perspektive. hefte für zeitgenössische literatur...
No. 43 + 44 (2002): avant_garde_under_net_conditions, S. 52ff
ISSN 1021-9242

 

Sylvia Egger interviewt Frieder Rusmann <Johannes Auer>


- mit deinem internet-projekt "kunsttot" bist du am futuristischen "dampfer der gegenwart" angekommen. wie einst chlebnikov gilt es dir die alteingesessene kunst/kuenstlerinnen aus ihren historischen kanondatschen zu werfen. du vergleichst den kunstkanon mit einer kokotte. die sich ueber die jahre immer juenger liftet. nur um der "sportbegeisterung" des publikums zu gefallen. wo genau ist fuer dich das ende der fahnenstange bzw. wo haengt deine fahne?

Meine Fahne hängt hart und auf halbmast im Wind.
Auch wenn Chlebnikov, Majakovskij und Kumpane wörtlich wundervoll dampften - "Futurismus"? Na, ich weiss nicht..., der italienische riecht mir zu stark nach Motoröl und Pulverdampf und der russische ist mir zu konstruktiv. Ich mag es auch secondhand schön der Reihenfolge nach, erst Platz schaffen und ordentlich Abreißen: einen richtig gründlichen Dada-Abbruch. Dabei entsteht jede Menge handliches Baumaterial und nur für Spezialteile gehts auch mal ins futuristische Ersatzteillager.

 

- die futuristen bekaempften in ihrer proklamation der futuristischen malerei aehnlich wie du die falsche patina in der kunst, das auf altmachen von altgewordenem - kunstgeschichte als pathetische uebermalung des ewig gleichen kanons. nachdem die neoisten die eigene historisierung in den kunsthistorischen kanon, als "letzte zuspitzung" betrieben haben, um die institutionellen strukturen desselben offenzulegen, stellt sich die frage, ob die kunsttot-strategie noch eine effektive sein kann bzw. ob sie das "infantile" publikum, wie du es nennst, noch erreicht.

Kürzlich, bei einer live Radiosendung im SWR mit Stimmungspublikum, sollte ich Teile aus dem Kunsttot-Manifest lesen. Da ich keine Auswahl treffen konnte - bei einem Manifest ist traditionell jeder Buchstabe, jedes Komma, jeder Schreibfehler wichtig - ließ ich den Text von Microsofts WordTM automatisch auf 30% vom Original eindampfen. Mit erstaunlichem Erfolg: nach dem Verlesen von wenigen Sätzen flippte ein Zuhörer im Publikum vollkommen aus, lachte, schrie und tobte - alles live über den Äther. Kurz, es war angemessen wundervoll. Daß er 5 Minuten später, offensichtlich sturzbetrunken, einschlief, läßt mich folgern: natürlich ist das Publikum noch zu erreichen und zwar entweder mit Microsofts letzter Software-Zuspitzung oder im strategischen Suff wie weiland Sokrates bei effektiven Trinkgelagen oder Hans Müller mittwochs in der Institution "Gasthof Hirsch". Anderswo nicht.

 

- du laesst mädchen dada-traenen weinen und t-shirts mit "avantgarde ist wurscht" drucken. in einem interview sprichst du davon. dass das internet alte avantgarde-konzepte reaktiviert. du nennst ein wesentliches konzept: das der selbstreferentialitaet von kunst und kuenstlerinnen - also eine "hyperwachsamkeit" den mitteln, den strukturen und diskursen gegenueber, mit und in denen man arbeitet. wie sehen die apparate und mittel fuer deine diskursivitaet aus und welche weiteren konzepte der avantgarde finden im internet einen neuen "fruehling"?

Da erblüht im Netz wieder das Konzept als Konzept der Avantgarde und auch die soziale Plastik erlebt beispielsweise in diversen Spielzeugkriegen eine Maximalrenaissance, wird sogar als Metapher für das Netz propagiert. Überhaupt scheint mir das Internet gar keine Zukunftstechnologie zu sein, sondern eine Zeitmaschine in die Vergangenheit. Die goldenen 20er im letzten Jahrtausend nicht erlebt, '68 verpennt? Kaum summt das Modem, schon ist der Bildschirmvisionär bar jeder Postmoderne, ist utopisch, jung und zielgerichtet und möchte demonstrativ die ganze Welt zu ihrem Besten vergewaltigen.
Vielleicht ist das einfach so bei einem Medium, das die Unterscheidung zwischen Original und Kopie nicht kennt, bei dem jede Reproduktion kein bit-chen anders ist als das Reproduzierte, das aus Alt verlustfrei das Neue macht.

