Patchwork Girl und Action Heldin - Frauenbilder in digitaler Literatur


von Anja Rau



Neue Generation oder überholtes Stereotyp?

Wer 1997 durch die Spieleabteilungen der Computerläden und Kaufhäuser ging, konnte meinen, eine der letzten Männerbastionen sei gefallen. 1997 war das Jahr der Lara Croft, der Heldin des Action-Abenteuerspiels Tomb Raider. Die kämpferische, 'männerfreie' Archäologin lief, sprang, schoß und schwamm sich in die Herzen der immer noch vornehmlich männlichen Computerspieler. Sie zeigte ihnen nicht nur auf dem Monitor, sondern auch von Plakatwänden herunter und in Zeitungsinterviews gnadenlos die kalte Schulter. Anfang '98 brachte die sonst eher seriöse Computerspielezeitschrift PC Games sogar ein zweiteiliges Lara Croft PinUp-Poster. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit (51/1997) titelte: "Was hat sie, das wir nicht haben?" und suchte darzulegen, was Spieler und Medien an der (angeblich) ersten digitalen Action Heldin so fasziniert. An dem zumindest in der PC-Version recht schlampig programmierten Action Adventure loben die Rezensionen hauptsächlich die persönlichen Qualitäten der Hauptfigur: "junge, intelligente, mit gutgebautem Körper ausgestattete [�] Sportskanone [�] mit der Figur eines Supermodels" (Galuschka 76) und so weiter - nicht zu vergessen ihre angebliche Emanzipiertheit. Immerhin ist Lara in einer Männerdomäne erfolgreich - sowohl inhaltlich gesehen, als erfolgreiche Archäologin und Abenteuerin, als auch genreintern als eine der wenigen weiblichen Hauptfiguren in Action Spielen.


Es scheint also, als wäre die Frauenbewegung Mitte der 90er Jahre auch in der Computer(spiele)kultur angekommen. Daß das nicht der Fall ist, wird bei einem genaueren Blick auf die zur Zeit erhältlichen und erfolgreichen Computerspiele schnell deutlich. Ich werde im folgenden anhand ausgewählter Beispiele zeigen, wie traditionelle Adventure Games, aber auch spezielle Computerspiele für Mädchen überholte Rollenmodelle für Frauen/Mädchen perpetuieren und bestätigen. Aber auch Hyperfiction, neben Abenteuerspielen das andere große narrative Genre auf dem Computer, führt diese Muster fort - und das, obwohl das Format Hypertext theoretisch von der Postmoderne und von Konzepten weiblichen Schreibens beeiflußte Schreibkonzepte anbietet. Mehr noch: während Computerspiele weibliche Stereotypen nur tradieren, scheint die "crash-narrative" (Moulthrop 1994, 5) Hyperfiction (und auch hier beziehe ich mich vor allem auf die bekannteren Titel) auf dem literarischen Topos der toten Frau geradezu aufzubauen.

Computerspiele für Mädchen

Lara Croft wird nur oberflächlich als starke Frauenfigur eingesetzt, die ohne zu fragen männliche Räume beansprucht. Tatsächlich ist sie nicht nur wie alle Figuren in einem Computerspiel ein bewegliches Objekt auf dem Bildschirm, sondern wird zum sexualisierten Objekt der Begierde der traditionell männlichen Spieler von Action Spielen. Gegner zu besiegen, Objekte aufzusammeln, Rätsel zu lösen und Levels zu durchschreiten, das heißt Punkte zu sammeln und zu gewinnen, ist nur vorgeblich Ziel des Spiels. In Wirklichkeit gleicht Tomb Raider einer Peep Show oder deren interaktiver, multimedialer Alternative: Strip Poker als Computerspiel. Die Perspektive von Tomb Raider wechselt nämlich auffällig zwischen erster und dritter Person. Während Lara Grundfunktionen ausführt, also nur rennt oder das Terrain sondiert, ist sie meist nicht oder nur am Rande zu sehen. Erst wenn sie punktebringende Aktivitäten durchführt - springen, klettern, schwimmen, schießen, Objekte aufheben und benutzen - ist sie vollständig zu sehen. Nun gehört Lara nicht zu den üblichen grobgepixelten Computerspielfiguren, die nur auf der Verpackung einen halbwegs anatomisch stimmigen Körperbau und ein erkennbares Gesicht haben. Lara ist State-of-the Art: sie besteht aus Tausenden Polygonen mit - laut Klappentext - über 2000 Animationsphasen, kombiniert mit großen Augen, vollen Lippen, einer kleinen Nase, erstaunlich großen Brüsten, einer schmalen Taille und einem gebärfreudigen Becken, dafür ohne sichtbare Muskulatur und stumm. Außer schwerem Atmen ist von Lara nicht viel zu hören, nur in der Trainingsphase, in der der Spieler [sic!] den Umgang mit den Steuerungstasten einüben kann, erklärt Laras Stimme als Voice-Over wie Lara, die Figur, 'zu bedienen' ist. Wenn sie lispelt, "Komm, laß uns ein wenig herumspringen", klingt das eher wie eine Werbung für 0190er Nummern im Spätprogramm der Privatsender. Trotz des euphorischen Tenors der Medien fällt es schwer, in dieser Figur ein positives Frauenbild oder gar ein mögliches starkes weibliches Vorbild für Spielerinnen zu sehen.

