"Hypertext, Hyperfiction, Hyperwissenschaft
Von der Hyperfiction zu kolloborativen Online-Projekten"
Simulation eines Vortrags vom 18.4. 2000 in Karlsruhe, Museum für Literatur am Oberrhein


von Heiko Idensen

Einführung von Torsten Liesegang

,,Die Poesie soll von allen gemacht werden", so lautet ein Artikel von Heiko Idensen in dem Band ,,Literatur im Informationszeitalter" In diesen Überschriften ist eine Verknüpfung angelegt, die ein zentrales Motiv in den Arbeiten Idensens kennzeichnet: die Anknüpfung an die Hoffnung der ästhetischen Avantgarde auf neue Rezeptionsformen und Schreibweisen, die in Zusammenhang mit den Neuen Medien aktualisiert werden. Schon die Form des Artikels ist dabei bemerkenswert. Aufgeteilt ist der Text in kurze Fragmente, der Endnotenteil länger als der Haupttext. Als Vorgriff ist dies zu lesen auf die von Idensen geforderte Verschiebung und Enthierarchisierung der Textebenen.
Ich zitiere: ,,Leser und Schreiber sind jetzt gleichermaßen mit denselben Maschinen und Tools angeschlossen, schreiben und lesen gleichzeitig an einer über die ganze Welt verteilten und zerstückelten Textur. [...] Im Gebrauch digitaler Informationsnetzwerke bricht der für die abendländische Kultur konstitutive wesentliche Unterschied zwischen Schreiben und Lesen, Senden und Empfangen, Bezeichnen (Codieren), Interpretieren (Decodieren) zusammen: Produktion, Verbreitung, Interpretation, Kommentierung, Retrieval von Informationen spielen sich in einem hypermedialen Netzwerk offener Verweis-, Navigations- und Strukturierungsoperationen ab. Die Philosophen und Medientheoretiker haben die vernetzte Welt der Medien nur verschieden interpretiert. Jetzt kommt es darauf an, die Schaltung der Medien als interdisziplinäre Kulturtechniken zu entwenden."

Die Abwandlung des Marx-Zitats markirt sinnbildlich eine Kommunikationsutopie, die im Zusammenhang mit den digitalen Medien artikuliert wurde und wird ..."


Aufnahmefunktion deaktiviert

Der Vortragende springt auf einen Barhocker und beginnt wie wild über den gegenwärtigen Diskussionsstand zur Netzliteratur zu schimpfen: darüber, daß seit dem vermeidlichen Coup mit Stephen Kings "Riding the bullet" jetzt sogar in der Wirtschaftswoche von "Netzliteratur" die Rede sei ... das Ganze sei aber nur ein Trick der multinationalen Konzerne, um online Marketing-Strategien zu testen:
Was der User dann erhält als elektronischer Text ist ein Hohn: eine PDF-Datei, die mittels eines Schlüssels nur auf einem einzigen Computer laufe, Text, der nicht einmal über die Zwischenablage zu kopieren sei, was solle man überhaupt mit so einem elektronischen Text anfangen? Lesen etwa? Ausdrucken? Der einzige Reiz liege in dem Versuch, den Schlüssel zu knacken ... oder gefälschte Versionen des Textes im Netz zirkulieren zu lassen ...
Der Organisator unterbricht an dieser Stelle zum Glück den Vortragenden, der sich vollkommen verrannt und verirrt hat - und bittet ihn, noch einmal anzufangen, der Vortrag solle direkt auf Audio-CD gebrannt werden und er hätte vergessen, auf RECORD zu drücken.
Idensen kommt sichtlich erleichtert von seinem Trip herunter.
RECORD.

 

unpassende mail

Es piept. Mail ist angekommen. Da der Beamer schon angeschlossen ist, können alle Zuhörer mitlesen. Endlose Subjektlisten huschen über den Bildschirm ... "Frühlingsanfang", "ebook" .. und immer wieder "big brother" ... aber da erscheint wirklich auch eine über "Lite@tur in Karlsruhe" - das könnte doch vielleicht noch wichtig sein für den Vortrag ...
" ...
>"Da redet ein Literaturwissenschaftler über Hypertexte und kollaboratives
>Schreiben."
>"Och, nö..."
a)
Du kennst "If Commodore had to market Sushi the'd call it <<cold
raw fish>>".
b) Du bist ein exzellenter Literaturwebmaster aber ein mieser
Verkäufer. (duck)
c) "Kannnst du Dir vorstellen, dass ein Literaturwissenschaftler
Kunstprojekte bei der "Ars Electronica" macht? Eben, ich auch
nicht, komm, den Weirdo gucken wir uns an."
d) "Als ich ihn kennengelernt hatte saß er bei einem dreitägigen
Seminar pausenlos da (in der Ecke bei der Tür ohne Tisch wg.
Stromanschluss) und hackte auf sein Notebook ein. Zweimal stand
er auf: einmal um seinen Vortrag abzuliefern und einmal fuer nen
kurzen Redebeitrag. Hey, ... (s.o.)"
;)
*& renn*
OG
--
>SURFTIP: William Shakespeare
>http://www.psrg.cs.usyd.edu.au/~matty/Shakespeare/"
..."
(Die Mail ist aus dem Ordner "Mailinglist Netzliteratur"(http://www.netzliteratur.de) von Oliver Gassner ... ein paar mails gingen hin- und her zu der Frage der "Netzautorenschaft" ("Netzliteraten, die Künstler, Theoretiker und ihre eigenen Kritiker und Textdeuter sind", Wolfgang Tischer" , mail on Wed, 26 Apr 2000 00:40:18 +0200) ... und dann heißt es zu eben dem Vortrag, der jetzt endlich anfangen sollte)
Auch jetzt scheint der Vortragende nicht von seinem Powerbook loszukommen. Aber er klickt die Mail weg und spricht jetzt wirklich live ins Mikrofon:

Schreiben im Netz (Drohungen und Programm)

Die meisten Ansätze in der Diskussion und Konzeption einer "Literatur im Netz" greifen zu kurz, weil sie hauptsächlich Aspekte der Distribution und Kommunikation beleuchten - und die grundlegenden Operationen literarischer (oder generell textueller) Praxis ganz außer acht lassen: das Schreiben (im Netz) selbst, eben die neuen Formen textueller Produktivität in digitalen und vor allem vernetzen Schreib- und Leseumgebungen ...
An genau diesem Punkt setzen nun meine theoretischen und praktischen Aktivitäten computer- und netzwerkunterstützten Schreibens an.
Ich möchte Ihnen zunächst einige Überlegungen - anhand ausgewählter Schlüsselstellen, sozusagen einer Art "Wörterbuch der Gemeinplätze" - vorstellen zum Themenkomplex Text-Generierungen, hyperliterarische und hypertextuelle Produktionsweisen, um Sie dann im zweiten Teil zu entführen zu einer Odyssee durch das wilde WWW ...

Im noch "trockenen" papierenen textuellen Teil werde ich Sie noch einmal quälen mit Fragestellungen und Positionen, die keinesfalls neu sind, von der Medientheorie, Netz- oder Hypertextkritik erfunden, sondern die schon lange durch die Literatur- und Mediendebatten geistern - und jetzt eine fröhliche Wiederauferstehung feiern angesichts der vernetzen hypertextuellen Kulturtechniken ...
Wer spricht?
Keinesfalls ich, sondern sie hören einen Chor von Stimmen, ein Palimpsest sich überlagernder Texturen und Schichten ...
Und ich hoffe, daß sie erfahren, wie ich selbst auch permenent mit der Form ringe und verschiedene Sprechweisen, Masken, Rollen einnehmen, simuliere - und sicherlich inzwischen auch schon selbst wieder parodiert, simuliert und umgeleitet werde durch, in und um ... Netzprotokolle, Suchmaschinen-Listings, Mailinglist-Beiträge, Wissensportale, Agenten ...

