Der Datentiger im Blätterwald
Innenansichten einer Feindschaft

von Dirk Schröder


I. Buch gegen Homepage

Gilt eine digitale Unterschrift? Gilt für Webpublikationen das Presserecht? Sind Urheberrechte im Internet durchsetzbar? Wie können im Ausland begangene Internet-Straftaten verfolgt werden? Sind Adressen Marken?

Vom Internet heißt es, es brächte Fun beim Surfen, sicheres Homebanking und bequemes Onlineshopping, aber auch verwirrende Rechtsfragen und, wie zufällig, Kinderpornografie. Man kann dort, heißt es ebenfalls, alles kaufen. Viagra zum Beispiel oder Pheromone, den "Duft, der die Frauen anlockt", oder Mein Kampf. Aber auch Books on Demand, angeboten vom Buchgrossisten Libri, das schnelle Buch ohne Verleger, finanzierbar für jedermann.

Mit der billigen Textdistribution des Internet kann das Buch, einst mit ähnlichen Absichten angetreten, nicht mithalten. Hiervon später mehr. Nun pocht es auf Qualität. Worin besteht die? Folgt man dem stets orientierenden Feuilleton, so gibt das Buch den Lesern den Komfort "es mit ins Bett zu nehmen", den Autoren das Glück "sich gedruckt zu sehen" und den Verlegern die Chance "Arbeitsplätze zu erhalten". Es überdauert, sagen die Herren von der Pietät, den Tod.

Wir werden sehen.

Das World Wide Web konkurriert nicht mit dem Buch, sondern mit dem Fernseher. "Internet und TV wachsen zusammen", rufen darum Telekom und Privatfernsehen. Sie begriffen das gleich.

Internet ist Fernsehen von unten. Da sehen wir Nachbars Katze und einer unbekannten Chinesin neuestes Häkeldeckchen. Dazu Hobbylyrik, selbstkomponierte Musik und Pizzarezepte. An der eigenen Homepage zu basteln, mit anderen sich darüber auszutauschen, gemeinsame Projekte, etwa "unser Stadtteil im Internet", oder die Teilnahme an Diskussionsforen zur Kaninchenzucht - das ist kein neumodischer Quatsch, das ist die Befreiung aus dem passiven Verharren vor der Glotze mit ihren Gameshows und Katastrophenbildern. Kommunikation statt Konsum.

Ein neues Medium verdrängt kein altes. Es kommt hinzu. Aber das gilt bloß den wirklich Alten. Die Neuen müssen ihre Dauer noch zeigen. Telex ist tot, das Fax stirbt.

Wer am PC schreibt, ausgestattet mit einem großen Monitor, vermisst keine Schreibmaschine. Wie an die Wand gemalt erscheinen die Lettern in Lichtschrift und hinter Glas. Das Computerzeitalter hat seine eigenen Weihen.

Dass es auch Literaturhomepages gibt, ist dem Literaturbetrieb egal. Rentnermemoiren, Tagebücher verliebter Teenager, Früchte der Creative Writing-Workshops. In Massen, eine Schundflut; Berufsleser ringen verzweifelt die Hände.

"Spontane Ergüsse von Freizeitdichtern oder copyrightfreie Klassiker - das war alles, was das Internet noch vor wenigen Jahren als "Literatur online" zu bieten hatte. Herzlich wenig also, aber das hat sich mächtig geändert: Auch die Profis sind nun ins Netz gegangen." So Dorothée Stöbener im SPIEGEL Spezial "Die Zukunft des Lesens".

Die Ergebnisse enttäuschen. Da werden Teile gerade entstehender Manuskripte publiziert, Online-Tagebücher geführt oder Leser fürs Mitschreiben an Fortsetzungsgeschichten begeistert. Die Qualität reicht über die von Hersteller Hakle initiierte Klopapierprosa selten hinaus. Noch sind zu wenig "Profis" im Netz um aus ihrem Treiben Schlüsse zu ziehen. Es scheint allerdings, als liefere der Literaturbetrieb hier eine Vorstellung seines inneren Zustandes:

Nicht hinzuschauen, wohlfeiler Hohn und freudiges Abkanzeln des Laienschreibertums erfüllen eine Ventilfunktion. Die internationale Konkurrenz mit ausgebildeten statt genialischen Schriftstellern, eine drohende Just in Time-Produktion von Büchern, die Verleger als Risikoinvestoren überflüssig macht, das Wackeln der Buchpreisbindung usw. sind Zeichen einer Krise, die so schnell nicht vorübergehen wird. Gerade in der Preisbindungsdebatte waren von Autoren- und Verlegerseite Argumente zu hören, die die Lebensunfähigkeit der ganzen Branche außerhalb beschützter Räume behaupten. Dazu kommt die noch nicht vergessene Peinlichkeit des Literatenprotests gegen die Rechtschreibreform.

