
von Dr. Pedro Felipe Monlau (Buenos Aires 1944) nach, das ich von meinem
Patenonkel geerbt habe und das mir gute Dienste geleistet hat. Pieza
kommt vom Spätlatein petium (Plural: petia) durch Umtausch
(Gr. metatesis) und ist durch die Umwandlung von t in z
entstanden. Gemeint war zunächst ein Stück Land, dann aber auch
etwas Kleines, Wertvolles, ein Juwell, und von daher kam die Metapher mit
dem ironischen Hinterton: buena pieza!.
3.
Gracián und die Novela Picaresca
Bei meinen semantischen
Forschungen in spanischen Wörterbüchern stoße ich auf pícaro.
Allmählich erweitert sich jetzt das Netz der Analogien und Sprachfamilien.
Pícaro
ist ein sehr gängiger und liebevoller Ausdruck, um... ja, vielleicht
um etwas auszudrücken, was mit Früchtchen gemeint sein kann.
Bei pícaro denke ich sofort an die novela picaresca,
an den Schelmenroman also. Dr. Molnau erläutert, daß das Wort
picardía, das, was der pícaro tut, kaum mit
der Picardie zu tun haben kann. Stattdessen könnte pícaro
von pico d.h. Spitze, stammen. Von hier aus: scharfsinnig, perspicaz
(scharfsehend). Wobei das Wort in einem negativen oder ironischen Kontext
gebraucht wird. Ich denke an Baltasar Gracián (1601-1658) Agudeza
y Arte de Ingenio, an seinen Criticón und an das Handorakel
und Kunst der Weltklugheit, das von Schopenhauer so geschätzt
wurde, daß er es ins Deutsche übersetzt hat. Das ist sozusagen
Früchtchens Früchtchen auf hohem philosophich-literarischen Niveau!
Die Alten (Griechen und Römer) haben, so Gracián, den Syllogismus
zur Methode und den tropo (Blumenbergs Metaphorologie) zu
einer Kunst erhoben, den Scharfsinn aber, um ihn nicht zu beleidigen, haben
sie dem Mut des Witzes überlassen.
"Es la agudeza pasto
del alma": Der Scharfsinn ist der Seele Nahrung, so Gracián zu Beginn
des ersten discurso. Und am Schluß:
"Verstand ohne
Scharfsinn, ohne Begriffe, ist Sonne ohne Licht, ohne Strahlen."
Im Discurso II
über das Wesen des aufgeklärten Scharfsinns heißt es:
"Den Scharfsinn
wahrzunehmen ist Sache des Adlers, um ihn hervorzubringen, braucht man
die Arbeit des Engels, der Cherubime, und Erhöhung des Menschen, die
uns zu solcher sonderbaren Hierarchie führt."
Früchtchen - Engelchen
- buena pieza!
Ein Kontrapunkt zur
Graciáns barock-humanistischen Agudeza ist wohl die novela
picaresca (Schelmenroman). Schulerinnerungen werden wach. Zunächst
La
Celestina (1499), eine tragikomische Liebesgeschichte und der
Lazarillo
de Tormes (16. Jh.), die Schelmengeschichten des jungen Lázaro,
Diener verschiedener Herren (eines Blinden, eines armen
hidalgo,
eines Priesters...). Sodann Miguel de Cervantes (1547-1616)
Don Quijote
und seine zwölf Novelas Ejemplares, darunter z.B. Rinconete
y Cortadillo, das zusammen mit Mateo Alemáns (1547-1614) Guzmán
und Francisco de Quevedos (1580-1645)
El Buscón die Spitzenleistungen
der spanischen Literatur dieses Genres darstellen.
Für den Spitzbub
ist der Mensch schlecht und das Leben ein Kampf. Rinconete und Cortadillo,
zwei Teenager, äußerst lumpig und schmutzig, wollen in einer
jungendlichen Räuberbande aufgenommen werden. Was ist beim Rauben
schon dabei:
"Ist es nicht viel
schlimmer ein Häretiker oder ein Renegat zu sein, oder seinen Vater
oder seine Mutter zu töten?"
