Schrift und Bild / Bild und Schrift
1963 faßten die umfangreiche Ausstellung "Schrift und Bild" (1) und schon vor ihr eine vergleichsweise ähnliche, allerdings weniger umfangreiche und thematisch begrenztere Ausstellung "Skripturale Malerei" (2) ebenso wie eine wohl in ihrer Folge zu verstehende Anzahl ähnlicher Ausstellungen geringeren Umfangs (3) eine Vielzahl Arbeiten zusammen, auf denen sich konventionelle Schriftzeichen, Zahlen, Buchstaben, Buchstabenensembles beobachten ließen, die innerhalb des Bildganzen als graphische Partikel funktionierten und/oder als lineares oder flächiges Buchstabenensemble, als Sprache identifiziert werden konnten. Mit anderen Worten: in diesen Ausstellungen wurden Arbeiten gezeigt, die man ansehen und lesen konnte. Schien hier also Schrift (4) in einem weiten Sinne zu einem neuen Bildinhalt geworden zu sein, zeigten andere, seit spätestens 1960 datierende Ausstellungen konkreter beziehungsweise visueller Poesie (5) bevorzugt Texte, in denen Sprache [...] auf sich selbst zurückverwiesen war. In der Isolierung des Begriffs unter den besonderen 'grammatikalischen' Bedingungen der Fläche (Bedeutungsmomente der Fläche wie oben, unten, Mitte, Zentrum, Rand) kommt es [...] zu einem Spannungsverhältnis zwischen graphischer und begrifflicher Dimension (6). Mit anderen und einfacheren Worten: seit etwa 1960 machten eine Vielzahl Ausstellungen konkreter/visueller Poesie (7) mit Arbeiten bekannt, die - gleichsam eine Poesie zum Ansehen - nicht mehr mit den traditionellen Lesegewohnheiten aufnehmbar, anstelle des traditionellen Lesevorgangs einen 'Betrachtungsvorgang' forderten. Beide Arten von Ausstellungen, die interessanter Weise eine Menge von Ausstellungsstücken gemeinsam hatten, signalisierten ein Phänomen, auf das, wenn ich es richtig sehe, Helmut Heißenbüttel 1963 als erster nachdrücklich hingewiesen hat: Die Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß sie, schubweise, Bereichen zudrängt, in denen jede Kunstart an die Grenze zur anderen gerät. Diese Grenzbereiche fördern Vermischungen und bringen neue Kunsttypen hervor. Konnte man bis zum ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts noch einigermaßen deutlich sagen, was ein Bild von einem Werk der Literatur, was ein Werk der Literatur von einem der Musik usw. unterscheidet, so traten danach Impulse in den künstlerischen Prozeß ein, die eine solche Unterscheidung, wenigstens zum Teil, unmöglich machen. Das trifft auch die Berührungspunkte zwischen Poesie und Graphik (8). Dieses Phänomen der "Vermischungen", der Mischformen, speziell zwischen Poesie und Graphik, zwischen Schrift und Bild, in seiner historischen Entwicklung zu beschreiben, soll im Folgenden versucht werden, um so mehr, als ich der Meinung bin, daß zunächst nur auf dem Wege einer Beschreibung jene Kriterien erarbeitet werden können, mit denen sich die unter einem solchen Thema zu subsumierenden Arbeiten richtig werten lassen. Die Beschränkung auf nur einen Aspekt dieses Phänomens - das deutet Heißenbüttels "Zur Geschichte des visuellen Gedichts im 20. Jahrhundert" an, das zeigen deutlich Weiermairs "Zur visuellen Poesie" auf der einen und etwa Paul Seylaz's "Die Schrift als Thema und Formelement im Bild" (9) auf der anderen Seite - birgt die Gefahr, aus der einseitigen Sicht des Literatur-oder des Kunstwissenschaftlers schon zu bewerten, was in der Zusammenschau und zunächst nur beschrieben werden sollte. Die Kubisten und Kurt Schwitters Um 1911 (10) begannen die Kubisten plötzlich, Buchstaben, Schriftrudimente, Zeitungsfetzen in ihre Bilder miteinzubeziehen, einzumalen oder einzukleben (11). Marice Rayal kommentierte eine frühe Phase dieser Praxis anläßlich der Ausstellung "La Section d'Or" (12), bezogen auf eine der ersten Collagen Juan Gris', "Le Lavabo", als Akzent und kompositorischen Reiz: Um anzudeuten, daß es in seiner Vorstellung von der reinen Malerei durchaus malerische Objekte gibt, zögerte er nicht, mehrere reale Dinge auf die Leinwand aufzukleben [...]. Wenn ich mir einen Flakon vorstelle, und ich will ihn so wiedergeben wie er ist, so erscheint mir sein Etikett als ein nebensächliches Beiwerk, das ich weglassen könnte, denn es ist nichts als ein Abbild. Wenn ich dennoch Wert darauf lege, es darzustellen, könnte ich es genau kopieren. Dies aber wäre eine unnötige Arbeit, denn ebensogut kann ich das wirkliche Etikett auf das Bild kleben, nachdem ich es - entsprechend der Form, die ich dem Flakon gegeben habe - zurechtgeschnitten habe. Das wird einen feinen, für das Ganze wichtigen Akzent bilden und seinen Reiz bestimmen (13). Entsprechend hatte Guillaume Apollinaire schon Mitte des Jahres 1912 betont, daß Pablo Pisasso es zuweilen für nicht unter seiner Würde gehalten habe, authentische Gegenstände: ein Zweigroschenlied, eine wirkliche Briefmarke, ein Stück Wachstuch mit der eingeprägten Rille eines Sessels der Helle anzuvertrauen. Und Apollinaire hatte verallgemeinert: Man kann mit allem Möglichen malen: mit Pfeifen, mit Briefmarken, mit Post- und Spielkarten, mit Kandelabern, mit Wachstuchfetzen, mit Bierschaum, mit buntem Papier, mit Zeitungen (14). Wie sehr die Aufnahme von Schrift ins Bild als 'Zitieren' von Realitätsfragmenten verstanden wurde, macht eine Bemerkung Apollinaires in einem Februar 1913 in Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm", anläßlich einer Ausstellung Robert Delaunays, gehaltenen Vortrag über "Die moderne Malerei" deutlich, mit der er darauf hinwies, daß Picasso und Georges Bracque Buchstaben von Schildern und andern Inschriften aufgenommen hätten, weil in der modernen Stadt die Inschrift, das Schild, die Reklame eine sehr wichtige künstlerische Rolle spielen und geeignet sind, in das Kunstwerk aufgenommen zu werden (15). Ähnlich betonte Tristan Tzara noch Jahre später: Une forme decoupee dans un journal et integree