Daß diese "Heldin einer neuen Generation von Frauen" (Manfred Dworschak zitiert das SZ Magazin) im Computerspiel eine Mogelpackung ist, verwundert aber nicht weiter. Die ersten Computerspiele - online und offline - entstanden in den naturwissenschaftlichen Fakultäten amerikanischer Colleges und Universitäten, damals mehr noch als heute männlich dominierte Institutionen. Nicht nur die Internet-Journalistin J.C. Herz führt sowohl die Themen als auch das typische Personal von Computerspielen auf diese Tatsache zurück: Videospiele sind, so Herz, "a Guy Thing, programmed by and for males." (Herz 171) Die stereotypen Darstellungen von Frauen werden als gegeben akzeptiert, denn "there aren't women in the industry right now" (Herz 177).

Even if, at some point, a topflight videogame company in Japan or Silicon Valley decided to woo would-be female gamers, it's doubtful that a bunch of guys who've spent their lives clutching a joystick could design something that resonates in the mind of a fourteen-year-old girl (Herz 174).

Neben der eklatanten Abwesenheit von weiblichen Spieleprogrammierern führt Herz auch die Nähe der Spieleindustrie zur Technikindustrie und zum Militär als Grund dafür an, daß Spielwelten in dem meisten Fällen keine weiblichen Lebenswelten sind: Diese wirtschaftlichen und weltanschaulichen Allianzen bewirken eine militaristische und konfliktorientierte Tendenz in den Actionspielen - nicht umsonst werden inzwischen amerikanische Soldaten an Flug- und Kriegssimulationen geschult.

Daß Computerspiele Mädchen immer noch nicht ansprechen, liegt aber wohl weniger an den fehlenden oder falschen Identifikationsfiguren, als an der mentalen und motorischen Repetitivität, die für das größte Marktsegment, die Actionspiele, charakteristisch ist. Aktuelle Studien belegen, daß handelsübliche Computerspiele nicht zu brutal oder zu schwer für Mädchen sind - Mädchen finden Spiele wie Command & Conquer oder Doom "einfach zu dumm" (Brenda Laurel nach Pecher 94). Jungen bevorzugen laut Sheri Graner Ray von Her Interactive Spiele, die Konfliktlösung, Reizstimulation und Belohnung bieten und in denen "Konflikte im offenen Kampf 'Mann gegen Mann'" ausgetragen werden; "[w]eibliche Spieler bevorzugen dagegen Diplomatie und sie kalkulieren die Gefühle ihrer Gegner mit ein" (Sheri Graner Ray nach Pecher 96): "Mädchen wollen narrative Spiele" (Justine Cassel nach Herz 175).

Die Reaktion vor allem des US-amerikanischen Marktes sind spezielle Computerspiele für Mädchen: Sie heißen Secret Paths in the Forest, Rockett's New School und Barbie Fashion Designer bzw. Barbie Magic Hair Styler. Diese Spiele mögen zwar auf tumbes Ballern, unidirektionale Bewegungen und Zerstörung als Prinzip verzichten, sie versuchen aber vor allem, Mädchen mit der Simulation einer vermeintlich typischen Mädchen-Lebenswelt zu gewinnen. Die wichtigste Entscheidung am ersten Tag in der neuen Schule ist: welcher Junge gefällt mir am besten? die größte Krise: eine andere Schülerin trägt genau dasselbe Kleid wie ich! Computerspiele für Mädchen perpetuieren also die Rollenklischees von gestern mit der Technik von heute (Pecher 92).