 

- es heisst. vom publikum eingeholt zu werden. ist das ende jeder avantgarde. vielleicht auch jeder kunst. das publikum als "blaue" blume des kunstberiebs, als letzte hoffnung eines sich immer wieder aufs neue mutierenden binoms von produktion und konsumtion. du sprichst davon. dass ein text ohne vom autor entworfene grobstrukturen fuer den leser sinnlos bleibt und das aktuelle bilderverbot in der netart wie es etwa code-puristen wie florian cramer und tilman baumgaertel vertreten ein rueckfall in einen "binaeren idealismus" bedeutet. suchst du den "pflasterstein" der goldenen mitte?

 

Eher versuche ich mit einem Pflaster den goldenen Schnitt zu kleben oder noch besser, den goldenen Schnitt zu machen. Ich will Aufmerksamkeit. Diese knappste und begehrteste Ressource der Informationsgesellschaft ist meine Bezahlung. Vielleicht war in den alten Zeiten Publikumsnähe das Ende der Kunst. Heute, im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie, muss mit allen Mitteln versucht werden Öffentlichkeit zu erreichen: Aufmerksamkeit, die neue Währung, stinkt nicht. Damit ist nebenbei nicht gemeint, dass das Publikum auch irgendetwas verstehen muss. Und dieses Ringen um Aufmerksamkeit, erklärt einmal mehr das Wiedererstarken alter Avantgardetugenden. Die Logik der Mediengesellschaft verlangt das Neue, Unvermutete, noch nicht Bekannte: kurz, das Berichtenswerte. Und was ist einfacher für den Künstler, als die alten, noch nicht verlorenen Reflexe zu aktivieren und sich unermüdlich in neue, unbekannte Gebiete künstlerischen Ausdrucks vorzukämpfen? Dass dazu als Wegzehrung die guten, erprobten Mittel dienen, versteht sich von selbst.
Vielleicht erklärt sich so auch die Netzlust zur multiplen Signatur im Sinne Karen Eliots, auf die du in der nächsten Frage kommen wirst: mehr Namen, mehr Chancen unter irgendeiner Identität wahrgenommen zu werden.

 

- duchamp hat das profane zur kunst proklamiert, heute ist die kunstpraxis selbst profanisiert - eric kluitenberg weist darauf hin. dass nur noch der raum der negation zur verfuegung steht (smash thesurface). um den herrschenden code zu unterbrechen. ihn umzupolen wie utopien in den 70ernversuchten. scheint heute nicht mehr moeglich. der raum der negation kann durch verschiedenste techiken erreicht werden. etliche davon wendest du selbst an: satire, ins gegenteil setzen, verschiebung. in den rezensionen und interviews von dir wird diese form der negation nur bedingt wahrgenommen. obwohl du die oberflaeche der herkoemmlichen kunst zu unterbrechen suchst. wirst du von der kritik stets wieder in den kunstkanon hineininterpretiert: "es ist eben doch kunst. was wieder rauskommt". deine pseudonyme werden nicht als multiple signaturen wahrgenommen. wie kommst du mit dieser differenz zurecht?

Duchamp, Negation (und am besten gleich Wiesengrunds doppelte), du benennst meine Lieblinge. Und wenn's dann wieder in den Kunstkanon hineininterpretiert wird..., so geht halt das Spiel.
Die Komantschen kennen eine Kaste von "Contrary ones", die immer genau das Gegenteil dessen tun, was in der Kultur der Komantschen als normal gilt. Und jetzt aufgepaßt: zwischen den braven Komantschen und den irren Contraries, so sagt man, kommt es zu beständigen wechselseitigen Gegenidentifikationen, die letztlich das ganze System stabilisieren und erhalten.
In unserem Kunstbetrieb ist es genauso, ist's wie beim Indianerles spielen: Winnetou haut dem Cowboy voll eine in die Fresse und hinterher geht man Arm in Arm verheult und glücklich heim zu Mama. Hugh!