dans un desin ou un tableau incorpore le lieu commun, un morceau de realite quotidienne, courante, par rapport a une autre realite construite par l'esprit (16). Man wird diese Vorgänge nur dann richtig verstehen, wenn man sie im Zusammenhang der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Malerei beziehungsweise mit den Malweisen des 19. Jahrhunderts interpretiert. Und man wird die Aufnahme von Schrift ins Bild dann als einen Versuch unter anderen verstehen, anerzogene Kunst- und Bildvorstellungen, verbrauchte symbolische Bildinhalte nun nicht einfach nur zu deformieren, aufzulösen, vielmehr darüber hinaus zu neuen Bildinhalten und damit zu neuen Aussagen, auch formal (17), zu gelangen. Die in den kubistischen Bildern begegnende Schrift erscheint zunächst sprachlich gleichsam außer Funktion gesetzt, in den meisten Fällen der Funktion optisch wahrnehmbar gemachter Sprache entzogen, als formaler Bestandteil des Bildganzen. Als Schriftzeichen zwar immer noch erkenn- und in den meisten Fällen auch entzifferbar, sollte sie weniger gelesen, vielmehr als Teil des Bildganzen innerhalb dieses Bildganzen sehbar gemacht werden. Jedoch scheint hier die (kritische) Einschränkung zulässig, daß diese plötzlich ins Bild geratene, als Sprache entfunktionalisierten Schriftzeichen dennoch - wenn auch nur rudimentär - immer noch zitierend auf etwas Außerbildliches, nämlich die Sprache, anspielen. Jürgen Wissmann hat dies anhand einiger Beispiele überzeugend mit der Mehrdeutigkeit des Materials zu erklären versucht. Nicht umsonst seien die eingesetzten Buchstabengruppen und Worte zumeist als Fragmente gegeben, die zwar kubistische Formen verifizieren, aber der Ergänzung zur Vollständigkeit durch die Kombination des Betrachters bedürfen (18). Das Prinzip der Andeutung sieht Wissmann zum Doppelsinn erweitert, wenn Picasso 1911/12 in sein Bild "Frau mit Gitarre" und andere Arbeiten (19) MA JOLIE einschreibt. "Ma Jolie" ist einmal der Refrain eines um 1900 bekannten Chansons, aber die literarische Anspielung kann darüber hinaus als Widmung privater Intention verstanden werden (20). Diese Einschränkung, daß die bei den Kubisten ins Bild geratenden Schriftzeichen immer noch zitierend etwas Außerbildliches, nämlich die Sprache, anspielen, ich werde darauf im folgenden Kapitel ausführlicher eingehen, diese Einschränkung gilt, soweit ich es übersehe, für alle vergleichsweise ähnlichen Versuche der Folgezeit bis zur Gegenwart, in einer hier komplexen Tradition, die seit den 60er Jahren auch die Décollagen, die Affiches dechirées, die Plakatabrisse (20a) komplementär mit einschließt. In einer zweiten Entwicklungslinie führt die Erfindung der Kubisten zu den MERZbildern und -collagen Kurt Schwitters' und einer dadurch ausgelösten Tradition, die sich von den Arbeiten der Kubisten wesentlich darin unterscheiden, daß Schwitters die in seinen MERZbildern und Collagen erkennbare Schrift auch als solche vom Betrachter erkannt und gelesen wissen wollte, daß er also nicht mehr versuchte, sie als nur formales Bildelement zu 'vertuschen'. Wohl auch deshalb rekapitulierte er gerne dominierende Schriftelemente seiner Collagen als Bildtitel, so im Falle des "Undbild[s]" von 1919 (21) oder des "Kotsbild[s]" von 1920 (22). Schwitters hat 1921 in einem "MERZ" überschriebenen Aufsatz im Zusammenhang seiner Theorie vom "MERZgesamtkunstwerk" programmatisch auf diese ihm wesentlichen Zusammenhänge von Schrift und Bild, von Literatur und bildender Kunst hingewiesen: Der Grund [für die Beschäftigung mit den verschiedenen Kunstarten, R.D.] war nicht etwa der Trieb nach Erweiterung des Gebiets meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen [...]. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. (23). Futurismus 1 (Literatur) Ein entgegengesetzt interessante Beobachtung läßt sich - wenn ich hier zunächst die Schriftentwürfe des Jugendstils ausklammere und auf eine Erörterung der Achsenkomposition des "Phantasus" von Arno Holz und der Partitur des "Coup de Dés" Stéphane Mallarmés verzichten darf (24) - bei den literarischen Arbeiten der italienischen und russischen (25) Futuristen, bei den "Calligrammes" Guilleaume Apollinaires machen. Wie kurze Zeit später auch bei Apollinaire, dessen Beziehungen zum italienischen Futurismus schon durch sein Manifest "L'Antitradition futuriste" (26) oder das Ardengo Soffici gewidmete Gedicht "A l'Italie" (27) augenscheinlich sind, darf man für die italienischen Futuristen die Ablehnung einer traditionellen persönlichen Poesie (Lautréamont) (28) als auslösendes Moment annehmen, das Filippo Tommaso Marinetti auf seine Weise radikalisierte, wenn er proklamierte: Distruggere nella letteratura l'io, cioe tutta la psicologia (29). Diese Forderung betraf Inhalt und Form gleicherweise und führte zu dem Versuch, einen neuen Typ Poesie zu schaffen, dessen halb theoretische, halb poetische Begründung Marinetti im Mai 1912 in seinem vielgenannten, im Wortlaut jedoch kaum bekannten "Manifesto tecnico della letteratura futurista", dann im August desselben Jahres in einem "Supplemento al Manifesto tecnico della letteratura futurista" und schließlich im Mai 1913 in einem mehrteiligen Manifest "Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà" (30) gab. In diesen Manifesten forderte Marinetti, nachdem er sich 1905 zunächst in der Zeitschrift "Poesia" bei einer Frageaktion für den vers libre Gustave Kahns (31) als eines vom überlieferten Versmaß und Reimschema 'befreiten' Verses eingesetzt hatte (32), jetzt die Ersetzung des freien Verses durch die freien Worte: Dopo il verso libero, ecco finalmente le parole in libertà (33). Er verlangte die Zerstörung der Syntax: disponendo i sostantivi a caso, come nascono. Er forderte: si deve usare il verbo all' infinito; si deve abolire l'aggettivo; si deve abolire l'averbio; ogni sostantivo deve avere