Frauen in Adventure Games der 90er Jahre

Leider gibt es keine Studien, die sich gezielt mit Adventure Games befassen, jenem Genre, das zur Problemlösung nicht auf gute Hand-Auge-Koordination und einen unermüdlichen Schußfinger baut, sondern auf logisches Denkvermögen, die Fähigkeit, sich in Figuren und Situationen hineinzuversetzen, Diplomatie, eine gewisse literarische Bildung und auf mentale Ausdauer. Derartige Untersuchungen dürften aber ergeben, daß diese - durchaus nicht marktbeherrschende - Art von Spielen Mädchen wesentlich mehr anzieht als die weiter verbreitete der Ballerspiele. Aber auch die wenig martialischen Adventures bedienen im Allgemeinen Stereotypen präfeministischer Literatur: Die Frau ist Assistentin, Geliebte, Opfer, manchmal auch Täterin und meistens früher oder später tot und/oder verheiratet. Keines der erfolgreichen Adventure Games der 90er Jahre bietet eine starke weibliche Hauptfigur.

Gabriel Knight II The Beast Within zum Beispiel ist da noch verhältnismäßig fortschrittlich: Die Kapitel fokussieren abwechselnd auf Gabriel Knight und seine gute Freundin Grace Nakimura. Anders als Lara Croft ist die Figur Grace dabei zumindest eine graphisch realistische Frauendarstellung. Sie wird jedoch ausschließlich über ihr Verhältnis zur männlichen Hauptperson motiviert. Um Gabriels Buchladen zu hüten, während der auf Abenteuer aus ist, riskiert Grace sogar ihren Studienplatz. Und als Gabriel ihr von seinem neuesten Fall, einer Werwolfplage in Bayern, berichtet, eilt sie nicht des Abenteuers wegen zu ihm, sondern weil Gabriel auch seine neue Sekretärin erwähnt ...

Die Nachforschungen und Entdeckungen, die Gabriel und Grace in ihren jeweiligen Kapiteln machen, greifen eng ineinander; nur mit der Arbeit beider Figuren kann der Werwolf-Clan schließlich gebannt werden. Dieses Sich-Ergänzen von männlicher und weiblicher Zentralfigur wird in The Beast Within nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formal-technischer Ebene durchgeführt: Das Spiel läßt dem Spieler erst gar keine Wahl. Jedes Kapitel ist by default, also standardmäßig, einer der beiden Figuren zugeordnet. Dabei folgt Gabriel eher seinem Bauch und gefährdet sich selbst und seine Nachforschungen, Grace steuert mit Vernunft dagegen. Am Ende muß sie nicht nur den Fall lösen, sondern auch ihren verwundeten Freund pflegen. Ein recht mittelalterliches Bild: die Frau als züchtigendes, reinigendes Element.

Und dann ist da noch die Nebenhandlung 'Liebesgeschichte': Wie schon erwähnt ist es vor allem die vermeintliche Nebenbuhlerin, die Graces Interesse an Gabriels Fall weckt. Es dauert lange, bis Grace versteht, daß die neue Sekretärin einen anderen liebt, als Konkurrenz um Gabriel also ausscheidet - und bis dahin verliert Grace wertvolle Zeit und wertvolle Informationen mit Eifersüchteleien - was als retardierendes Element die Spannung des Spiels natürlich erhöht. Grace bleibt in allem ausschließlich auf die männliche Figur bezogen. Sie arbeitet nicht für sich und schon gar nicht für andere Frauen, sondern nur für ihren Gabriel - und zwar nicht gleichberechtigt als Freundin, die dem Freund hilft, sondern nur mit dem Ziel, ihn als Liebes- und wohl auch Ehepartner zu gewinnen.