Ich danke ... und denke ...

... wem könnte mein Dank gelten?
Gutenberg oder James Joyce, Michael Joyce oder den Programmierern von Storyspace ... den Programmierern von Microsoft Word TM, ohne die ich nie eine einzige Zeile hätte schreiben können usw. usf. oder Linux Torwald und einer ganzen Schar weltweit im Netz operierender und sich austauschender Entwickler und Nutzer von "Freier Software", mit deren Hilfe ich mich endlich befreien könnte vom Joch sogenannter Standard-Software, die doch nie das macht bzw. die Operationen anbietet, die ich jetzt gerade benötige ... und die ich vor allem auch nicht an meine Bedürfnisse anpassen kann ...

Sie merken schon, wie ich permanent abschweife - sicherlich bin ich selbst auch schon längst "Lost in Hyperspace" und ich suche immer noch Tools , Schreib- und Arbeitsumgebungen, die mich bei meiner Arbeit in und mit dem Chaos von Netztexten unterstützen ...

(Jetzt scheint Netscape wieder abgestürzt zu sein - also Neustart im Hintergrund ...
)

In den Texten, die sich auf meiner Festplatte angesammelt haben, klingen sowohl Fragen nach der Autorschaft (und der Autorenfiktion) an, als aber auch immer wieder ganz praktische Fragen nach den Aufschreibesystemen, Werkzeugen, der Software und den Betriebssystemen - also letztlich den literarisch- diskursiven Produktionsmitteln, die der im oder am Netz hängender Schreibende (und Lesende) benutzt, bzw. von denen er/sie benutzt wird ...
"Das Schreibzeug arbeitet schließlich mit an unseren Gedanken" ...
mußte schon Nietzsche (nach seinen leidvollen Erfahrungen u.a. mit Kugelkopfschreibmaschinen) feststellen - und er entwickelte -frei nach Friedrich Kittler - u.a. auch im Kampf mit seinen Schreibutensilien z.b. seinen aphoristischen Stil ...

... und wir als "Untertanen" von Microsoft ... wie können wir als AutorInnen & ProduzentInnen agieren, als LeserInnen im Netzwerk ?
...

Joyce gegen Gutenberg: 1:1

"Mit der Fusion von Technologie und Kultur hat es etwas Merkwürdige auf sich. [...] Als James Joyce 1922 seinen Roman Ulysses veröffentlichte , der alle unseren Erwartungen darüber revolutionierte, wie ein Buch aussehen solle, war er da sehr viel anders als Gutenberg? Man konnte es damals zwar nicht erkennen, doch Joyce war ein hochbegabter Techniker, der mit seiner Buch-Maschine herumexperimentierte und sie Dinge tun ließ, die sie noch nie zuvor getan hatte. Seine Zeitgenossen hielten ihn für einen Künstler (oder einen Pornographen, je nachdem mit wem man sprach), doch aus heutiger Sicht hätte er ebensogut ein Propgrammierer sein können, der den Programmcode für eine Satz- und Druck-Anwendung schreibt. Joyce schrieb die Software für eine Hardware, die einst Johannes Gutenberg ersonnen hatte. Wenn man den Blickwinkel umkehrt, bleibt die Analogie genauso gültig: Gutenbergs umwälzende Erfindung, welche die vorhandene Manuskript-Technologie revolutionierte, die auf Gänsekiele und Schreiber angewiesen war, bleibt ein ebenso profunder schöpferischer Akt wie Molly Blooms Schlußmonolog in Ulysses. Beide Innovationen waren das Ergebnis aufregend einfallsreicher Sprünge nach vorn, und beide veränderten unsere Sicht auf die Welt. Gutenberg baute eine Maschine, die Joyce mit einigen innovativen Programmen frisierte, und Joyce brüllte die Variation eines Themas hinaus, das ursprünglich Gutenberg zu Papier gebracht hatte. Beide waren Künstler. Beide waren Techniker ..."
(Steven Johnson: Interface Culture. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern,Stuttgart 1999, (OT: New York 1997, 11
online-Magazin Feed:
http://www.feedmag.com

Am Anfang war das Wort ("Die Imaginäre Bibliothek")

(Background-Murmeln: aus der Hypermedia-Performance "CodeCrunsher":)
http://www.audio.uni-lueneburg.de/text/code/index.htm
... es wurde gesprochen, getanzt, gesungen, geliebt, verdoppelt, erzählt, geknotet, gebetet, wiederholt, rezitiert, vergessen, eingeritzt, eingebrannt, gemalt, gemeißelt, geschrieben, in Tabellen gelistet, in magischen Formeln versteckt, gedruckt, gebunden, verlegt, als Fußnote an den Rand gedrängt, indiziert, gereimt, gezählt, formalisiert, codiert, compiliert, gespeichert, gescannt, als Muster wiedererkannt, übertragen, gefaxt, verschlüsselt, komprimiert, optimiert, transformiert, konvertiert, genormt, gelöscht, gelinkt, überschrieben, als Absprungsort markiert, zum Objekt erklärt, als Programm aktiviert, das Worte schafft...
Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl ineinander verschachtelter Bildschirme zusammen. Weite, in die Tiefe führende Wege, die nur über das Aktivieren bestimmter Schalter zu erreichen sind, werden eingefaßt durch Markierungen am Rande dieser Blätter aus vergessenen Schätzen geschriebener, gezeichneter, imaginierter Buch-Utopien.
Die Anordnung der auf dem Bildschirm erscheinenden Bücher ist niemals dieselbe, ebensowenig die Art und Weise, in der sich der Benutzer durch die verschiedenen Gebiete der Bibliothek hindurchbewegt.
Das Buch ist bisher das radikalste Interface für den Entwurf virtueller Welten. Alle anderen Maschinen an die sich der Mensch derzeitig anschließen kann, spiegeln hauptsächlich ihre eigene Funktionalität zurück oder lassen den gelangweilten Geist in raffinierte Rückkopplungsschleifen eintreten: Brainmachines. Sie erscheinen als blasse Abbilder eines phantasmagorischen Lesens.[1]http://www.hyperdis.de/pool/

Eine Bibliotheks- / Bildschirm-phantasie: eine gewisse chinesische Enzyklopädie

Etwas wunderbares erscheint auf dem virtuellen Schirm, auf dem ein Schwarm vergessener Wörter sich mit lichtenen Lettern wie Viren ausbreitet ... das Imaginäre haust zwischen der Desktop-Oberfläche und dem Klicken ... man braucht, um zu träumen, nicht mehr die Augen zu schließen, man muß Navigieren ... Inter-Agieren ... Bild-Schirm-Denken ... Massen und Partikel von winzigen Informationen, Parzellen und Bruchstücke von Dokumenten verdichten und verflüchtigen sich ...

"Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen [...] es dehnt sich von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus, im Spielraum des Nocheinmal-Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte. Es ist ein Bibliotheksphänomen."
(Michel Foucault: Die Phantasmen der Bibliothek, in: Foucault: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien, hrsg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 85-91, hier: S. 87)
Da ist im Hintergrund ein Lachen zu hören, das immer mehr anschwillt und das automatische Display des folgenden Fragments auf pergamentener fast durchscheinender Oberfläche nach der Art eines vielschichtigen Palimpsestes fast in den Hintergrund drängt:
" Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert und unsere tausendjährige Handhabung des Gleichen und des Anderen schwanken läßt und in Unruhe versetzt. Dieser Text zitiert "eine gewisse chinesiche Enzyklopädie", in der es heißt, daß "die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebären, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.'(Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache John Wilkins', in: ders., Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S.212) Bei dem Erstaunen über diese Taxinomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird - die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken." (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main, 1971)

Computer als Theater: Das Gastmahl

... ein Vorteil virtueller Welten ist die Befreiung von den drei aristotelischen Einheit von Zeit, Ort und Handlung, durch deren Zusammenspiel eine klassische dramatische Situation gekennzeichnet ist. Medienereignisse dagegen erscheinen als simultane, sich überlagernde Schichten, als Unterbrechungen, Sprünge, rhizomatische Wucherungen, die einerseits an jeder Stelle abbrechen und andererseits alles mit allem verbinden können. Was kümmern Interface-Designer, Medienkünstler, Internet-Nutzer die klassischen Stellen, die Gedächtniskünste, Zitatnachweise oder Autorschaften? Selbst exzessiver Mediengebrauch weckt keinen Hunger nach einer Archäologien der Medien oder nach kulturhistorischen Verschaltungen. Sie wähnen sich in der Gestaltung ihrer Desktops und Oberflächen vollkommen frei ("im Rahmen der vom Betriebssystem oder den zugrunde liegenden Übertragungsprotokollen vorgegebenen Parametern!" souffliert der animierte Hilfs-Clown vom Rande der Desktop-Bühne), müssen sich an keine feste Tischordnung / Sitzordnung halten.
Um den linearen Geschichts- und Diskursmodellen der Buchkultur endgültig zu entfliehen, stellen wir ein virtuelles Gastmahl zusammen und bitten die klassichen Meisterdenker Platz zu nehmen, um (in der öden Gesellschaft von Bildschirmschonern) den Abgang der Gutenberg-Galaxis mit dem Schauspiel ihres Denkens zu zelebrieren.
Die Protagonisten erscheinen auf dem Desktop dargestell durch stilisierte comikhaft sprechende Icons, die mittels eines Sprachsynthese-Programms die entsprechenden Textstellen direkt aus dem Internet 'vorlesen':

Plato: Schrift tötet lebendiges Gedächtnis

Plato, sich gleichermaßen gegen Literatur im Netz als auch gegen die Schrift prinzipiell wendend simuliert seinerseits einen Dialog zwischem seinem nur mündlich lehrenden Lehrer Sokrates mit Phaidros, in dem die Schwäche der Schrift im Gegensatz zu dialogischen Kultur herausgestellt wird:
"Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht."
(Platon, Phaidros. in: Sämtliche Werke 4, Hamburg 1957, S.56 )

Derrida: bloß nicht an der Oberflächen bleiben!

Derrida, müde und abgespannt wirkend vom dauernden differenzieren und dekonstruieren, pflichtet ihm bei und überbietet ihn noch (wer hätte das gedacht - oder handelt es sich um ein Mißverständnis, einen Übersetzungs- oder Übertragungsfehler?)
"Was es heute zu Denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden. (155) Wenn wir den Text vom Buch abheben, dann wollen wir damit sagen, daß der Untergang des Buches, wie es sich heute in allen Bereichen andeutet, die Oberfläche des Textes bloßlegt. (35)
Kinematographie, Choreographie, aber auch 'Schrift' des Bildes, der Musik, der Skulptur usw. Ebensogut könnte man von einer athletischen Schrift sprechen und, in Anbetracht der Techniken, die heute dieses Gebiet beherrschen, mit noch größerem Recht von einer Schrift des Militärischen oder des Politischen. [...] Im Hinblick auf die elementaren Informationsprozesse in der lebenden Zelle spricht auch der Biologe heute von Schrift und Pro-gramm. Und endlich wird der ganze, vom kybernetischen Programm eingenommene Bereich [...] ein Bereich der Schrift sein. (21) Entgegen allem Augenschein kündigt der Tode des Buches zweifellos [...] bloß einen Tod des gesprochenen Wortes und eine neue Mutation in der Geschichte der Schrift [...] an. (20) Wie schon bei Platons Schrift der Wahrheit in der Seele haben wir es auch noch im Mittelalter mit einer im metaphorischen Sinnen verstandenen, natürlichen, ewigen und universalen Schrift zu tun [...]. Wie im Phaidros bleibt ihr eine gewissermaßen abgefallene Schrift entgegengesetzt. (31)"
(Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt/Main 1974, Originaltitel: De la grammatologie, Paris 1967)

Plato: Verwerfung jeglichen Schreibens

Plato, jetzt wirklich sauer auf diesen Versuch, die Schrift wieder aus den Klauen der Mündlichkeit zu befreien, wird laut und unflätig:
"Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Erinnerns, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. "
(Platon: Phaidros. in: Sämtliche Werke 4, 7-61, nach Friedrich Schleiermachers Übersetzung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck herausgegeben, hier:55)

Bonaventura: Schreiber, Kompilator, Kommentator, Autor - eine Kampffront

Bonaventura führt seine Hand an die Lippen, möchte am Liebsten wortlos (oder lautlos?) reden, verweist auf den alten Leiseleser und reicht seine Randbemerkungen an den (virtuellen) Diskursleiter weiter, der folgende Worte in einer alten, kaum leserlichen Frakturschrift biledschirmfüllend über den Screen scrollen läßt:
"Es gibt vier Arten, ein Buch zu machen. Man kann Fremdes schreiben, ohne etwas hinzuzufügen oder zu verändern, dann ist man ein Schreiber (scriptor). Man kann Fremdes schreiben und etwas hinzufügen, das nicht von einem selbst kommt, dann ist man ein Kompilator (compilator). Man kann auch schreiben, was von anderen und von einem selbst kommt, aber doch hauptsächlich das eines anderen, dem man das Eigene zur Erklärung beifügt, und dann ist man ein Kommentator (commentator), aber nicht ein Autor. Man kann auch Eigenes und Fremdes schreiben, aber das Eigene als Hauptsache und das Fremde zur Bekräftigung beifügen, und dann muß man als Autor (auctor) bezeichnet werden."
(Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das moderne Schriftbild entstand. Ein Kommentar zu Hugos "Didascalicion", Frankfurt/Main 1991, Übersetzung (aus dem Englischen) Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Originaltitel: L'Ere du livre, Paris 1990, 112)
In einer Schrift zum Lob der Schreiber versucht ein benediktinischer Abt seine Ordensbrüder von der Notwendigkeit des manuellen Abschreibens der heiligen Bücher angesichts der heraufkommenden Reproduktionsmöglichkeiten der Drucktechnologie zu überzeugen:

Trithemius: Lob des Schreibers

"Wer wüßte nicht, welcher Unterschied zwischen Handschrift und Druck besteht? Die Schrift, wenn sie auf Pergament geschrieben wird, vermag tausend Jahre zu überdauernd; wie lang wird aber der Druck, der ja vom Papier abhängt, Bestand haben, wenn ein Papiercodex zweihundert Jahre überdauert, ist es viel; gleichwohl glauben viele, ihre Texte dem Druck anvertrauen zu müssen. Hierüber wird die Nachwelt befinden. Selbst .wenn jetzt schon viele Bände gedruckt vorliegen, werden doch niemals so viele gedruckt sein sein, daß man nicht etwa wieder etwas zum Schreiben wird finden können, das noch nicht gedruckt ist. Schwerlich wird auch jemand alle gedruckten Bücher auffinden oder für sich erwerben können. Selbst wenn alle Werke der ganzen Welt gedruckt würden, bräuchte ein hingebungsvoller Schreiber von seinem Eifer keineswegs abzulassen; er müßte vielmehr auch den gedruckten und nützlichen Büchern Dauer verleien, indem er sie abschreibt, da sie ansonsten nicht lange bestand hätten. Erst seine Leistung erwirbt den dürftigen Werken Autorität, den wertlosen Größe und den vergänglichen Langlebigkeit. Ein begeisterter Schreiber wird jedenfalls immer etwas finden, was seiner Bemühung wert ist. Er begibt sich nicht unter die Abhängigkeit des Druckers; er ist frei und erfreut sich seiner Freiheit, indem er seine Aufgabe erfüllt. Und er sit dem Drucker keineswegs so unterlegen, daß er wegen dessen Kunst seine bemühungen aufgeben müßte."
(Trithemius, Johannes: De Laude Scriptorum. Zum Lobe der Schreiber. Eingeleitet und übersetzt von Klaus Arnold. Würzburg 1973, Originaltitel 1492, 63 ff)
Im Gegensatz zu den AutorInnen haben es die Literatur- und MedientheoretikerInnen schon immer gesagt: Das Buch ist tot, der Autor ist tot, Lesen ist das Ausfüllen von Leerstellen im Text. Seltsame Widersprüche zur gesellschaftlichen Praxis werden evident: Immer noch erscheinen Bücher mit Autorennamen auf dem Cover ..., aber andere Produktions- und Distributionsweisen scheinen sich zumindest im Universum vernetzter elektronischer Texte anzudeuten.
In der Problematisierung von Copyright und Eigentumsverhältnissen von Texten und Bildern im Internet werden zumeist die modernen bürgerlichen Rechtsnormen als unhinterfragte Bezugspunkte gesetzt, ohne deren historische Relativität zu berücksichtigen. Ein diskurshistorischer Blick auf die Entstehung der Autorenfunktion von Texten zeigt hingegen, daß Texte auch ohne Autorennamen zirkulieren können.

Foucault: Im Namen des Autors: Sie sind entwaffnet!

Foucault stoppt sein dauerndes störendes Getuschel mit Derrida (in einem mit Geheimcodes durchsetzen fränzösisch) und sieht seine Chance, das Blatt zu wenden:

"Andererseits gilt die Funktion Autor nicht überall und nicht ständig für Diskurse. In unserer Kultur haben nicht immer die gleichen Texte einer Zuschreibung bedurft. Es gab eine Zeit, in der die Texte, die wir heute >literarisch< nennen (Berichte, Erzählungen, Epen, Tragödien, Komödien), aufgenommen, verbreitet und gewertet wurden, ohne daß sich die Autorfrage stellte [...]. Im Gegensatz dazu wurden die Texte, die wir heute wissenschaftlich nennen, über die Kosmologie und den Himmel, die Medizin und die Krankheiten, die Naturwissenschaften oder die Geographie im Mittelalter nur akzeptiert und hatten nur dann einen Wahrheitswert, wenn sie durch den Namen des Autors gekennzeichnet waren."
(Foucault, Michel: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main 1979, 19)

Die Autorenfunktion wird also - je nach dem technischen Stand des Kommunikationssystems - erst als ein medialer Effekt des jeweils vorherrschenden Informationssystems der Wissensverarbeitung produziert.
Jetzt erscheint ein freundlicher, aber harmloser Software-Agent auf dem Bildschirm und fordert den Vortragenden auf, endlich zum Thema zu kommen, mit dem Vorspiel aufzuhören, genug des gelehrigen Geschwätzes, brauche es den einen solchen theoretischen Unterbau für das kollaborative Schreiben im Netz?
...
Schnell schließe ich das Fenster dieser wirklich spannend programmierten JAVA- Applikation, die an frühe Text-Adventures erinnert und wähle mich (aus Gewohnheit oder Langeweile) ins Internet ein. Das hohe Piepen des internen Modems aktiviert meine Zirbeldrüse. Der Ton steht einen kurzen Moment, kippt ... Jetzt bin ich drin. Eine gewisse Unruhe ergreift Besitz von mir. Der Desktop ist ein Terminal geworden. Terminalstadien des Denkens? Ankünfte und Abfahrten ...

Aus dem Lautsprecher dröhen Protestrufe einer meuternden Menge, aufgenommen auf einer Demonstration für freie Netzkunst 1996. Die unheimlich starke Datenreduktion verführt allerdings dazu, anzunehmen, es würde sich um irgendeinen historisch weit zurückliegenden Aufstand handeln, vielleicht die Erstürmung des Winterpalais oder die Treppenszene aus Panzerkreuzer Potemkin ...

Lernen: Hören, Lesen, Browsen

Heuzutage findet ein Übergang statt vom Lernen, Verarbeiten und Aufnehmen durch Interaktion mit geschriebenen Materialien - einer Revolution der Informationsaufnahme durch den Buchdruck im späten 15. Jahrhundert, die letztlich zur Reformation, zur Industrialisierung und zu bürgerlich-demokratischen Zugriffsweisen auf Informationen geführt hat - zu einem neuen Lernen in digitalen Informationsenvironments. Vor dem Gutenberg-Zeitalter vollzogen sich Lernprozesse direkt im mündlichen Dialog zwischen Personen: lautes Lesen, Vor-Lesen und Auswendiglernen waren zentrale Übermittlungs- und Speicher-Paradigmen.
Die Übergänge gestalten sich nicht immer einfach: So protestierten etwa die Studenten im 15. Jahrhundert durch Trampeln und Pfeifen, als die Professoren in den Vorlesungen begannen, die Texte nicht mehr langsam im Diktierrythmus vorzulesen, sondern eine schnellere Diktion einschlugen. Die Vorlesung änderte ihren Charakter grundlegend, weil der Faktor der direkten Text-Übermittlung wegfiel zugunsten eines Meta-Diskurses über Texte, die nun schon gedruckt vorlagen. Der Durchsatz (Bytes per second) wurde optimiert, das Textformat und der Adressat änderte sich.
Im Rahmen einer allgemeinen Alphabetisierung wurde dann das gedruckte Buch zur vorherrschenden Bildungsinstanz: industrielle Produktion von identischen Kopien die breit gefächert verteilt und kontrolliert werden können, Herausbildung der Autorfunktion (Autorität, Originalschöpfer von Ideen, Copyright-Besitzer) und diversifizierter, sozial abgestufter Leserkompetenzen (Identifikation mit Romanfiguren, literarische Imaginationsräum aber auch weitergehende Operationen wie Randbemerkungen, Exzerpte, Anmerkungen, Kommentar oder Kritik) bilden sich als hermeneutische Text-Auslegungspraktiken heraus. Zensurmaßnahmen von Kirche und Staat vollziehen sich durch die konkrete Zerstörung von Buchkörpern, Druckmaschinen oder - trotz der demokratisch garantierten Meinungsfreiheit - durch Verhöre und sozial abgestufte Isolierungen, Einschließungen oder Ermordungen der Autoren.
Werkzeuge für den Leser sind kaum verfügbar: Bleistift, Lesezeichen, Notizheft. Aber Voricht: nicht nur der Vertrieb, sondern auch der Besitz eines Buches kann strafbar sein. Die Schreibwerkzeuge der Autoren (Federhalter, später Schreibmaschine) sind getrennt von den Produktionsmitteln der Verleger.
Massenmediale Produktionsweisen (Zeitungs-, Radio- und TV-Monopole) unter Aufsicht des Staates garantieren eine ideale Verbreitung kapitalistischer Tugenden, Inhalte und Strukturen zur Aufrechterhaltung und andauerdnen Perpetuierung des Systems von Angebot und Nachfrage, inkl. eingebauter Katharsis-Instanzen (wie Kunst oder Sport) und einem ausgeklügelten System zur Aufrechterhaltung und Speisung auch der privaten 'Mythen des Alltags'.