il suo doppio; abolire anche la punteggiatura. Statt einer traditionellen Zeichensetzung empfiehlt er - per accentuare certi movimenti e indisare le loro direzioni - den Gebrauch mathematischer (+ - x : = <) und musikalischer Zeichen. Weitere Forderungen waren schließlich: strette reti d'immagini o analogie, un maximum di disordine in der Verteilung der Bilder und die Einführung von Gewicht und Geruch der Objekte (rendere il peso [...] e l'odore (...) degli oggetti) als neue Elemente in die Literatur (34). Die "Riposta alle obiezioni" mündete in die berühmtberüchtigte Schlachtbeschreibung "Battaglia / peso + odore" (35), die zunächst als exemplarisches Beispiel für die "parole in libertà" stehen kann. Es ist bei diesen vergleichsweise ähnlichen Texten davon gesprochen worden, daß es sich im Grunde um einen auf Gedankenassoziationen beruhenden Telegrammstil handle, bei dem ein Satz wie 'Das Meer gleicht einer Tänzerin' durch ein einfaches 'Meer-Tänzerin' ersetzt wird. Der zweite Teil dieser Analogie löst dann seinerseits Gedankenassoziationen aus, die zu Reihungen, oder wie Marinetti es nannte, Bildnetzen führen, mit denen er ein dichterisches und zugleich wahres Bild des Lebens geben zu können glaubte (36). Die berühmte Schlachtbeschreibung Marinettis bedient sich zwar noch weitgehend der traditionellen und zeiligen Von-Links-nach-Rechts-Abfolge des Textes. Doch entspricht das Schriftbild bereits mit seinem Wechsel verschiedener Typen, unterschiedlicher Spatien, die bereits rein äußerlich einzelne Wörter oder Wortgruppen herausheben, der geforderten neuen 'Syntax'. Und das verlangt von dem Leser eine, gemessen an der ihm bekannten Poesie, ungewohnte Art des Lesens. Es mag angehen, daß es sich in der Folgezeit und bei Aufnahme dieser Methoden durch andere Futuristen gelegentlich auch um ein Amusement, eine fast kindliche Freude, mit den Worten wie mit den Steinen eines Baukastens zu spielen gehandelt hat; denn der weitere Schritt, nach den "parole in libertà" jetzt auch die Freiheit, mit den befreiten Worten spielen zu können, zu entdecken, liegt nahe. Doch haben diesen Schritt eigentlich erst die Dadaisten vollzogen, eine Konsequenz, die den den Manifesten ablesbaren futuristischen Intentionen eigentlich auch gar nicht so recht entsprochen hätte. Keinesfalls sollte man aber aus einem gelegentlichen, eigentlich untypischen Amusement und kindlicher Freude auf den literarischen Wert derartiger Texte schließen, ihnen gar den literarischen Wert absprechen, wie es in der Retrospektive ja auch unrichtig ist, daß die "befreiten Worte" in der italienischen Literatur eine isolierte Episode blieben (37), denn nach Carlo Belloli, der sich ausdrücklich als Schüler Marinettis versteht (38), greifen seit spätestens den sechziger Jahren zahlreiche junge italienische Künstler (39) auf die Tradition des italienischen Futurismus, die sie allerdings nicht als spezifisch nationale Tradition, sondern als Teil einer weitreichenden internationalen Entwicklung verstehen, zurück und versuchen, sie auf ihre Weise fortzuführen. Marinetti und Soffici sind nach der Proklamation der "parole in libertà" bald auch, indem sie den Text endgültig aus seiner traditionellen Von-Links-nach-Rechts-Abfolge herauslösten, den entscheidenden Schritt weitergegangen (40). Immer noch unter dem Schlagwort der "parole in libertà" verteilten sie jetzt Zeichen, Silben, Laute, einzelne Wörter, Wortgruppen und Wortfelder - zum Teil sprachlich deformiert - über die Seitenfläche. Dabei sollen die Stellung der Wörter auf der Fläche, die gewählten, verschiedenen Schriftgrade, wechselnde Schrifttypen, zusätzliche Zeichen und durch dies alles angedeutete Bewegungsrichtungen das Auge lenken und damit den Lese- beziehungsweise Betrachtungsvorgang steuern. Sogar Bildelemente konnten neben mathematischen und musikalischen Zeichen die Struktur der Wortfelder mitbestimmen. Hier scheint nun der literarische Text nicht nur aus einer traditionellen syntaktischen und sondersyntaktischen Bindung gelöst, sondern endgültig auch aus seiner traditionellen Erscheinungsform (Von-Links-nach-Rechts-Abfolge bzw. Linearität etc.) herausgerissen und zu gleichsam simultanen Lese- und Bildflächen neu konstelliert. Diese betont visuell ausgerichtete, diese zunächst nur visuell ansprechende und ansprechbare Form des Textes vollzog aber zugleich den radikalen Bruch mit den traditionellen Lesegewohnheiten. Konsequenzen dieser Art lassen fragen, ab eine solche Literatur nur mehr die visuelle Dimension der Sprache tangiert, die akustische hingegen völlig vernachlässigt. In der Tat ist in der Folgezeit eine immer konsequentere Tendenz zum reinen Schrift-Bild festzustellen, was etwa bei Autoren wie Gerhard Rühm und Ferdinand Kriwet zu einer strikten Scheidung zwischen akustischer und optischer Erscheinungsweise der Worte (41) bzw. zwischen Seh- und Hörtexten (42) führte. Gegenläufig ist nicht nur - wenn auch oft wenig erfolgreich - immer wieder versucht worden, Lese- und Bildflächen dieser Art akustisch zu realisieren, sondern Marinetti hat in der "Riposta alle obiezioni" ausdrücklich am Akustischen der futuristischen Literatur festgehalten: La distruzione del periodo tradizionale, l'abolizione dell'aggetivo, dell'avverbio e della punteggiatura determineranno necessariamente il fallimento della troppo famosa armonie dello stile, cisisce il poeta futurista porta finalmente utilizzare tutte le onomatopee, anche le pid cacofoniche, che riproducono gl'innulerevoli rumori della materia in movimento (43). Auch noch die Wortdeformationen begründete Marinetti eigentlich akustisch, wenn er in seinen Forderungen nach einer freien ausdrucksvollen Orthographie betonte: Außerdem muß unsere lyrische Trunkenheit die Wörter frei deformieren, umgestalten, sie abschneiden oder verlängern, die Wortmitte oder die -enden verstärken, die