Es scheint, als wären die wenigen starken, aktiven Frauen in Abenteuerspielen nur möglich, wenn sie am Ende sicher verheiratet werden, wenn ihre Aktivität also nur eine Phase ist, in der sie für ihren potentiellen Partner interessant werden. King's Quest VII: The Princeless Bride fällt in ein ähnliches Muster. Roberta Williams, die Autorin der King's Quest-Serie, ist die einzige bekannte und erfolgreiche Frau unter den Adventure-Entwicklern. Trotzdem folgen die ersten sechs Folgen von King's Quest dem bekannten Schema: Prinz rettet Prinzessin und befreit und/oder ordnet dabei ein Königreich, das ihm schließlich zusammen mit der Prinzessin als Dank für geleistete Dienste überlassen wird. In King's Quest VII ist es endlich einmal die Prinzessin, die auf Abenteuer ausgeht, den Prinz und das Königreich zu retten. Zu Beginn des Spiels gibt es für Prinzessin Rosella von Daventry keine schlimmere Vorstellung, als zu heiraten. Während ihre Mutter ihr die Vorzüge der ledigen Prinzen aus der Nachbarschaft aufzählt, sucht Rosella in den Wellen des Flusses nach einem "Land beyond Dreams". Da ist es ein logischer Schritt, daß sie, als ihr die Anpreisungen ihrer Mutter zuviel werden, einfach ins Wasser geht. Lieber tot als verheiratet.

Aber wie das im Märchen so ist, führt der Wasserstrudel in eine andere Welt, eine zerstörte Welt, die Rosella nun retten muß. Und wie sich das im Märchen gehört, fällt dabei für die jugendliche Heldin ein Prinz ab und die zu Beginn so gefürchtete Hochzeit wird zum freudigen Ereignis und in der Logik des Spiels zum eigentlichen Ziel der Abenteuerfahrt. Nebenbei stellt sich heraus, daß Rosellas Eintritt in die Parallelwelt tatsächlich von ihrem Prinzen geplant und inszeniert war. Die mutige Frau war nur Werkzeug im Plan des Prinzen, seine Welt und sein Königreich zu retten. Nachdem so auch die Geschlechterordnung wieder hergestellt ist, kann endlich die traditionelle Schlußsequenz kommen: Ganz à la 'Hollywood' sinkt Rosella in des Prinzen Arme, willigt ein, seine Frau zu werden und fliegt mit ihm über sein Land in den Sonnenuntergang. Da sich vor allem Fantasy-Adventures an der Struktur mittelalterlicher Heldenepen orientieren, in denen eine zerstörte Ordnung wiederhergestellt werden muß, ist anzunehmen, daß die aktive, heiratsunwillige Prinzessin aus der Exposition ein Teil dieser gestörten Ordnung ist und daß zur Wiederherstellung der Ordnung implizit auch das Sich-Fügen der Prinzessin in ihre angeblich natürliche Rolle als Ehefrau und Mutter gehört. Mir ist kein Abenteuerspiel bekannt, in dem eine weibliche Figur erfolgreich aus ihrer klassischen Frauenrolle fällt.

Hypertext und weibliches Schreiben

Computerspiele, auch narrative Subgenres wie Adventures, sind nicht die einzigen literarischen Formen, die das digitale Medium bietet. Hypertext als computerspezifisches Strukturmodell eignet sich nicht nur für die Aufbereitung von Information, sondern auch als Format für fiktionale Texte. Kurz gefaßt ist ein Hypertext eine Ansammlung von kurzen, weitgehend in sich abgeschlossenen Inhalten in Form von Textblöcken, die durch sogenannte Links sinnvoll verknüpft werden (siehe Abbildung) - dasselbe Prinzip wie im Internet. In jedem Textblock sind die von dort abgehenden Verbindungen enthalten, meist zusammen mit einer Pfadkennzeichnung, so daß der Leser nicht nur über den nächsten Textblock, sondern auch über den so erreichbaren übergeordneten Zusammenhang orientiert ist. Dabei kann ein Textblock in verschiedenen Pfaden auftauchen bzw. es können verschiedene Pfade durch einen Textblock gehen. Bei Hyperfictions entfällt diese Kennzeichnung oft.