Roussel-Lesemaschine (1937)

Zum Schluß des paperierenen Teils noch ein extremes Beispiel aus der Literatur, an dem die schöpferische Rolle der Sprache bei der Schaffung von Wissenskontexten deutlich wird. In einer Entwicklungsreihe mit Kempelens Sprachmaschine zur Vokalsynthese und einer Reihe künstlerischer und literarischer Sprach-, und Sprechmaschinen(ev. ausführen!) ist die Schreibweise Raymond Roussels zu sehen, der neben einer Unzahl phantastischer Maschinenentwürfe in seiner Schreibweise verstärkt Parenthesen verwendet.
Im Jahr 1937 auf einer Surrealisten-Ausstellung gibt es bereits den Versuch, seine Sprache in ein mechanisches Modell umzusetzen: der in der linearen Buchform durch endlose Aufzählreihungen, Abschweifungen, Fußnoten und Parenthesen mit 9-fachem Verschachtelungsgrad 'unlesbarer Text' ist dabei auf eine "Roussel-Lesemaschine" übertragen worden.
Zum Lesen drehe man mit der rechten Hand an der Kurbel, so daß die Text-Karten sequentiell weitergeblättert werden, während man mit dem linken Zeigefinger eine bestimmte Ebene farbiger Reiter arretiert, so daß nur bestimmte Textkarten aufgeblättert werden können.
(Texte mit 9-fachem Verschachtelungsgrad, die im Drucktext mittels Klammern eingefaßt und linear kaum zu lesen sind: Raymond Roussel, Nouvelle Impressions d'Afrique, 1963

MEMEX (Memory Extender, 1945)


Die Visionen eines universellen vernetzten Archivs von Texten mit der Möglichkeit einer assoziativen Verknüpfung mittels externer technologischer Speichersysteme findet gleich nach dem 2. Weltkrieg neue Nahrung bei der Umstellung amerikanischer Forschung auf zivile Wissenschaftsnetze durch Vannevar Bushs Entwurf eines wissenschaftlichen Arbeitsplatzes:
Daß die hier konzipierten medialen Schnittstellen (Trockenfotographie, Mikrofilm) sich noch nicht in Richtung der seit den 30er Jahren entwickelten Analogrechner orientieren tut der Radikalität des Entwurfs keinen Abbruch. MEMEX gehört auch heute noch nicht auf die Dead Media List (http://www.well.com/user/jonl/deadmedia/), sondern fungiert immer noch als utopisches Modell für Weiterentwicklungen - von adaptiven Benutzerschnittstellen oder kooperativen Arbeitsumgebungen im Netz.
Ich drücke den Auslöser und mache ein Bildschirmfoto diese Szene. Enter.

Schreib-Tisch

"Der Memex besteht aus einem Schreibtisch[...]: Oben befinden sich schräge durchscheinende Schirme, auf die das Material bequem lesbar projiziert werden kann. Es gibt eine Tastatur und eine Reihe von Knöpfen und Hebeln. [...] Der größte Teil des Memex-Inhalts kann bereits fertig auf Mikrofilm erworben werden. Bücher jeder Art, Bilder, aktuelle Periodica, Zeitungen [...]. Und es gibt die Möglichkeit zur direkten Eingabe. Auf der Oberfläche des Memex befindet sich eine transparente Fläche. Hier können handschriftliche Notizen, Photographien, Memoranden, alles Mögliche aufgelegt werden. Wenn dies geschehen ist, wird durch Hebeldruck eine Photographie angefertigt, die auf dem nächsten leeren Segment des Memex-Films erscheint; [...] Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, mithilfe der üblichen Indizierungssysteme auf das Archiv zuzugreifen. [...] Da dem Benutzer mehrere Projektionsflächen zur Verfügung stehen, kann er einen Gegenstand in Position lassen und weitere aufrufen. Er kann Notizen und Kommentare hinzufügen [...] ganz so, als hätte er die Buchseite tatsächlich vor sich."

Ich betätige einen Hebel unter meinem Schreib-Tisch und schalte direkt zum zentralen Moment des MEMEX, dem viel zitierten Assoziationsmechanismus - eine Operation, die in allen bisherigen externalisierten Speicher- und Archivierungstechniken fehlte. Ich folge einem Link, der wieder direkt in eine Übersetzung des Originaltextes führt:

Gedankenassoziation, Wissenspfade

"Das wahre Problem bei der Auswahl (Datenselektion) liegt allerdings tiefer und ist nicht nur durch die mangelnde Anwendung von Hilfsmitteln in den Bibliotheken oder die schleppende Entwicklung solcher Werkzeuge bedingt. Es ist vor allem die Künstlichkeit der Indizierungssysteme, die es erschwert, Zugang zu den Aufzeichnungen zu bekommen. Egal, welche Daten man in ein Archiv aufnimmt, sie werden alphabetisch oder numerisch abgelegt, und die Information wird (wenn überhaupt) wiedergefunden, indem man Unterabteilung für Unterabteilung durchgeht. Die jeweilige Information kann sich nur an einem Ort befinden, es sei denn, es werden Duplikate benutzt. Zum Auffinden mittels Pfad braucht man Regeln, und diese sind umständlich. Dazu kommt, daß man nach dem Auffinden einer Information das System verlassen und immer wieder neu ansetzen muß.
Der menschliche Geist arbeitet anders, nämlich mittels Assoziation. Kaum hat er sich eine Information beschafft, greift er schon auf die nächste zu, die durch Gedankenassoziation nahegelegt wird, entsprechend einem komplizierten Gewebe von Pfaden, das über die Hirnzellen verläuft."

Koppelung

Und genau die Mechanisierung eben dieser Assoziationsfähigkeit ist das Kernstück im MEMEX-Entwurf, das die weitstreuenden Wirkungen dieses Textes bis in die heutige Zeit ausmacht. Und hier realisiert sich im Modell genau das, was z.b. die Freudsche Metapher des Unbewußten als Wunderblock nicht zu leisten vermag: die Verschränkung und Koppelung kultureller Informationssegmente mit einem frei programmierbarem Indexsystem, das zudem auch noch verschiedene Medien anschlußfähig macht. Und das finden wir auf keiner Buchseite ...
Doppelklick auf das Wort Koppelung.
"Es braucht jedoch noch einen weiteren Schritt zur assoziativen Indizierung. Deren grundlegender Gedanke ist ein Verfahren, von jeder beliebigen Information - sei es Buch, Artikel, Fotografie, Notiz - sofort und automatisch auf eine andere zu verweisen. Dies ist es, was den Memex wirklich Ausmacht: Es ist ein Vorgang, der zwei Informationen miteinander verbindet. Das ist das Kernstück.
[...] Vor ihm befinden sich zwei zu verbindende Informationen, auf nebeneinanderliegende Positionen projiziert. Am jeweils unteren Rand davon befinden sich eine Anzahl leerer Codeflächen, dort werden Zeiger gesetzt, die auf die jeweils andere Information zeigen. Der Benutzer drückt eine einzige Taste, und die Gegenstände sind dauerhaft miteinander verbunden. [...]
Danach kann jederzeit, wenn eine der Informationen auf einer der Projektionsflächen sichtbar ist, die andere sofort abgerufen werden, indem ein Knopf unter der entsprechenden Codefläche gedrückt wird. Darüber hinaus können mehrere Gegenstände, wenn sie auf diese Weise zu einem Pfad verbunden wurden, nacheinander durchgeschaut werden, schnell oder langsam, indem man einen ähnlichen Hebel bedient, wie er zum Durchblättern der Bücher benutzt wird. Es ist genau so, als wären die jeweiligen Artikel, Notizen, Bücher, Photographien etc. leibhaftig aus weit entfernten Quellen zusammengetragen und zu einem neuen Buch verbunden worden. Und es ist noch mehr als dies, denn jede Information kann so zu einem Teil unzähliger Pfade werden."
(Bush, Vannevar: As We May Think, in: Atlantic Monthly 176 Juli 1945, S. 101-108, deutsche Teilübersetzung zitiert nach einer
Zusammenstellung von Hartmut Winkler:
http://www.uni-paderborn.de/~winkler/bush-d.html