Zahl der Vokale und der Konsonanten vermehren oder vermindern. So werden wir zu einer neuen Rechtschreibung kommen, die ich frei und ausdrucksvoll nenne. Diese instinktmäßige Deformation der Wörter entspricht unserer natürlichen Tendenz zur Klangmalerei. Es tut nichts, wenn das entstellte Wort zweideutig wird. Es wird sich den klangmalerischen Akkorden oder Geräuschbündeln vermählen und uns gestatten, bald zum klangmalerischen psychischen Akkord zu gelangen, dem sonoren, aber abstrakten Ausdruck einer Emotion oder eines reinen Gedanken (44). Futurismus 2 (Bildende Kunst) Ob die Aufnahme von Schriftzeichen ins Bild zu den Einwirkungen des Kubismus auf die italienischen Futuristen zu zählen ist, ist mir nicht ganz deutlich und ist auch, soweit ich sehe, in der einschlägigen Literatur nicht einheitlich und eindeutig beantwortet. Bei Gino Severinis "Geroglifico dinamico del Bal-Tabarin" (45) von 1912, das man auch in der französischen Tradition, Kabarettszenen zu schildern, sehen kann, wird mit kubistischen Kunstgriffen, der Zerlegung der Figur(en), der Aufnahme von Buchstaben, beziehungsweise von Wörtern (Bowling, POLKA, Valse; sogar in verschiedener Schrift), des Collagierens gearbeitet, aber diese Kunstgriffe werden, wie Rosenblum hervorhebt, in futuristischer Manier angewandt, um die Kabarettszene mit einem fast journalistischen Gefühl für Zeiterscheinungen darzustellen (46). Wie sehr die Aufnahme von Schrift in Form plakatartiger Schlagwörter, ja ganzer Schlagzeilen und Zeitungsartikel über die Aufnahme und Betonung von Realitätsfragmenten im Bildganzen hinausgeht, dagegen einen direkten Zeitbezug herstellen soll und - entsprechend der futuristischen Kriegsbegeisterung - gleichsam eine politische Stellungsnahme in künstlerischer Form darstellte, zeigt am deutlichsten vielleicht Carlo Carràs Collage "Manifestazione interventista" von 1914 (47), eine praktisch direkte Aufforderung zur italienischen Intervention. Rosenblum spricht in seiner Interpretation mit Recht vom: Einsatz kubistischer Mittel für die ausgesprochen unkubistischen Ziele der Propaganda. Mit dem ganzen aggressiven Eifer eines Zeitungsjungen, der seine Schlagzeile über Kriegserlebnisse hinausschreit, bricht hier plötzlich eine explosive Ansammlung von Etiketten, Zeitungsabschnitten, Noten und Farben hervor. Weit von der hermetischen Welt der kubistischen Collage entfernt ist Carras Arbeit ein Wirbelwind von Lärm und Spektakel, dessen Beziehung der außerkünstlerischen Wirklichkeit ebenso lebhaft und unmittelbar ist wie die militärischen Ausrufe (EWIVAAA L'ESERCITO), die Fragmente von Gesundheitsinseraten oder der aufrüttelnde Laut von Sirenen, deren Geheul (HUHUHUHUHUH) sich quer über die Collage erhebt und nach außen hin in den gedruckten Echos (echi) nachhallt. Die hervorsprudelnde, mißtönende Erregtheit dieser Collage kommt in dem Titel [...] klar zum Ausdruck (50). Und für das auf den ersten Blick viel 'malerischere' "Carica dei lancieri" (51) Umberto Boccionis von 1915 hält Rosenblum fest: Während bei den kubistischen Stilleben von Braque, Gris und Picasso nur die aufmerksamsten Betrachter den Wortlaut der Zeitungsausschnitte wahrnehmen konnten (52), zerrt uns hier die Zeitung mit ihrer Schlagzeile 'Punti d'appoggio tedeschi presi dai francesi' [...] in die grausame wirkliche Welt (53) - obwohl sie, füge ich hinzu, in der rechten oberen Ecke, dort allerdings den Blick fangend, einen relativ geringen Raum einnimmt. Man kann also bei diesen Arbeiten sicher nicht mehr sagen, daß die ins Bildganze aufgenommene Schrift etwas Außerbildliches, die Sprache, nur anspielt. Vielmehr beinhaltet die ins Bildganze aufgenommene, oder - im Falle Carràs - zum Bildganzen collagierte Schrift bewußt etwas Außerbildliches, ja sogar (gemessen an der Tradition) Außerliterarisches: die Sprache der Politik, um nicht zu sagen Politik selbst. Diese Doppelgesichtigkeit des Phänomens Schrift und Bild spiegelt dabei als ein beispielhafter Fall eine grundsätzliche Doppelgesichtigkeit der ganzen Kunstrevolution, zu deren unauflösbaren Widersprüchen es ja auch gehört, daß mit fast denselben Mitteln, mit denen zum Beispiel die Futuristen den Krieg als Hygiene der Welt priesen, die Dadaisten kurze Zeit später im "Cabaret Voltaire" gegen den Wahnsinn des Krieges protestierten. Sicher führten die "parole in libertà" in wenigen Fällen auch dazu, mit den Worten wie mit den Steinen eines Baukastens zu spielen" (Baumgarth), aber der Weg von einem Text wie "Battaglia" zur collagierten "Manifestazione interventista" ist näherliegend und kürzer als der Weg etwa zu der "wolkenpumpe", der Zufallskunst Hans Arps (54). Apollinaire Die, gemessen an den Forderungen Marinettis, weniger radikalen "Calligrammes" Apollinaires entstanden in zeitlicher Nachbarschaft in den Jahren 1913 bis 1916, wurden jedoch erst posthum, 1918, veröffentlicht und erlebten in der Folgezeit sechs zum Teil bibliophile Ausgaben (55). Der Band enthält neben den "Poemes de la guerre", die sich in merkwürdiger Weise von den Kriegsgedichten der italienischen Futuristen unterscheiden, und wenigen interessanten sogenannten "poemes conversations" gut zwanzig "Calligrammes", die als lyrisme visuel (Apollinaire) wie eine Gegenbewegung zu der beschriebenen kubistischen Tendenz, konventionelle Schriftzeichen als Textfragmente, als vorgefundene vorgeformte Realitätsfragmente ins Bildganze zu integrieren, darstellen. Carola Giedion-Welcker spricht in einer Studie über "Die neue Realität bei Guillaime Apollinaire" (56) sogar von einer neuen Bildtypographie, von Grenzsprengungen ins Sichtbare des Wort-Bildes hinüber (57), während ich, etwas vorsichtiger formuliert, von ideogrammatischen Gedichten (58) sprechen möchte, in denen den semantischen Bezügen der Sprache außersprachliche, figurale Bezüge zugeordnet werden, zum Beispiel wenn - wobei ich mich hier