Die Texte, die durch das Lesen in einem Hypertext entstehen, sind nicht-linear, nicht-hierarchisch, dezentriert und multiperspektivisch; sie können einander scheinbar ausschließende Entitäten gleichzeitig präsentieren und auf den Zwang kausaler Darstellungen verzichten. Wenn das klingt wie die Realisierung der Grundzüge postmoderner Philosophie und Literaturtheorie, so ist das nicht verwunderlich: Hypertext wurde als Umsetzung eben dieser Konzepte entwickelt. Daß die bekannten Hypertext-Systeme vor allem von Männern geschrieben wurden, hindert sie nicht daran, einen gewissen feministisch verwertbaren emanzipatorischen Ansatz zu verkörpern: dezentrale, nicht-hierarchische Texte unterscheiden nicht zwischen Haupt- und Nebentext, zwischen dominanter und marginaler Stimme. Hypertexte haben keinen Masterplan; sie transportieren keine großen Erzählungen. Statt dessen bauen sie auf kleine, perspektivierbare Geschichten und Geschichtsfragmente. Da ein Hypertext nie als statisches Ganzes besteht, sondern sich immer in jeder Lesung neu zusammensetzt, betont er nicht den finalen, von einem Autor intendierten Sinn, sondern den Prozeß der Sinnfindung oder auch nur der Sinnsuche durch den Leser.

Hypertext ist durchaus geeignet, Ansätze weiblichen Schreibens und weiblicher Literatur umzusetzen. Es wäre zum Beispiel denkbar, die Gespaltenheit der schreibenden Frau, wie sie Linda Hutcheon in The Politics of Postmodernism beschreibt, durch den fragmentarisierenden Hypertext nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu zeigen. Auch Margaret Homans doppelte Sprachfertigkeit der Frau, die die Beherrschung männlicher symbolisch-figurativer Sprache mit einer angenommenen weiblichen 'wörtlichen' Sprache verbindet, ließe sich über die Ambivalenz des Links darstellen. Rainer Kuhlen stellt fest, daß der Link nämlich nicht nur im Rahmen der allgemeinen semiotischen Verweisstruktur des Textes referenziert, in dem er auf einen anderen Textblock verweist, er realisiert auch, indem er diesen Textblock aufruft, so daß er konkret auf dem Bildschirm erscheint. Ich möchte es bei diesen beiden rein hypothetischen Beispielen belassen, da ich mich in dieser Untersuchung auf tatsächliche inhaltliche Ausführungen, nicht auf Möglichkeiten des Formats konzentriere.

Die wechselnden Stimmen und Perspektiven in einer Hyperfiction können natürlich auch schlicht verwirrend wirken, da weder Pfade noch SprecherInnen eindeutig markiert sind. Oft tauchen Textblöcke in unterschiedlichen Kontexten auf, so daß der Sprecher mal ein Mann, mal eine Frau, mal die eine und mal die andere Person zu sein scheint. Je nach Lesung kann sich das Personal vervielfältigen oder können mehrere Figuren zusammenfallen, und so werden Vielstimmigkeit und Pluralität oft bis zu einem Punkt getrieben, an dem konkrete Aussagen über Perspektiven und Darstellungen nicht mehr möglich sind.

'Harte' Textarbeit ist bei Hyperfiction nahezu unmöglich; statt dessen muß man mit Eindrücken arbeiten, die sich im Laufe des Lesens und Wiederlesens verfestigen. Die meisten Hyperfictions haben einen default-Pfad: wiederholtes Drücken der Eingabe-Taste ruft eine Reihe von Textblöcken auf, die fast wie ein fortlaufender Text zu lesen sind. Der Tenor des default-Pfades läßt sich dabei aber recht gut analysieren und die Eindrücke, die der Leser im default gewinnt, bestimmen ihre weitere Leseerfahrung. Der default-Pfad funktioniert in diesem Ansatz quasi als Exposition zu allen folgenden Lesungen.

Was das 'weibliche' Schreiben angeht, so scheint es in der Hypertext-Gemeinschaft ungeschriebenes Gesetz zu sein, sich nicht-sexistisch zu geben: Theoretische Texte werden durchfeminisiert, Beispielpersonen sind abwechselnd männlich und weiblich, die Möglichkeit, gerade die Erfahrungen von marginalisierten Gruppen in Hypertext zu kodieren, wird betont. In der Hyperfiction finden sich erstaunlich viele starke Frauenfiguren, Frauen, die außerhalb traditioneller Rollenvorstellungen leben und lieben; es findet sich Geschlechtsindeterminiertheit besonders in der Beschreibung von sexuellen Beziehungen - und das auch und gerade in Texten männlicher Autoren -, und so weiter. Dennoch scheint ein - spätestens seit Elisabeth Bronfen - obsoleter Topos der Papierliteratur die Hyperfiction kennzeichnend zu durchziehen: der Tod der Frau, ganz allgemein, aber vor allem als Anstoß männlicher Subjektkonstitution.