Vor allem aber fehlt die Kraft. Was hatte das Buch als Massenmedium für einen Kampfgeist, was für einen aufklärerischen Elan. Die erste Bibel in Landessprache für jedermann. Und heute? Nichts als Weihrauch. Der Literaturbetrieb des deutschen Sprachraums ist zum Hüter tradierter Werte geronnen, eine alimentierte Sekte, die das Buch anbetet.

Das Buch bot schnelle Reproduktion in nie dagewesener Weise. Diese Rolle hat das Internet übernommen. Nun bietet das Buch das Bewahren der guten alten Zeit. Dass Literaten in den letzten Jahren, wenn sie sich überhaupt politisch äußern, ein Vergessen der Nazizeit oder die Rückkehr des Nationalismus herbeischreiben wollen, ist kaum ein Zufall.

In der Krise tut es gut, einen vermeintlich Schwächeren ein wenig zu verprügeln, dann fühlt man sich besser. Mit gekonnter Drastik unternimmt dies etwa Michael Rutschky "Ich stelle mir das so vor, daß alle, die im Internet Literatur publizieren - weil publizieren das Primäre ist, und nicht Schreiben - daß all diese Internetliteraten nichts sehnlicher wollen, als einzukommen in die legitime Kultur. Zu Suhrkamp. Und zwar Hardcover!" Legitime Kultur?

Wenn Literatur im Angesicht des Publikums entstünde, wenn Bücher bei Bedarf für jeden Leser einzeln gedruckt und gebunden würden, wenn Schriftsteller ihre Kunst unterrichteten, wenn Buchhändler ihre Preise selbst bestimmten, wenn Lektoren Moderatoren wären und Literaturwissenschaftler Feldforscher...

II. Was ist Netzliteratur?

1996 machten sich IBM und die Wochenzeitung DIE ZEIT auf herauszufinden, was Internet-Literatur wirklich ist. Das taten sie, wie sie's kannten, mittels eines Wettbewerbs. 1997 kam Wettbewerbsorganisator Michael Charlier auf den Gedanken nach dem Mehrwert der digitalen Literatur zu fragen. Wo ist der Unterschied zur "Papierliteratur"?

An Analogien zur Schreibzeugverherrlichung früherer Autorengenerationen war keinem gelegen. Man tappte fröhlich in Technikfallen, gestaltete bunt und ließ die Leser durch die Texte zappen. Klickibunti. Klickeratur.

1998 wollte der Wettbewerb ein Kunstwettbewerb werden. "Literatur" war zu wenig, "Gestaltung von Sprache" sollt es sein, "mit den künstlerischen Mitteln des Internet".

Welche sind das?

Peter Weibel, Chef des Mitveranstalters ZKM in Karlsruhe denkt da an Computer: "Der Autor wird zum Algorithmus", trug er bei der Abschlusskundgebung vor. Die Zuhörer stellten sich wohl barocke Textmaschinen vor - und tatsächlich wurde Florian Cramer, der solche fürs Internet nachgebaut hatte, mit einem Sonderpreis bedacht.

Die Dokumenta X hatte Maschienencodes und Transferprotokolle im Sinn: "Die untergründige Kommunikationstechnik an die Oberfläche bringen!" - und zwar in bewegten Bildern.

Die ars electronika 1999 war da pragmatischer und prämierte ein Computerprogramm von Matt Black und Willi Henshall, das es "Musikern erlaubt, weltweit und in Echtzeit, verbunden mit Hilfe des Internets, miteinander zu musizieren".

Tech, Desk und Soz nennt der Konstanzer Literaturanthropologe Reinhold Grether drei Kategorien der Netzkunst. Computerisierung, Visualisierung und Kommunikation - oder Programmieren, Designen und Schreiben - denn über die Schriftform als Basistechnologie der Kommunikation ist das Internet bislang kaum hinaus.

Versteht das noch jemand? Es wird immer undurchsichtiger. Literaturwissenschaften und Internet-Veranstaltungen wie die Softmoderne (das "Festival der Netzliteratur") nehmen alle Formen digitaler Literatur als Synonyme: Hyperfiction, Netzliteratur, Multimediales - alles eins. Homepagebastler nennen sich selbst Programmierer und echte Programmierer, wie die Bremer Informatik-Dozentin Doris Köhler, wenden sich der Poesie der Programmiersprachen zu.

Aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Internet-Literaturwettbewerb entstand das Bedürfnis nach Klärung. Teilnehmer und Neugierige gründeten, angeführt vom Frankfurter Literaturwissenschaftler Sven Stillich, die Mailingliste Netzliteratur. Die bekam den Namen weil in der EDV nun eben alles irgendwie heißen muss. Ein spontaner Gedanke. Seitdem soll es Netzliteratur geben.

Die Suche begann. Hermann Rotermund, Juror und Leiter von ARD online, gab ein Fahndungsfoto: "Er ist im Netz der Netze noch nicht aufgetaucht, der Online-'Ulysses'. Das hypermediale Großwerk, das seinen staunenden Lesern, Betrachtern und Hörern 24 Stunden Erlebniszeit anbietet und abzwingt.... Gesucht wird ein originäres Kunstwerk, das Wellen schlägt wie seinerzeit 'Das Leiden des jungen Werthers', 'Madame Bovary' oder eben 'Ulysses', wie 'The Circus', 'Der blaue Engel' oder 'Citizen Cane' oder - und jetzt sind wir beim Radio - wie 'The War of the Worlds', 'Unter dem Milchwald' oder 'Der gute Gott von Manhattan'."

Im gleichen Jahr, 1997, kam es in der Mailingliste Netzliteratur zur sogenannten Definitionsdebatte. Die meisten Teilnehmer fanden das unerträglich. Aber man hatte Erfolg. "Netzliteratur lässt sich nur übers Netz definieren." D.h. die Tatsache der Vernetzung (von Menschen, nicht von Maschinen) ist ihr wesentlicher als die digitale Speicherung der Texte. Text, der nur durch das Netz hat entstehen können, ist auch ausgedruckt Netzliteratur. Text aus dem Elfenbeinturm ist auch webpubliziert Printliteratur.

III. Ein Ausflug

Wer liest, was über Netzliteratur geschrieben wird, sieht gleich, dass die Berichterstatter sie gar nicht gefunden haben. Sie können nichts finden, weil sie nach Buchähnlichem Ausschau halten. Da gibt es dann nur die Hobbyseiten.

Netzliteratur versucht nicht, ein Erbe gegen den Tod zu setzen, sondern intensiviert das Jetzt. Sie entsteht nicht in der Hirnschale, sondern in der Begegnung. Der Züricher Literaturwissenschaftler Michael Böhler vermutet in ihr daher die Rückkehr literarischer Oralität. Hörspiel, Comic und Improvisationstheater sind ihr näher als Romane.

Vielleicht hatte der Literaturwettbewerb Recht auf das Wörtchen Literatur zu verzichten. Netzkunst statt Netzliteratur. Die Schlagworte in Beispielen:

Vernetzung:

Die japanische Gruppe Sensorium schuf mit ihrem Werk "Night and Day" eine besonders einleuchtende Demonstration der Möglichkeiten einer netzbasierten Kunst. 24 Bilder rund um den Globus verteilter Web-Kameras erscheinen auf einer Seite als Analoguhr angeordnet. Die einzelnen Bilder sind so klein, dass nahezu nichts zu erkennen ist. Das Ganze aber zeigt den Sonnenlauf - die Drehung des Planeten unter der Sonne. Die Kameras stehen nämlich im Freien, die Bilder werden je nach Tageszeit heller oder dunkler. "Night and Day" ist bei aller Schlichtheit so schön, dass es sich, einen entsprechend flachen Monitor vorausgesetzt, gut als ständigen Wandschmuck verwenden lässt.

Interaktivität:

"If you want me clean your screen, scroll up and down" schrieb Olia Lialina per E-Mail an Netzkünstler und Internetforen und bot dazu das Foto einer Handfläche, die, so man der Anweisung folgt, also mit der Maus auf und ab blättert, tatsächlich den Bildschirm von innen zu wischen scheint. Das Werk entsteht erst, wenn der "Benutzer" selbst aktiv wird. Allereinfachste Mittel, nix Jukebox-Interaktivität.