bewußt auf zwei der problematischsten Gedichte beziehe - bei "COEUR COURONNE ET MIROIR" (59) der Text MON COEUR PAREIL À UNE FLAMME RENVERSÉE in Form eines Herzens, der Text LES ROIS QUI MEURENT TOUR A TOUR RENAISSENT AU CŒUR DES POÈTES in Form einer Krone, der Text DANS CE MIROIR JE SUIS ENCLOS VIVANT ET VRAI COMME ON IMAGINE LES ANGES ET NON COMME SONT LES REFLETS in Form eines Ovalspiegels, in den der Name des Dichters eingeschrieben ist, gesetzt sind; oder wenn bei dem in der Forschung häufiger bemühten und auch sonst oft zitierten "IL PLEUT" (60) die Zeilen, als unregelmäßige Diagonale abgesetzt sind, wobei die letzten Worte et en bas gleichsam in der Luft schweben und beim Leser-Betrachter die Vorstellung des strichweisen Regens halluzinieren. Man hat die "Calligrammes" Apollinaires innerhalb der traditionell gewohnten Druckformen als Merkwürdigkeit, als vergnügliche Spielerei der Phantasie (61) empfunden. Und man kann sicherlich für sie einen spielerischen, gelegentlich wohl auch andeutungsweise parodistischen Zug geltend machen (62). In jedem Fall stellen sie aber die symbolische Redeweise des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Texten der Symbolisten in Frage, selbst bzw. gerade in einem Text wie "IL PLEUT", wenn bei ihm ein traditionelles lyrisches Requisit wie der Regen typographisch wörtlich genommen wird und damit zugleich seinem emotionalen Bedeutungshof auf den ersten Blick weitgehend entzogen scheint. Vielleicht darf man sogar überspitzen, daß hier ein traditionelles lyrisches Requisit ins Typogramm veräußerlicht wird, in eine letzte Form, in der es noch einmal erscheinen kann. Gleichzeitig deutet sich damit aber auch ein literarisches Dilemma der Zeit an, daß nämlich der Dichter eine symbolische Redeweise, die er eigentlich nicht mehr handhaben kann und will, eben immer noch handhaben muß, sie deshalb gleichsam leerlaufen läßt, ohne eigentlich zu einer neuen literarischen Redeweise zu kommen, es sei denn, er fügt in anderen "Calligrammes" Schlagwortzitate wie Vive la Republique, Vive le Roy, Eviva il Papa u.a. ironisch zu einer Windrose ("LETTRE-OCEAN" (63)), oder er arrangiert banale alltägliche Sprache und Ikonographie quasi-tautologisch, wenn er den Text UN CIGARE allumé qui fume in Form einer brennenden Zigarre ("PAYSAGE" (64)), den Text LA CRAVATE DOULOUREUSE QUE TU PORTES ET QUI T'ORNE O CIVILISÉ OTE-LA SI TU VEUX BIEN RESPIRER in Form einer Krawatte ("LA CRAVATE ET LA MONTRE" (65)) anordnet. Es ist - abschließend - bemerkenswert, daß ein "Calligramme", das den Vorgang des Regnens typographisch darzustellen versucht, das sich also in erster Linie an den Betrachter und erst in zweiter Linie an den Leser wendet, ein ausgesprochen auditives Vokabular enthält: il pleut des voix de femmes comme si elles etaient mortes meme dans
le souvenier Denn das weist doch ohrenfällig auf die Tradition symbolischer Redeweise, auf das onomatopoetische (67), vielleicht sogar synästhetische Gedicht der Romantik zurück, eine Praxis, die im Kontext völlig anders funktioniert als jene natürliche Tendenz zur Klangmalerei, jene Formen der Lautmalerei, von denen Marinetti immer wieder sprach (68). Vielleicht darf man, die problematischen "Calligrammes" Apollinaires alles in allem genommen, sogar überspitzen, daß ausgerechnet ein Teil der Texte Apollinaires, auf die sich eine stark visuell ausgerichtete und konkrete Poesie immer wieder beruft, zugleich ein exemplarisches Beispiel für die merkwürdige Form-Inhalt-Schizophrenie spätsymbolischer Literatur darstellt. Reduktion auf das Alphabet Daß die typographischen Künste bei Apollinaire, bei den italienischen und russischen (66) Futuristen und in der Folgezeit bei den Dadaisten, bei Schwitters u.a. auch dazu verwendet wurden, zu mehr oder weniger bedeutsamen Effekten in der Textgestaltung zu gelangen, signalisiert eine weitere, für die Entwicklung der modernen Künste folgenreiche Entdeckung. Es läßt sich verallgemeinern, daß im 19. Jahrhundert die Buchstaben, die Lettern fast ausschließlich dazu verwendet wurden, Wörter und Wortfolgen, Sätze und Satzfolgen, also Texte wiederzugeben, daß die Typographie primär der Mitteilung beziehungsweise Verbreitung von Inhalten sprachlicher Natur diente. Die allererste Pflicht des Typographen, formulierte noch Anfang der Zwanziger Jahre T.J. Cobden-Sanderson, ist es, den Gedanken oder die Vorstellung ohne Verlust so zu übermitteln, wie es der Autor wollte. Vor allem darf die Typographie die Schönheit oder den Reiz des gedanklichen Inhalts, der durch die Buchstaben übermittelt werden soll, nicht durch eigene Schönheit oder eigenen Reiz verdrängen wollen. (70). Das unterschied den Typographen nur graduell vom Kalligraphen, dessen Aufgabe, die Schreibkunst, 1659 von Louis Barbedor wie folgt definiert wurde: SCRIPTURA Frei übersetzt etwa: Schreiben - weder eine mechanische noch eine freie Kunst, sondern die Wurzel von beidem. Nicht Wissenschaft, sondern der Weg der Wissenschaften, nicht Tugend sondern Verwalterin der Tugenden, zur Erhellung des Verstandes und der Ergetzung der Augen geboren. (70a). Grob gerechnet seit Ende des 19. Jahrhunderts, wobei ich als Stichdaten die Erscheinungsjahre von Stéphane Mallarmés "Un Coup de Dés" (71) und Arno Holz' "Phantasus" (72) nennen würde, ändert sich jedoch diese Auffassung von Kalligraphie und Typographie. Einmal, indem die Typographie jetzt spezifische Eigenheiten des Textes unterstützen soll (73), zum zweiten, indem die Typographie - etwa bei den Futuristen - bei geforderter Zerstörung der traditionellen Syntax die Rolle einer gleichsam typographischen Syntax zugewiesen bekommt, wobei die "Calligrammes" Apollinaires ihren Reiz ersichtlich auch aus einer gelegentlichen Diskrepanz zwischen traditioneller Syntax (nebst ihren Sonderformen) und einem diese nicht berücksichtigenden bzw. bewußt