Und Pablo, aus Quevedos
Buscón,
erzählt:
"Mein Vater sagte
mir: ‚Mein Sohn, Diebsein ist keine mechanische, sondern eine freie Kunst.‘
Und etwas später, nach einem Seufzen, sagte er demutsvoll: ‚Wer in
dieser Welt nicht stiehlt, kann nicht leben.‘"
Der Grund warum die
Richter ihn und seinen Sohn hassen, ist nämlich der, daß sie
nicht wollen, daß es andere Diebe gibt - außer ihnen selbst!
Der Maler Bartolomé Esteban Murillo (1618-1682) hat das Genrebild
El
piojoso (der Lausbub) gemalt, gewissermaßen das Gegenstück
zu El buen pastor, das Früchtchen und - die Frucht Deines
Leibes...
4.
Grimmelshausen, Thomas Mann, Günter Grass und Schopenhauer
Die deutsche Literatur
hat auch einiges (weniges) zu bieten: Grimmelshausen Simplicissimus
(1668), Thomas Mann Bekenntnisse des Hochstapplers Helmut Kroll
(1954) und Günter Grass Die Blechtrommel (1959), so die Nachweise
in einer einschlägigen Enzyklopädie. Letzteres scheint mir dem
Spanischen pícaro am nächsten, zugleich aber sehr fern,
denn die jugendliche Gestalt ist, den Umständen entsprechend, bitter
ernst, ein liebevoller pícaro, ein Früchtchen also,
ist der Junge nicht. Ich würde also auch nicht buena pieza!
im ironischen Ton zu ihm sagen, sondern ganz im Gegenteil. Und auf den
Hochstappler Helmut Kroll läßt sich das Diminutiv nicht anwenden.
Es bleibt also Grimmelshausen. Im Kapitel Über Erziehung (§
376) von Schopenhauers Paralipomena rät der Meister ab, der
Jugend Romane zum Lesen zu geben - ganz im Gegensatz zu manchem Erzieher,
der klagt, die heutige Jugend würde keine Romane mehr lesen!
Der Grund?:
"Für den praktischen
Menschen ist das nötigste Studium die Erlangung einer genauen und
gründlichen Kenntnis davon, wie es eigentlich in der Welt hergeht:
aber es ist auch das langwierigste, in dem es bis ins späte Alter
fortdauert, ohne daß man ausgelernt hätte; während man
in den Wissenschaften doch schon in der Jugend das Wichtigste bemeistert.
Der Knabe und Jüngling hat in jener Erkenntnis als Neuling die ersten
und schwersten Lektionen zu lernen; aber oft hat selbst der reife Mann
noch viel darin nachzuholen. Diese schon an sich bedeutende Schwierigkeit
der Sache wird nun noch verdoppelt durch die Romane, als welche
einen Hergang der Dinge und des Verhaltens der Menschen darstellen, wie
er in der Wirklichkeit eigentlich nicht stattfindet. Dieser nun aber wird
mit der Leichtgläubigkeit der Jugend aufgenommen und dem Geiste einverleibt;
wodurch jetzt an die Stelle bloß negativer Unkunde ein ganzes Gewebe
falscher Voraussetzungen, als positiver Irrtum, tritt, welcher nachher
sogar die Schule der Erfahrung selbst verwirrt und ihre Lehren in falschem
Lichte erscheinen läßt. Ging der Jüngling vorher im Dunkeln,
so wird er jetzt noch von Irrlichtern irregeführt, das Mädchen
oft mehr. Ihnen ist durch die Romane eine ganz falsche Lebensansicht untergeschoben
und sind Erwartungen erregt worden, die nie erfüllt werden können.
Dies hat meistens den nachteiligsten Einfluß auf das ganze Leben.