"Crash Narratives" - die tote Frau in der Hyperfiction

Explizite Gewaltdarstellungen scheinen dann auch ein Genremerkmal der Hyperfiction zu sein. Der Hyperfictionautor und -kritiker Stuart Moulthrop identifiziert die "aesthetics of disintegration" (Moulthrop 1994, 5) als zentrales Motiv der Hyperfiction und erklärt das sowohl soziologisch als auch textformal: "[�] any hypertext is a birth of a thousand cuts" (Moulthrop 1994, 8) "[�] hypertext is a new kind of crash narrative [�]" (Moulthrop 1994, 11). Bei genauem Lesen gewinnt dieses Bild an Schärfe: Gewalterfahrungen sind in Hyperfictions keine Universalien; wer hier wieder und wieder stirbt, sind vor allem die Frauen - und zwar unabhängig vom Geschlecht der AutorIn.

So dreht sich der Klassiker der Hyperfiction, Michael Joyces Afternoon - A Story nur oberflächlich um den Tod eines Jungen: "I want to say that I may have seen my son die this morning." lautet einer der zentralen Textblöcke. Letztendlich impliziert der Tod des Sohnes in einem Autounfall aber auch den Tod der Ex-Frau des Erzählers, die den verunglückten Wagen gefahren hat. Die Antwort auf die Frage, ob der verdrehte Kinderkörper am Straßenrand der seines Sohnes ist, wird immer nebensächlicher, je tiefer der Leser in den Text einsteigt. Die Erinnerungen, Gesprächsfetzen, theoretischen Überlegungen und Bilder, die von dem potentiellen Unglücksfall ausgelöst werden, dienen vielmehr der Aufarbeitung seiner Beziehung zu seiner Ex-Frau und der Suche nach einem neuen Standpunkt für die zentrale Figur. Daß diese Reflexion erst an dem Punkt stattfindet, an dem die Frau für tot gehalten werden muß, ist bezeichnend. Und so taucht die Frau zumindest im default-Pfad nur indirekt auf, durch die männliche Hauptfigur imaginiert, nie als genuin eigene Stimme.

Auch bei John McDaids Uncle Buddy's Phantom Funhouse liegt die Schreibmotivation im Verlust einer Frau, Emily. Wie auch die Lieder des - fiktionalen - Rockmusikers Buddy Newkirk ist der gesamte Text eine Hommage an Emily und die Zeit, die der Erzähler mit ihr verbringen durfte. Daß Emily leider erst sterben mußte, damit Buddy wirklich kreativ werden kann, ist im Rahmen des Textes nur ein unangenehmer Nebeneffekt. Zwar wird dieser Aspekt in der zweiten Tiefenebene, dem Haunted House, angesprochen, aber diese Ebene ist weniger Zentrum des Textes als versteckte Grundlage für den Text auf der oberen Ebene. (Uncle Buddy ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme unter den Hyperfictions: es gibt tatsächlich hierarchische Textebenen.) Genau wie in Moulthrops Victory Garden, in dem die Konstitution der männlichen wie auch der weiblichen Subjekte über deren Beziehung zu der inzwischen im Golfkrieg gefallenen Emily Runebird stattfindet.

Sicher gibt es auch Hyperfictions, die den Topos 'tote Frau' kritisch thematisieren. In Shelley Jacksons Patchwork Girl ist es eine weibliche Identität, die über das Prinzip der Collage hergestellt wird. Jackson nutzt den Mosaikstil des Hypertextes, um darzustellen, wie Subjekt- und Geschlechtsidentitäten patchworkartig zusammengestückelt werden. Die zentrale Figur ist dabei ein weibliches Gegenstück zu Frankensteins Monster, wie dieses aus überresten anderer Menschen zusammengesetzt. An jedem Körperteil hängt eine Geschichte, meist die Geschichte einer Frau, die nun alle zusammen die Geschichte des Patchwork Girls ausmachen, eine kollektive weibliche Identität also. Diese Sammlung von Erfahrungen ist nicht nur aber auch eine Sammlung von Gewalterfahrungen.