aufhebenden figuralen Zusammenschluß beziehen können. Zum dritten entdeckt man, - grob gerechnet seit Ende des 19. Jahrhunderts, - nun auch den äußerlich graphischen Reiz, den eigenen materialen Formwert der Letter, des Buchstabens (wieder), was sich unter anderem an den dekorativen Alphabeten des Jugendstils (74) zeigen läßt. Neben der Aufnahme von Schrift ins Bild auf der einen und auf der anderen Seite typographisch raffinierten und nicht nur im Falle des Jugendstils oft auch inadäquaten Realisationen von Texten läßt sich also drittens seit der Jahrhundertwende eine bewußte Reduktion auf das Alphabet, die Auffassung des Alphabets als eines materialen Ensembles vorgegebener graphischer (bzw. konstruierbarer graphischer) Formen, die Neubesinnung auf den formalen Eigenwert der Letter beobachten. Diese Entwicklung führte im Bereich der Literatur im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen mit dem nicht mehr nachvollziehbaren traditionellen Gedicht seit spätestens 1920 - zunächst sicher auch mit einem parodistischen Zug - zu einer Reihe von Alphabet-Gedichten, zum Beispiel bei Louis Aragon und Schwitters. 1920 publizierte Aragon unter der Überschrift "Suicide" (75) lediglich die Buchstaben von a bis z in ihrer alphabetischen Reihenfolge, wobei drei Zeilen à sechs, eine Zeile à fünf und eine letzte Zeile à vier Buchstaben nur noch rein äußerlich den Eindruck eines Gedichts vermitteln. 1922 veröffentlichte Schwitters gleich drei Alphabet-Gedichte (76), ein "Register /(elementar)" und zwei rückwärts angeordnete Alphabete, deren zweites, in dem die Buchstaben p und o eindeutig als Wort zusammengezogen sind, sinnvollerweise "Alphabet von hinten" heißt. Heißenbüttel hat in seinem Versuch, elementar-Gedichte dieser Art zu erklären, vermutet, daß sie Versuche darstellen, dem von den Futuristen und von Apollinaire entwickelten visuellen Gedicht neue, materialbezogenere Möglichkeiten abzugewinnen. Habe man dort noch die bildhafte, bildwerdende Anordnung von Sinnelementen des Textes, so arrangiere Schwitters, bei Ausschaltung des Inhalts, lediglich einzelne Buchstaben zu einer Lesefläche (77). Es wäre zu fragen, ob es sinnvoll ist, hier nur von einer Lesefläche zu sprechen. Dennoch scheint mir der Erklärungsversuch Heißenbüttels wichtig, mit der Einschränkung, daß Schwitters zumindest im "Alphabet von hinten" und im "Register / (elementar)", wo ja eindeutig der Name ARP gelesen werden kann, Wort- und damit Sprachanspielungen noch zuläßt (78). Diese wörtlichen Anspielungen finden mit dem von Schwitters auch theoretisch verteidigten (79) "i-Gedicht" (80) eine einsichtige Begründung. Der dem i der deutschen Schrift in Klammern untergeordnete Merkvers des Volksschülers - (lies: 'rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf.') - bezeichnet ausschließlich den Lese/Schreibvorgang, nur noch das Materiale des Schriftzeichens, des bloßen Schrift-Bildes. Das i-Gedicht - sagt es Heißenbüttel - solle dem Leser schockartig deutlich machen, daß Sinn und Bedeutung, die einem geschriebenen oder gedruckten Text beigelegt werden, im Grunde in einer teils konventionellen, teils subjektiven Assoziationstätigkeit bestehen, die mit der Materialität dieser Schriftzeichen nur fragwürdig verbunden sind (81). In dieselbe Richtung scheint im "Alphabet von hinten" auch der Zusammenzug der Buchstaben p und o zu weisen, der in unsinniger Anthropomorphierung dem "Alphabet von hinten" einen Po appliziert. Das "Gesetzte Bildgedicht" (82) [einschließlich seiner handschriftlichen Varianten] wäre dann der konsequent letzte Schritt. Denn in seinem Fall scheinen die verwendeten Großbuchstaben A, B, J, O, Z in keiner Kombination ein sinnvolles Wort zu ergeben, Bedeutung anzunehmen. In Zusammensetzungen und einzeln, in verschiedenen Schriften und verschiedener Schriftstärke über eine vorgegebene Fläche verteilt, ließe sich allenfalls noch darüber streiten, ob hier von den Buchstaben noch als von rudimentären Bestandteilen optisch wahrnehmbar gemachter Sprache oder von den Buchstaben als ausschließlich graphischen Bildelementen gesprochen werden kann. Im ersten Fall würde man das "Gesetzte Bildgedicht" immerhin noch in die Nähe der Tradition der "Calligrammes" Apollinaires, in die Nähe der "parole in libertà" der italienischen Futuristen rücken können. Im zweiten Fall wäre das "Gesetzte Bildgedicht" in seiner Reduktion auf das pure Typogramm eher in einer Nähe zu der beschriebenen kubistischen Tendenz, Schrift ins Bild aufzunehmen, zu sehen. Nimmt man Bild entsprechend der eingangs vorgeschlagenen Behelfsdefinition, hätte man es mit graphischer Organisation von (Buchstaben-)Formen in bzw. auf einer Fläche zu tun, also mit einem Bild. Das ergäbe jedoch Schwierigkeiten bei dem zweiten Wortbestandteil gedicht. Wichtig ist in jedem Fall das vorangestellte Adjektiv gesetztes, weil es die Machart und damit das Handwerk des Typographen gezielt herausstellt. Schließlich ließe der Titel noch als spielerische Fiktion, das Gesetzte Bildgedicht als unsinnige Demonstration lesen dahingehend, daß Schwitters das, was man im 19. Jahrhundert unter Bild und unter Gedicht verstanden hatte (83) - symbolische Redeweise, symbolischen Ikonographie - nicht mehr leisten konnte und wollte. Bezogen auf das literarische Bild, wobei ich nicht nur an Allegorie oder Symbol, sondern auch an das traditionelle "Bildgedicht" (Rilke) denke, würde das aus bedeutungsleerem Buchstabenmaterial gesetzte "Bildgedicht" gleichsam im Extrem an die Stelle des dichterischen Bildes aus bedeutungsträchtigen Wörtern treten. Gleichzeitig wäre das "Gesetzte Bildgedicht" die bisher konsequenteste Integration von Schrift und Bild. Weder Schrift noch Bild, hätte man es mit einer Mischform zu tun, in der sich Bild und Schrift in jeweils rudimentärem Zustand in der Typographie als einem tertium träfen. Daß mit