Vannevar Bush: As we may think
http://www.isg.sfu.ca/~duchier/misc/vbush

Informationen zu Memex:
http://win-www.uia.ac.be/u/debra/INF706/memex.html

Das Ende der Aufmerksamkeit

Die Netzwerkverbindung wurde getrennt. Jetzt kann der Vortragende endlich seinen Redefluß kurz unterbrechen -und einen Schluck Wasser trinken. Pausen werden automatisch herausgefiltert. .. Die Verbindung steht wieder ...
Die Odyssee durchs WWW startet auf der Seite:
http://www.hyperdis.de

Konzept BSCW
(="Basic Support for Cooperative Work)

Das auf gängiger Browsertechnologie aufsetzende in langjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit von der GMD ("Gesellschaft für mathematische Datenverarbeitung", einer gemeinnützingen GmbH, die aus Bundes- und Ländermitteln finanziert wird) entwickelte "Basis-Werkzeug" zur Unterstützung von Gruppenarbeit steht für nichtkommerzielle Projekte in Forschung, Lehre und Weiterbildung kostenlos im WWW zur Verfügung. Die Vergabe von Accounts zur Installation eigener Arbeitsumgebungen und Arbeitsgruppen mit entsprechendem Webspace (auf dem schnellen GMD-Server) für Text, Bild, Audio- und Video-Dokumente ist überraschend unbürokratisch und wird großzügig gehandhabt.
Umso erstaunlicher ist es, daß (zumindest im öffentlich zugänglichen "Pub"-Bereich), nur eine Handvoll-Projekte versammelt sind, die sich zumeist im Test- und beta-Stadium befinden.
Mag sein, daß die Institutionen, die wirklich mit BSCW arbeiten, dieses mittels einer eigenen Server-Installation in geschlossenen Intranets tun (wie es etwa die Praxis einiger "Bildungsserver" ist) - auch diese installierbaren BSCW-Version steht kostenlos zum Download bereit (http://bscw.gmd.de).

  • BSCW soll in einer einfachen einheitlichen Oberfläche das gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten aller Art ohne spezielle Software, Plug-Ins, Script- oder Authoring-Tools ermöglichen. Die Funktionalität verbindet konzeptuell email-, FTP- und News-Technologien und ermöglicht sehr verschiedene Art und Weisen der Kooperation:
  • telekooperatives Arbeiten in gemeinsamen "workspaces"
  • asynchrone KommunikationsTools (email, Diskussionsboard, Annotation durch "Notizen")
  • synchrone Kommunikative Akte (Verabredungen zu "Terminen", Einbindungsmöglichkeiten von Chat, Videokonferenz-Schnittstellen)
  • Verwaltung von Arbeitsgrupenstrukturen, Termin und Kontakt-Organisation
  • Einbindung vielfältiger Formate (Standard-Text und Bild-Formate, einfache Multimedia-Formate)
  • komfortable Up/Download-, sowie Archivierungsfunktionen
  • einfache (ungestaltete) allgemeine Veröffentlichung, frei zugänglich im WWW
  • ansatzweise diskursive Funktionen wie Versionskontrolle und Bewertungsfunktionen

Das Medium ist Massage: Der Assoziationsblaster

Um deutlich zu machen, was unter solchen dynamsichen Vernetzungsstrategien zu verstehen ist, möchte ich auf die Funktionalität eines avancierten Netz-Literatur Projektes eingehen, das mittels automatischer Verlinkungsroutinen eine zentrales Moment des Schreibens im Netz zum Hauptparadigma erklären: den Link, den Zwischenraum der Texte, das Inter ..., die Intertextualität:
Es handelt sich um den Assoziations-Blaster der beiden Stuttgarter Merz-Akademie-Studenten Alvar Freude und Dragan Espenschied:
http://www.assoziations-blaster.de/

Schreiben im Netzwerk

Bisherige Mitschreib-Projekte im Netz kranken größtenteils daran, daß sie nach wie vor immer noch so tun, als würde ein vereinzelter User-Autor in einem einzigen Textfenster ganz allein für sich schreiben. Die einzelnen Textfragmente bleiben somit isolierte Einheiten (oder auch Zellen etwa im "Hyperknast" (http://www.gvoon.de/cgi-bin/lit_/waechst_/hypertextree.pl?area=story&which=C_0). Jedes Gästebuch, jedes Diskussionsforum - die Diskussionskultur der newsgroups - ströhmen dagegen mehr kommunikative Energie aus - und frühe Ansätze kollaborativen Schreibens (wie "The first collaborative Sentence" (http://math240.lehman.cuny.edu/art/) oder das "Europäische Tagebuch" (http://www.zerberus.de/texte/wam_kat/) sind trotz verstärkter technischer Feedbackmöglichkeiten heutiger Netzprotokolle (wenn man etwa an die Annotationsmöglichkeiten zu beliebigen Seiten im Netz über "Third Voice" (http://www.thirdvoice.com) denkt) kulturell bisher kaum eingeholt.
Genau an dieser Schnittstelle zwischen technischen Parametern der Übertragung und Speicherung und den darauf aufbauenden kulturellen Kodierungen setzt der Assoziationsblaster an, indem er keine Strukturen, keine Themen, keinen Kontext vorgibt, sondern ausschließlich mit der Linkstruktur arbeitet:

Schreiben im Assoziationsblaster

Im online-Schreibprojekt "Assotiationsblaster" (http://www.assoziations-blaster.de/"), werden die User mit den Link- und Assoziationsstrategien automatisierter Skripts konfrontiert, die die eingegebenen Textfragmente automatisch verknüpfen:
Der Besucher der Seite kann gar nicht anders, als in ein leeres Eingabefeld seine Assoziationen zu schreiben ...
Eine ironisierende "Bewertung" des eingegebenen Textes (Sklaliert nach Länge!) am Rande des Eingabefeldes (von "mäßg" bis "ausgezeichnet") und vor allem die 'Belohnung', nach drei eingegebenen Text-Stichworten, selbst ein neues "keyword"/Schlagwort kreieren zu dürfen, trägt sicherlich zur vergleichsweisen Popularität des Assoziationsblasters bei - ebenso die Unmittebarkeitsdes Eintauchens in das "Netzwerk der Texte" und dem konsequenten "Navigationsprinzip", das Schreiben als die einzige Möglichkeit zuläßt, überhaupt selbstständig in den Datenbestand einzusteigen (neben einem Zufallseinstieg und den Statistik-Seiten, die den User wiederum an den Mainstream der Suchmaschinenen etc. koppeln).
Informationsverdichtung durch Linkhäufung und unittelbare automatische Anknüpfung an und in fremde Texte? Ist das vielleicht ein möglicher Versuch, Ansätze für eine Poetik der Netzliteratur zu finden?
"Der Link wird durch die Automatisierung völlig entsemantisiert, das Zufallsprinzip des Textauswahl verhindert jegliche ’Sinnkonstruktion’, die Absicht des Projektes besteht somit einzig und allein in der Animation zur Produktion und in der Vernetzung der Assoziationen (die selbst ja wiederum durch Vernetzung entstehen). Durch die Möglichkeit, ad hoc Texte zu produzieren, die keinerlei Kriterium folgen müssen, da die Assoziation die einzige Vorgabe ist, wird die Partizipation offensichtlich angeregt. Teilweise verzeichnen die Projektinitiatoren bis zu 150 neue Texte am Tag."
(Christiane Heibach: Literatur im Internet: Theorie und Praxis einer kooperativen Ästhetik, Dissertation an der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universiät Heidelberg, Heidelberg 1999, 279)