Und auch wenn Patchwork Girl vor allem von postmodernen fragmentarisierten und konstruierten Subjekten und Identitäten handelt, so sind sowohl die zentrale Figur als auch der Text ganz konkret aus Leichenteilen toter Frauen (bzw. deren Darstellungen) zusammengesetzt. Gewalt gegen Frauen scheint auch in der Hyperfiction als textkonstituierendes Element unbedingt vonnöten zu sein. Wie in Jane Yellowlees Douglas' I Have Said Nothing, das die Art, wie der Bruder der Erzählerin mit seinen toten Ex-Freundinnen umgeht wie mit den anderen Wegwerfprodukten der modernen Einweggesellschaft, zwar so darstellt, daß sie einen didaktisch wertvollen unangenehmen Nachgeschmack hinterläßt - aber was auch hier bleibt, ist die schiere Anhäufung toter, stummer Frauen. "'I have said nothing' that was the last she said." So enden die meisten Lesungen.


Hypertext ist nicht nur entstehungshistorisch gesehen ein männlich dominiertes Genre � auch die meisten Autoren und diejenigen, denen die Publikationsmittel gehören, sind Männer. Die 'großen Väter' der Hyperfiction mögen sich zwar gerne politisch korrekt geben und Hypertext mag strukturell auch interessante Möglichkeiten zur Realisation weiblichen Schreibens geben - wie ich vorhin angedeutet habe. Aber wenn diese Väter - und leider auch einige ihrer Schülerinnen - den festen Boden der Theorie verlassen und fiktionale Texte schreiben, sind zumindest die Inhalte wie gehabt - alte Textdateien in neuem Format.


Anmerkungen

Barbie Fashion Designer. Mattel Media, 1997.

Barbie Magic Hair Styler. Mattel Media, 1997.

Bronfen, Elisabeth. Over Her Dead Body: Death, Femininity and the Aesthetic. Manchester: Manchester UP, 1992.

Douglas, Jane Yellowlees. I Have Said Nothing. Watertown: Eastgate Systems, 1993. (Diskette)

Dworschak, Manfred. "Was hat sie, das wir nicht haben? STRG drücken - und Lara Croft geht die Wand hoch. Schon wird sie als 'Sexgöttin' verehrt." Die Zeit 51 (1997): 79.

Gabriel Knight II: The Beast Within. Sierra On-line, 1995. (CD-ROM)

Galuschka, Michael. "Tomb Raider. Action-Adventure der besonderen Art." PowerPlay 1 (1997): 76-82.

Herz, J.C. Joystick Nation: How Videogames Gobbled Our Money, Won Our Hearts and Rewired Our Minds. London: Abacus, 1997.

Homans, Margaret. Bearing the Word: Language and Female Experience in Nineteenth-Century Women's Writing. Chicago: Chicago UP, 1986.

Hutcheon, Linda. The Politics of Postmodernism. London and New York: Routledge, 1989.

Jackson, Shelley. Patchwork Girl. Watertown: Eastgate, 1995. (Diskette)

Joyce, Michael. Afternoon - A Story. Watertown: Eastgate, 1996. (Diskette)

King's Quest VII: The Princeless Bride. Sierra On:line, 1997. (CD-ROM)

Kuhlen, Rainer. Hypertext: Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. Berlin: Springer, 1991.

McDaid, John. Uncle Buddy's Phantom Funhouse. Watertown: Eastgate, 1992. (Disketten)

Moulthrop, Stuart. Victory Garden. Watertown: Eastgate, 1991. (Diskette)

Moulthrop, Stuart. "The Crash of Nothing into Something." Eastgate Quarterly Review of Hypertext 1.2 (1994): 5-12. (Begleitheft)

PC Games 1 (1998).

Pecher, Uli. "Rosarote Einstiegsdrogen." konr@d 2 (1998): 92-96.

Rockett's New School. Purple Moon, 1997.

Secret Paths in the Forest. Purple Moon, 1997.

Tomb Raider. Eidos Interactive, 1996. (CD-ROM)


Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der 2. Fachtagung Frauen- und Gender-Forschung in Rheinland-Pfalz an der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, vom 30.10.-1.11.1998.



©Anja Rau



The copyright for the picture of Lara Croft used here is probably held by Eidos Interactive. Should you be the holder of this copyright, please mail me if you want the picture removed or your ownership acknowledged.
Image 2 is from I Have Said Nothing by Jane Yellowlees Douglas, published by Eastgate Systems. (c) 1994.
Image 3 is from Patchwork Girl by Shelley Jackson, published by Eastgate Systems. (c) 1995.