Schwitters' "Gesetztem Bildgedicht" noch ein anderer exegetischer Umgang möglich ist, werde ich in einem späteren Kapitel erörtern. Poesie aus dem Setzkasten Läßt sich das Interesse Schwitters' an der Typographie, das zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Käte Steinitz und Theo von Doesburg bei der Textwiedergabe des Schwitterschen Märchens "Die Scheuche" (84) zauberhafte typographische Möglichkeiten des Kinderbuches entdeckte und dabei gewiß auch Konsequenzen aus Schwitters' Erfahrungen mit der Typographie zog, noch aus der Schwitterschen Konzeption des Gesamtkunstwerks, des Gesamtkünstlers erklären, so bildet sich spätestens mit der sogenannten "Poesie aus dem Setzkasten" des Holländers Hendrik Nikolaas Werkman Mitte/Ende der zwanziger Jahre eine zweckfreie, eigenständige Typographie heraus und mit ihr ein neues Selbstverständnis des Typographen als ihres Herstellers. Werkman habe, verkürzt Mahlow meines Erachtens die bedeutende Rolle dieses Druckers ein wenig zu sehr, früh den konstruktiven Wert der Buchstaben erkannt und ist bisher der einzige, der sein ganzes Werk aus Lettern und Satzmaterial aufbaut, mit dem er auch seine Bilder "stempelt" (85). Werkman kam dabei mit erstaunlich geringem materialen Aufwand aus, mit Holzlettern, mit Requisiten aus Satz- und Zeugkästen, verkürzt gesagt mit dem, was der Setzkasten ihm bot. Mit diesem Material druckte er Bilder, indem er die vorgeprägten, vorgefundenen Formen der Schrifttypen, das Buchstabenmaterial teils expressiv, teils konstruktiv, in vielen Fällen in einer Mischung beider Möglichkeiten, kombinierte. Die typographischen Bilder Werkmans können dabei gelegentlich durchaus eine sprachliche, sogar politische Anspielung enthalten, wenn etwa auf einem Blatt der Serie "The next call VII" von 1925 der Name Lenin zu lesen ist. (86). Da das druckgraphische Œuvre des noch kurz vor Kriegsende von den Nationalsozialisten ermordeten Hendrik Nikolaas Werkmann zu Unrecht kaum bekannt ist, füge ich hier in Parenthese ein, daß sein Werk nicht nur typographische Arbeiten im beschriebenen Sinne enthält, sondern Lithographien, Radierungen, Schablonen- und Walzendrucke, die sich nach der Besetzung Hollands durch die Nationalsozialisten auch als künstlerischer Widerstand verstehen lassen; unter ihnen zwei große Blattserien zu den "Chassidischen Legenden", in denen sich der Nichtjude Werkmann mit den verfolgten und vertrieben Juden identifizierte. Von Werkman schlägt sich schließlich leicht der Bogen zu einer auch als "zweckfreie Typographie" bezeichneten Arbeitsweise, deren wesentliche deutsche Vertreter Josua Reichert (87), Klaus Burkhardt (88) und am konsequentesten wohl Hansjörg Mayer (89) sein dürften. Mit anderen Worten: der Typograph - bis Ende des 19. Jahrhunderts in der Regel berufener und geschickter Hersteller anspruchsvoller Textwiedergaben, hat sich im Zusammenhang der beschriebenen Entwicklung spätestens in den zwanziger Jahren zum Künstler sui generis 'gemausert' - auf seine Weise vielleicht auch jenen spätmittelalterlichen Schreibmeistern vergleichbar, denen die Schrift vor den Inhalt ging. Grenzverwischungen Mit dem bisher Gesagten sind - so meine ich -, wenn auch zum Teil nur in Stichworten und an der Oberfläche, die entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen und Zusammenhänge des Phänomens Schrift und Bild in etwa skizziert. Neben der Aufnahme von Schrift ins Bild bei den Kubisten und Futuristen auf der einen, ließ sich auf der anderen Seite ein neuer visuell bestimmter Gedicht- beziehungsweise Texttyp feststellen, der weit über die typographischen Anordnungen Mallarmés und Holz', die lediglich spezifische Eigenheiten des Textes optisch unterstützen sollten, hinausgeht, der visuelle Momente, wenn auch gelegentlich in spielerischer Absicht, als zusätzliche Illustration dessen, was sprachlich gesagt werden soll, hinzu nimmt, wobei die visuellen Momente neue Möglichkeiten der ästhetischen Mitteilung andeuten. Was sich bei Apollinaire, bei den literarischen Arbeiten der italienischen Futuristen, bei den Dadaisten bis hin zu den sogenannten "Poèmes objets" des Surrealismus, deren erstes Andre Bréton mit 1929 datiert, abzeichnet, läßt sich zusammenfassen einmal als ein Hinzutreten des Visuellen (wie auch immer) als eines zusätzlichen Mittels innerhalb der optischen Organisation von Sprache und zum anderen mit Hilfe dieses betont Visuellen als Entwicklung einer neuen Auffassung, wie und in welcher Form Literatur sich darstellen kann. In beiden Fällen wurde der Literaturkosument, das Lesepublikum ebenso wie der Kunstkonsument vor den Bildern der Kubisten und Futuristen in seinen Erwartungen und anerzogenen Ansprüchen (formaler und inhaltlicher Natur) getäuscht und provoziert. Beide Tendenzen, die Hereinnahme von Schrift ins Bild und die Verbildlichung des Textes, die sich auch allgemein als eine Tendenz (90) beschreiben lassen, in einem Kunstbereich Vorstellungen und Materialien aus einem anderen Kunstbereich geltend zu machen, laufen im Anfang nebeneinander her, aber nicht - wie man vermuten könnte - in den verschiedenen Ismen, sondern - wenn man die Existenz einer kubistischen Literatur unterstellt, der Daniel-Henry Kahnweiler (91) und Max Bense (92) neben Max Jacob und Gertrude Stein auch Apollinaire zurechnen - innerhalb der einzelnen Ismen, also im Kubismus ebenso wie im Futurismus, auf deren Beziehungen zueinander ja mehrfach hingewiesen wurde. Beide Tendenzen drängen dabei, schubweise, Bereichen zu, in denen jede Kunstart an die Grenze zur anderen gerät (Heißenbüttel), ohne daß allerdings diese Grenze zunächst überschritten wird. Eine Grenzverwischung deutet sich meines Erachtens aber bereits bei Carràs "Manifestazione interventista" an, bei der man darüber streiten könnte, ob es sich um eine mit Schriftmaterial gearbeitete Collage oder um eine nach visuellen