Schreiben in "everything"

Eines der größten Einschränkungen in der Strukturierung von Wissensbasen im Netz liegt darin begründet, daß die Verknüpfungen nur in eine Richtung zeigen, also uni-direktionalen Charakter haben. Communities beheben dieses Manko durch "Webringe" (also Projektseiten, die untereinander Verlinkungsstrukturen aufbauen) oder durch per email versenderte Link-Anfragen, wie es etwa in der amerikanischen Hypertext-Scene (C.R.E.W.) üblich ist.
http://raven.ubalt.edu/features/crew/crew.htm
Durch den Einsatz von JAVA und CGI-Scripts können solche komplexen Konzepte aber auch schon direkt auf WWW-Seiten realisiert werden, wie es z.B. in der multidirektionalen Text-Datenbank "http://www.everything2.com" der Fall ist: hier ist eine Art Meta-Web installiert, eine SQL-Datenbank, in der eine lose Gemeinschaft schreibender User mit viel Witz und Ironie ein wachsenden Archiv unereinander vernetzter Kurz-Texte anlegen, die zumeist den Charakter von Lexikon-Einträgen, Kurz-Definitionen, Aphorismen haben. Neben einem parallel laufenden Chat-Kanal liegt auch hier der Anreiz zur Kollaboration im komplexen Verknüpfungssystem begründet: zusätzlich zu den automatischen Links zu Text-Knoten mit entsprechendem Titel, sind die "Soft-Links" bestechend, die durch Interaktionen und Navigationen anderer User zu den entsprechenden Text-Fragmenten am unteren Rand der Seite generiert werden. Die alte Vision Bushs von den "Wissenspfaden" durch komplexe Informationsenvironments feiert hier eine Wiederauferstehung: wenn ich von der Seite "Foucault" z.B. zur Seite "Enzyklopädie" verzweige (durch Eingabe in das Such-Feld, das zu einem zentralen Navigationsinstrument wird), wird eben der entsprechende "Softlink" erzeugt, der wiederum verstärkt wird, wenn auch andere User diesem Pfad folgen.
So wächst die "Intelligenz" dieser Datenbasis tatsächlich im direkten Gebrauch durch die Aktionen der UserInnen, die sich in das System einschreiben. (Ein dynamischer Filtermechanismus, der an diese Verknüpfungsmethode erinnert, kommt bei der Suchmaschine "http://www.google.com" zum Einsatz.)
Eine Adaption für einen 'deutschsprachigen' Diskurs in Everything wird in Kooperation mit unserem Forschungsprojekt vorbereitet. Die Url wird - neben allen hier erwähnten Projekten und Links - auf unserer neuen Projektseite (www.hyperdis.de/netkult) zu finden sein.

open end: Schreiben in nic-las

kollaborative Wissenschafts-Praktiken?

Das Wissenschaftsverständnis hat sich angesichts der postmodernen Informationstechnologien von einem passiven desktiptiven Paradigma (Relation zur Natur, Repräsentation von Fakten, Entdeckungen von ’Geheimnissen’ durch geniale Einzelwissenschaftler) zu einem konstruktiven Ansatz entwickelt: hier stehen die Prozesse und Operationen im Vordergrung, durch die Erkenntnisse überhaupt erst erzeugt werden. Diese Prozesse und Operationen sind von vornherein als ein kollaboratives Netzwerk angelegt; komplexe Forschungen können nur noch als teamwork vollzogen werden.
Ein Blick etwa in physikalische Forschungsliteratur zeigt Teams von mehr als 2000 WissenschaftlerInnen, die über Jahrzehnte zusammenarbeiten. Selbst bei einer Dissertation in einem solchen Arbeitskontext tauchen dann etwa die Namen von über 500 "Mitautoren" (in alphabetischer Reihenfolge) mit auf, so daß - trotz der restriktiven Regeln des zunftartig organisierten Wissenschaftsbetriebs - der einzelne Forscher ganz deutlich als Knoten in einem Geflecht von Querbeziehungen positioniert wird.
Kein Wunder, daß gerade in einem solchen Kontext schließlich die Grundlagen des WWW-Standards am CERN gelegt wurden.
Die Kulturwissenschaften verkünden zwar schon seit mehreren Jahrzehnten theoretisch den "Tod des Autors", Literaten deklamieren, daß die Poesie von allen gemacht werden solle, Künstler beschwören, daß Jedermann ein Künstler sei und die Textwissenschaften haben nachgewiesen, daß Homer ein bloße Fiktion ist und jeder Text ein kulturelles Geflecht aus anderen Texten ....
...aber bis auf wenige Experimente, spektakuläre Aktionen und immer wieder vorkommende Coautorschaften haben all diese Lamentos zu wenig diskurspraktischen Konsequenzen geführt.

Von Repräsentationssystemen zur autopoetischen Informationslanschaft

Genau aus diesem Grund haben wir an das Ende unseres Forschungsprojekts, gerade auch wegen der interdisziplinären Ausrichtung und den intendierten Synergieeffekten zwischen Theorie und Praxis, ein ganz praktisches Diskursexperiment gestellt: die kollaborative Erstellung einer online-Enzyklopädie zu den im Forschungsprojekt "Netz/Werk/Kultur/Techniken" behandelten Fragestellungen.

Entwicklung des Projektes

In einer Kooperation mit dem nic-las-Projekt, das sich aus der gemeinsamen Arbeit an einem zweiten Buch/CD-ROM-Paket zum Thema Netzliteratur aus einer Hypertext-Forschungsgruppe an der Universität Zürich zusammen mit den Entwicklern René Bauer und Joachim Meier entwickelt hat, werden in verschiedenen Arbeitsphasen und thematischen Duchgängen ganz gezielt MitschreiberInnen ’rekrutiert’ und durch workshops und kleinere Symposion Themenkluster gebildet und Erfahrungen mit den Netzwerktools diskutiert.
Parallel dazu wurde schon in mehreren Arbeitstreffen zusammen mit den Entwicklern die Schreiboberfläche im Netz selbst weiterentwickelt und für die Erfordernisse kulturwissenschaftlicher Forschungsarbeit adaptiert.
Hier findet sich für uns auch ein Feld, in dem wir die Erfahrungen mit BSCW und anderen Schreiboberflächen im Netz produktiv umsetzen können:
In einer Verschränkung von inhaltlicher Recherche und Aufbereitung aller im Forschungsprojekt angefallener Materialien und Dokumente arbeiten wir gemeinsam mit den Kooperationspartnern gleichzeitig an der Optimierung der offenen Informationslandschaft nic-las, die dann auch im Netz zur allgemeinen Benutzung für interessierte comunities und Forschungskontexte bereit steht- die Entwickler richten für spezielle Kontexte und Communities auch gern ein gesondertes "Portal" ein.
http://www.nic-las.ch/enzyklopaedie/

automatische Einordnung und Indizierung

Die Entwickler bezeichnen nic-las als "autopoetische Informationslanschaft":
Das Akronym "nic-las" steht für: "nowledge integrating communication-based labelling and access system".
Das offene Design der Schnittstelle ist konsequent dynamisch angelegt. Basierend auf der Systemtheorie von Niklas Luhmann liegen die Basisoperationen in vielfältigen nicht-liniearen Verknüpfungsmöglichkeiten:

Weiterentwicklungen

Insbesonders sind die Entwicklung folgender features wichtig:

  • Verbindung von hierarchischenund rhizomatisch/chaotischen Strukturen
  • Komplexes Verknüpfungs- und Referenzierungssystem für Dokumente
  • Dokument, Zeit und User-Ansichten
  • News, Index- und Suchfunktionen
  • Annotations- und Schreibrechte auch für anonymes login
  • Pfad- und Kontextualisierungsfunktion
  • Dynmaisches Verhältnis zwischen Text und Kommentaren
  • Synergie zwischen Lesen/Schreiben

Mache eine Unterscheidung!

nic-las läßt sich deshalb im Vergleicht zu allen anderen bisher getesteten Systemen so gut für kollaborative Schreibprozesse in kulturwissenschaftlichen Kontexten verwenden, weil das Grunddesign nicht auf fixen Dokumenten oder hierarischen Ordnerstrukturen beruht, sondern darauf, daß die User "Unterscheidungen" machen, "Differenzen" und "Referenzen" anlegen:

Anhang:

19.4.00 Fragen, Kritik, Anregungen (Literarische Gesellschaft, Karlsruhe)

  • welcher Wissensbegriff kommt hier in Ihrem Konzept und in den von Ihnen verwendetetn Beispielen zum Tragen? Es müssen doch auch komplexe semantische Bäume und grammatikalische Strukturen abgebildet werden - nicht nur 'flache' Linkstrukturen ... (Hermeneutik der Fachinformation?)
  • was sind eigentlich die Fragestellungen und das Thema?
  • das politisch/radikale/rhizomatische mehr betonen, vielleicht auch Kollaborationsformen in der Kunst (Künstlergruppen ...).
  • zu sehr technikzentrierter Ansatz; Spezialdiskurs auf Computer bezogen - zu wenig radikale Kunst, praktische Vernetzungsbeispiele - auch aus sozio-kulturellen Bereichen
  • Anwendungsbezogenheit? Einsatz von kollaborativen Systemen im Unterricht?

    feedback: BNN Nr. 94 - 22./23.April 2000: Die Erotik der Verknüpfung

Heiko Idensen sprach über literarisches Schreiben im Internet
Von der "Erotik der Verknüpfung"

Psychologe stell seine "imaginäre Bibliothek" im Prinz-Max-Palais vor

"Text adventure" im Internet - Literatur, das war früher. Jetzt ist "fun"generation" dran und die Zapping-Kultur". Begeistert von den technischen Verknüpfungsmöglichkeiten begreifen manche das Internet als Spielwiese. Einer von denen, die mit diesen Links virtuos spielen, ist der Psychologe und Literaturwissenschaftler Heiko Idensen.
In seinem Vortrag mit praktischer Vorführung seiner Projekte zeigte er im "Museum für Literatur am Oberrhein" aber vor allem die theoretischen Tiefen, die man im Netz selbst bei Hochschullehrern entdecken kann. Idensens theoretischer Ansatz für seine Internet-Projekte ist die Vernetzung sebst. Inhalt interessiert ihn nicht.

Seine "Imaginäre Bibliothek" (der Titel ist eine Anspielung auf den Dichter Jorge L. Borges) ist ein virtueller Raum, an dem sich alle beteiligen können. Gedacht ist an eine Verknüpfung von Stellen aus allen möglichen "Lieblingsbüchern". Das Ziel ist nicht Bildung, weder Wissensbildung, noch charakterliche, sondern "ein verzweigtes, assoziatives Lesen und Navigieren" - also in etwa das, was jeder gute Leser sowieso macht.

Auch seine Schreibwerkstätten sind theoretisch ganz auf die Verknüpfung als Selbstzweck ausgelegt. Sein "Hyperknast" stellt virtuelle Räume zur Verfügung, in denen man unter vagen Überschriften Texte reinstellen kann, die sich auch wiederum verzweigen und einen so genannten "text tree" (Textbaum) bilden. Idensen freut sich über die so entstandene "schöne vernetzte Struktur", die dabei entsteht. Der Veranstalter Torsten Liesegang sagte hingegen über dieses Projekt " da kann man sülzen ohne Ende".
Ein irgendiwe gearteter Inhalt war auch in der Diskussion bei Idensen nicht zu erkennen, es ist alles Struktur, Benuztzeroberfläche und freies Assoziieren. Seine Utopie ist "der freie Markt" und die Gründung neuer Diskurse. Aber warum man sich dabei ins Internet begeben muß und nicht stattdessen das Grimmsche Wörterbuch lesen kann, wird nicht ersichtlich. Für Idensen ist es eben "die Erotik der Verknüpfung". Da möchte man nicht weiter stören.
(grg; Tel: BNN 0721-7890; Fax: 789-270)


[1] Das Intro zur "Imaginären Bibliothek", die auf der Ars Electronica 1990 in Linz zusammen mit Matthias Krohn als eine interaktive Installation gezeigt wurde. Impulse für die Arbeit lieferten Autoren wie Jorge Luis Borges, Umberto Eco und Foucault mit ihren Ideen nach einer "offenen Bibliothek", in der Texte, losgelöst von Autor und Entstehungskontext, frei zirkulieren können und beliebig miteinander assoziierbar und vernetzbar sind. Die "imaginäre Bibliothek" vereinigt elektronische Texte, Bilder und Grafiken: "Lieblingsstellen und Szenen der >Weltliteratur< werden dem umherschweifenden Leser als Textadventure, Rollenspiel, Filmscript, Gebrauchsanweisung - kurz als Material für Sprachspiele und Spielzüge präsentiert mit den Ziel, daß Leser und Leserin - völlig übermüdet und verirrt im Labyrinth literarischer Verweise - zwischen den Zeilen anfangen, selbst etwas zu kombinieren, weiterzuschreiben, zusammenzusetzen." (Idensen/Krohn)
Im Rahmen des ARS ELECTRONICA war die "imaginäre Bibliothek" auf zwei Computern installiert, plaziert innerhalb eines Rundbaus inmitten von präsentierten Büchern und Buch-Objekten, wobei zwei Drucker im Hintergrund permanent die Lese-Touren der Benutzer ausdruckten. Diese Endlos-Ausdrucke wurden zu Buch-Rollen gewickelt, die auf diese Weise den Bestand der imaginären Bibliothek sichtlich durch die unentwegte Produktion der Leser vergrößern.
Erst 1995 entstand die im Netz zugängliche Hypertext-Version der "imaginären Bibliothek" Die Texte bilden dabei eine komplexe Matrix, durch die der Leser sich horizontal oder vertikal fortbewegen kann. "Das Ziel der Anwendung ist es, durch verzweigtes assoziatives Lesen und Navigieren den Benutzer in ein Netzwerk aus Texten zu verstricken und somit eine Beteiligung des Lesers an dem Imaginationraum Bibliothek zu simulieren. Die "Imaginäre Bibliothek" könnte auf spielerische, ironische Art und Weise in die neuen Kulturtechniken, die neuen Formen des Lesens und Schreibens im digitalen Umgebungen, einführen und dazu anstiften, literarische Modelle und Verfahrensweisen auf Hypertext-Produktion und Rezeption zu übertragen." (Diese Beschreibung ist zusammengestellt von Torsten Liesegang aus verschiedenen Konzepttexten von PooL-Processing)
Archiv PooL-Processing(1988-1994):
(Imaginäre Bibliothek, UserInnen Inputs, Fotos & Texte)