Entschieden im Vorteil stehn hier die Menschen, welche in ihrer Jugend
zum Romanelesen keine Zeit oder Gelegenheit gehabt haben, wie Handwerker
u. dgl."
Allerdings macht
Schopenhauer einige Ausnahmen:
"Wenige Romane
sind vom obigen Vorwurf auszunehmen, ja wirken eher im entgegengesetzten
Sinne: z.B. und vor allen ‚Gil Blas‘ und sonstige Werke des Lesage (oder
vielmehr ihre spanischen Originale), ferner auch der ‚Vikar of Wakefield‘
und zum Teil die Romane Walter Scotts. Der ‚Don Quijote‘ kann als eine
satirische Darstellung jenes Irrweges selbst angesehen werden." (gemeint
ist: A.R. Lesages Histoire de Gil Blas de Santillane 4 Bde.
1715-1735).
5.
Alle taten etwas und einige taten nichts
José María
Firpo, ein uruguayischer Schullehrer, hat sich die dankenswerte Arbeit
gemacht, viele im Laufe seines Berufslebens gehörten und gelesenen
Sprüche seiner Früchtchen aufzubewahren und zu veröffentlichen.
Hier einige Kostproben zum Schluß, in deutscher Übersetzung.
Ob ich am Ende dieses hermeneutischen Gangs schlauer, ich meine spitzbübischer
geworden bin?
Im Schulhof:
‚Alle taten etwas
und einige taten nichts‘.
‚J... sagte, er würde
ein paraíso (=großer schattenspender Baum) abholzen,
da er ihm beim drible während des Fußballspiels störe.‘
Liebeszetteln
von Kindern:
‚Du, María
del Carmen, bist du verrückt oder blöd? Vergiß nicht, was
ich Dir vor ein paar Tagen gesagt habe. Dasselbe sage ich Dir. Und olé,
olé, olé, olé und olé. Alberto.‘
‚Liebling: Ich will
nicht, daß Du meine Beine anfaßt, der Lehrer kann mich sehen.
Anna M... ‚
‚- Luis: Du bist
verrückt, merkst du nicht, daß ich älter bin als Du, kapierst
Du das nicht? Du kannst irgendeine andere nehmen. Ich habe schon einen.
Ich grüße Dich liebevoll. María. - María: Glaub
es nicht, aber ich bin 13 Jahre alt, so wie Du mich siehst, aber egal,
komm mit mir. Du wirst mindestens 10 jahre alt sein. Du interessierst mich
und ich kann Dich nicht lassen. Komm mit mir, verliebe Dich in mich. Luis.
- Luis: bist verrückt. Chao. María.‘
Verschiedenes:
‚Manchmal glaube
ich verrückt zu sein, da mir seltsame Sachen passieren.‘
‚Manchmal habe ich
den Nabel sauber.‘
‚Der Mund ist derjenige
Teil des Körpers, der am meisten kaut.‘
‚Gestern habe ich
eine ganze Stunde nachgedacht.‘
‚Während es
nicht regnet, gibt es Hoffnung, daß es nicht regnet.‘
‚Über mir ist
mein Haar.‘
‚Die Elektrizität
ist die Grundlage der Erziehung.‘
‚Ohne Elektrizität
könnten wir kein Eis essen.‘
‚Die Elektrizität
kann man für vieles gebrauchen, zum Beispiel, etc.‘
(J. M. Firpo: Qué
porquería es el glóbulo! Montevideo 1976, S. 14-26, meine
Übers.)
Simplex antwortet
dem Einsiedel:
"Wie hieße
dich dann dein Meuder? - Simplex: Sie hat mich Bub geheißen, auch
Schelm, langöhriger Esel, ungehobelter Rülp, ungeschickter Tölpel
und Galgenvogel."
Also - wie würde
ich diesen Satz ins Spanische übersetzen? Und wann würde ich
diese Worte richtig gebrauchen? Ich schlage nach...
Letztes update: August
1999
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