Der Leser als Co-Autor:

"Die Poesie soll von allen gemacht werden", fordert in gleichnamigem Essay der Hildesheimer Medienwissenschaftler Heiko Idensen. Seine "imaginäre Bibliothek" (zusammen mit Matthias Krohn) zeigt, wie das aussehen könnte. Ein Pool von Textfragmenten, beliebig erweiterbar und offen, gibt Bühne und Stoff für ein Spiel mit den gängigen Bibliotheksmetaphern. Untertitel: "Eine wahre Geschichte über die unterschiedlichen Arten des Sammelns, Ordnens und Vernichtens von Schrifttum - von der Antike bis in die Zukunft." Oder: "How are you", fragt Olga Kisseleva mit Musikbegleitung in die Runde und webt aus den Antworten einen faszinierenden Hypertext.

Das Medium als Gegenstand:

Kommunikation via Internet ist noch immer im Anfangsstadium. Man merkt es den "Gesprächen" an. Permanent müssen technische Standards ausgehandelt, Zeichensysteme vereinbart und Fehler ausgemerzt werden. Die Berliner Designerin Claudia Klinger stellt mit ihrer kleinen Arbeit "Re:[IMD-L] rtf - Demokratie, Medien, Formate" kurzerhand ein Beispiel aus. Es ist ein Textauszug einer bekannten deutschen Mailingliste, der das Sicheinfressen des "Tech-Talks", des medienbedingten Nebendiskurses, in Sprache und Botschaften aufzeigt.

Multimedialität:

Myst und Riven, zwei weltweit erfolgreiche Computerspiele der Brüder Miller, haben auf den ersten Blick wenig mit Literatur zu tun - obwohl hier durchaus mehr oder weniger heilige Bücher im Zentrum der Handlung stehen. Sich selbst überlassen durchwandert der Spieler animierte Bilderwelten mit dem Auftrag, die zugrunde liegende Geschichte selbst herauszufinden. Dass sie existieren muss, wird mit jedem Schritt klarer. Michael Charlier schreibt: "Lesen - das heißt hier "aktives Lesen", um nicht von "immersivem Lesen" zu sprechen. Wer Myst oder Riven spielt, übernimmt, ob er will oder nicht, die Hauptrolle in einem als Autographie vorzustellenden Bildungsroman."

IV. Dauer und Bewegung

Michael Charlier, der Initiator der Internet-Literaturwettbewerbe, pflegt mittlerweile seine eigenen Webseiten und sucht die Auseinandersetzung mit Programmierern, Künstlern und Autoren. Ex-Mitveranstalter DIE ZEIT hingegen hat sich anders entschieden. Die Wettbewerbe sind bereits Geschichte. Noch während des Pegasus'98 druckte sie einen Artikel von Christian Benne[1], der bald als Ausdruck des Unvermögens der "Printszene", der Literatur eine Zukunft zu geben, berüchtigt wurde: "Literatur im Netz ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird." Warum? "Schwerer wiegen Bedenken gegen die mangelnde Dauerhaftigkeit elektronischer Daten. Zwar ist Literatur als Sprachkunst nicht unbedingt an Schrift gebunden. (...) Aber auch Schrift bleibt bloß erhalten, wenn sie dem richtigen Medium anvertraut wird. Papier, nach dem Pergament noch immer am beständigsten, scheidet als Datenträger für Internet-Literatur aus. Denn zwischen Buchdeckeln bliebe nichts übrig von den ganz neuartigen Erfahrungen im Netz, welche die Propheten des neuen medialen Zeitalters verheißen haben."

Die in Granit gemeißelte Inschrift gegen die Massenauflage, Hammurapis Stele gegen Gilgamesch-Kopien. Derweil rieseln den Bibliothekaren die Werke des letzten Jahrhunderts durch die Finger.

Adressen

Eine gründliche Einführung in verschiedene Themenbereiche des digitalen Publizierens gibt Dieter E. Zimmers Artikelserie "Die digitale Bibliothek": http://www1.zeit.de/zeit/tag/digbib/inhalt.html

Zugänge zu allen Beiträgen der Internet-Literaturwettbewerbe bietet die Homepage des Pegasus'98: http://www.pegasus98.de/indexp.htm

Wer neugierig selbst im Netz stöbern möchte, findet von allem etwas im Internet-Literatur-Webring "bla": http://www.bla2.de/index.htm

Internationale Netzkunst und -Literaturprojekte listet die Textgalerie: http://www.textgalerie.de/lks_int.htm

Creative Writing-Newsgrups in deutscher Sprache: de.etc.schreiben.lyrik und de.etc.schreiben.prosa

 

[1] Benne, Christian: Lesen, nicht klicken, DIE ZEIT 1998 Nr. 37