Überlegungen angeordnete Textmontage handelt. Daß sich Collage (im Bereich der bildenden Kunst) und Montage (im Bereich der Literatur) nicht nur als technisches Prinzip entsprechen (93), hat Ende der 60er Jahre ein Kolloquium "Prinzip Collage" sehr deutlich werden lassen. In dieser Entsprechung ist es kaum überraschend, daß es spätestens im Dadaismus, etwa bei Schwitters' "Gesetztem Bildgedicht", zu eindeutigen Grenzverwischungen, ja sogar Grenzüberschreitungen kommt, zumal die wesentliche Leistung des Dadaismus weniger in der Erfindung von Neuem, vielmehr in der Synthese, in der konsequenten Aufnahme, Weiterführung und Radikalisierung von Vorhandenem liegt (94). Daß diese Tendenz zu Grenzverwischungen auch für die Bereiche der Musik und Literatur, Musik und bildenden Kunst Gültigkeit hat, sei hier zunächst nur angedeutet. Im Falle Musik/ Literatur denke ich etwa an Arnold Schönberg, der in seinem Vorwort zu "Pierrot lunaire" (95) streng zwischen Gesang- und Sprechton unterscheidet, und damit innerhalb der Musik eine folgenreiche Entwicklung bis hin zu Stockhausen, Haubenstock- Ramati (etwa mit den "Credentials"), Mauricio Kagel, John Cage u.a. eingeleitet hat. Ich denke aber auch an die Collage in der Musik (96). Im literarischen Bereich wäre hier etwa an die Lautpoesie zu denken, an die Spielformen akustischer Kunst, der man ansatzweise bereits Ende des 19. Jahrhunderts begegnet und in deren Geschichte (97), bezeichnenderweise wiederum bei Schwitters, mit der "Ursonate" die Grenze zur Musik eindeutig überschritten wird. Schließlich wurde auch die Grenze zwischen bildender Kunst und Musik, zwischen Graphik und Partitur bei Komponisten wie Busoni, Cage, und Logothetis bereits überschritten und verwischt, wenn z.B. John Cage seinen Interpreten Tudor Partituren musikalisch interpretieren läßt, die bewußt so vieldeutig gehalten sind wie Graphiken, die nur noch akustische Abläufe und Klangcharakter andeuten (98). Es ließe sich verallgemeinern, daß die sogenannte Kunstrevolution (die ja auch eine Kulturrevolution war) das Terrain abgesteckt hat, innerhalb dessen seither experimentell das geschieht, was Wystan Hugh Auden einmal colonization nannte. Ein Aspekt, der sich für die Künste seit der sogenannten Kunstrevolution ergeben hat, ist offensichtlich ihre Tendenz, an die Grenzen der anderen Kunstarten vorzustoßen, so sehr, daß in extremis ein Bild von einem visuellen Text, ein akustischer Text von einem Werk der Musik, eine Partitur von einer Graphik und umgekehrt oft kaum mehr zu unterscheiden sind. Ja es haben sich sogar ausgesprochene Mischformen herausgebildet, denen Heißenbüttel den Charakter neuer Kunsttypen zusprechen möchte. Dabei sind die Kunstarten in ihrer Auseinandersetzung mit den traditionellen Kunstvorstellungen und Artikulationsmöglichkeiten, nachdem etwa die Literatur bereits die Gattungsgrenzen weitgehend verwischt und aufgehoben hatte, schließlich in ihren extremen Positionen so sehr in- und durcheinandergeraten, daß eine einschlägige Ausstellung 1966 in Philadelphia "The Arts in Fusion" überschrieben wurde. Es wird kunstsoziologisch zu fragen sein, ob diese Grenzverwischungen nicht auch verstanden werden können als Rückzugsgefechte vor einem tradierten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Vor-Verständnis und Vor-Urteil von Kunst im einzelnen und allgemeinen; eine Fragestellung, die unausgesprochen wohl auch hinter den etwas krausen Überlegungen Susan Sontags sich verbirgt, wenn sie nicht nur der akademischen Interpretation vorwirft, sie mache die Kunst zum Gebrauchsgegenstand, der sich in ein geistiges Schema von Kategorien einordnen lassen müsse, wenn sie generell für die gegenwärtige Kunstsituation festhält: Natürlich trägt die Interpretation nicht immer den Sieg davon. Als Motivation eines Großteils der Gegenwartskunst kann geradezu die Flucht vor der Interpretation genannt werden. Um der Interpretation aus dem Wege zu gehen, kann die Kunst zur Parodie werden. Aus dem gleichen Grunde kann sie abstrakt, ("bloß") dekorativ oder zur Nichtkunst werden. (99). Sicherlich auch auf der Flucht vor kategorisierender Interpretation und zugleich im Zerstören festgeschriebener Vorurteile hat die Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert, so hoffe ich deutlich gemacht zu haben, Schrift zum Beispiel als einen neuen Bildinhalt mit allen Konsequenzen entdeckt und zu nutzen verstanden, hat sie gerade in den Mischformen eine noch für die Kunstrevolution gültige Schizophrenie von Form und Inhalt aufgehoben, indem neue Inhalte neue Formen bedingten, indem zum Beispiel die Schrift als wesentlich neuer Bildinhalt neue Techniken verlangte, darunter, neben neuen Setz- und Drucktechniken, die Techniken der Collage, der Décollage und anderes mehr. Es entspricht dem Phänomen einer Mischform, daß sich in ihr Künstler verschiedenster Herkunft ebenso begegnen wie eine seit der Jahrhundertwende zunehmende Zahl sogenannter Doppelbegabungen, wie schließlich jener von Schwitters proklamierte Typ des Gesamtkünstlers. Daß sich dabei die verschiedensten Temperamente, Techniken und Konsequenzen relativ leicht unter einem Thema - zum Beispiel Schrift und Bild - subsumieren lassen, macht ferner deutlich, daß es sich hier weniger um kurzlebige Stilrichtungen oder Moden handelt als vielmehr um ein aktuelle künstlerisches Tendenz, ein grundsätzliches ästhetisches Problem der Gegenwart vor dem Hintergrund einer verworteten Welt auf der einen, einer zunehmenden Verbilderung (Verbildschirmung) auf der anderen Seite. Von hier ließe sich auch leicht der sogenannte Wirklichkeitsbezug herstellen. Es ist mehr als eine Binsenweisheit, daß jede Zeit ihre speziellen künstlerischen Themen und Probleme hat. Schrift und Bild scheint mir jedenfalls ein solches Thema zu sein. Anmerkungen |
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