Beyond pages
Von der visuellen zur digitalen Poesie in Japan


Friedrich W. Block

I. Digitale Poesie aus Japan?

„Die Geschichte der Poesie, die mit einer Gänsefeder anfing, soll mit einem Kugelschreiber aufhören. Ob Poesie zugrunde geht oder Gelegenheit zur neuen Entwicklung hat, das hängt davon ab, was für ein Ausdrucksmittel der gegenwärtige Dichter nach dem Kugelschreiber wählt“, so Katué Kitasono in seinem Manifest zur Plastischen Poesie im Jahre 1966.[1]

Im Jahre 2003 stellt sich die Frage nach der Erneuerung der Poesie durch die Wahl der Ausdrucksmittel bzw. der Medientechnologie ähnlich – wenn auch nicht in der von Kitasono beabsichtigten Polemik, aber doch verschärft angesichts der rasanten Medienentwicklung der letzten Jahrzehnte. Kitasono beabsichtigte, das Programm der sprachimmanent verfahrenden Konkreten Poesie, wie sie in Japan durch Seiichi Niikuni vertreten wurde, auf andere Medien – in seinem Fall: die Fotografie – zu erweitern. Ähnlich hat sich zu dieser Zeit auch in Europa die intermediale, visuelle oder konzeptuelle Poesie im Sinne von Higgins, Dencker oder Schmidt programmatisch auf Medienreflexion eingestellt hat.

Die Rede vom Ende der Poesie, die sich in den späten 60er Jahren auch in Europa erhob und mit der damals einsetzenden Postmoderne eine Pompe Funèbre nach der anderen feierte, hat heute an Schlagkraft verloren. Dennoch stellt sich für die Dichtung als Sprachkunst bzw. als Medium für die ästhetische Beobachtung kultureller, individueller und sozialer Semiose natürlich nach wie vor die Frage, wie sie sich erneuert oder erweitert und für ihr Publikum interessante Formen hervorbringt. So ist deutlich geworden, dass der poetische Umgang mit den verschiedenen Technologien dieser Semiose sowohl in den künstlerischen Formen als auch im poetologischen Diskurs seit den 80er Jahren eine wichtige, vielleicht sogar die wesentliche Schubkraft in der Entwicklung der Poesie darstellt.

Neben Videopoesie, (elektronischer) Laut- sowie Slam- oder Spoken Word Poesie hat sich in den letzten Jahren die digitale Poesie als neue Facette in der poetischen Evolution herausgeschält: Nach einzelnen und regional begrenzten Erscheinungen seit den späten 50ern, formiert sich spätestens seit 1992, mit größerer Öffentlichkeit seit 1996 ein selbstorganisierendes internationales Netzwerk der poetischen Beschäftigung mit den neuesten oder digitalen Medien.[2] Das zeigt schon der Versuch, neue Gattungsbegriffe wie „New Media Poetry“, „E-Poetry“ oder „digitale Poesie“ verbunden mit poetologischer Programmatik zu lancieren.[3] Es haben sich mittlerweile Plattformen im Internet und in Form von Ausstellungen, Festivals und Symposien herausgebildet.[4]

Ich wurde von den Herausgebern gebeten darzustellen, wie sich diese digitale Poesie in Japan niedergeschlagen hat. Das Interesse ist nahe liegend, denn da sich digitale Poesie unter anderem auf die Tradition experimenteller Schreibweisen, auch der visuellen bzw. intermedialen Poesie berufen kann, darf man erwarten, dass Japan als ein Land der Hochtechnologie einerseits und mit seiner Geschichte visueller als experimenteller Poesie andererseits zu den Vorreitern dieses neuen Genres gehört.

Auf den ersten Blick sieht der Befund allerdings ganz anderes aus: Abgesehen von gelegentlichen Hinweisen auf den jungen Cyberpunk-Erzähler Kenji Siratori, dessen Texte aber kaum in den Kontext visueller Poesie gestellt werden können, findet sich im erwähnten Netzwerk digitaler Poesie keinerlei Hinweis auf japanische Künstler oder auch Theoretiker! Eine nahe liegende Erklärung dafür ist, dass sich der Diskurs der digitalen Poesie zunächst auf der traditionell eingespielten Achse zwischen Europa und Amerika verständigt und noch nicht an den asiatischen Raum angeknüpft hat, also auf die bekannte westlich zentrierte Perspektive fixiert ist. Andererseits spielt Japan eine große Rolle in der Medienkunst, und gerade von hier sollte japanische digitale Sprachkunst, wenn es sie gibt, in das Netz der digitalen Poesie, an dem sich ja auch viele ‚bildende’ Künstler beteiligen, eingespeist worden sein. Aber auch Nachfragen in Japan selbst bringen kaum Ergebnisse. Vorbehaltlich des genannten blinden Flecks im europäischen Blick, lässt sich also mutmaßen, dass es in Japan noch nicht, auch nicht bei einzelnen Künstlern eine vergleichbare Genrebildung wie im genannten Netzwerk gibt.

Dieser Befund würde diesen Essay überflüssig machen, gäbe es nicht doch – auf den zweiten Blick – einige interessante Beispiele, die sich mühelos in den Diskurs digitaler Poesie einbetten und sich auf seine grundlegenden Positionen beziehen lassen.

Dennoch erscheint der Titel dieses Beitrags etwas kühn: „Von der visuellen zur digitalen Poesie“ – das könnte suggerieren, es gäbe so etwas wie einen linearen poetischen Fortschritt, in dem sich eins aus dem anderen herleitet und das Alte vom Neuen womöglich auch noch verbessert würde (quasi als „Redefinition der Moderne“ in einem geeigneteren Medium, wie z.B. J. David Bolter dies für hypermediale Texte postulierte[5]). Die historische Linie ist aber anders zu verstehen: als eine Interpretation gegenwärtiger ästhetischer Phänomene – digitale Poesie – vor dem Hintergrund einer bestimmten Tradition – visuelle oder auch kombinatorische Dichtung –, deren Errungenschaften im Rückblick vor allem programmatisch oder poetologisch das Aktuelle vorbereiten, also auch den viel besungenen Bruch oder Schock des Neuen durch die neuen Medien nicht mehr ganz so radikal erscheinen lassen.

II. Vom Rand der Seite in den elektronischen Raum: vier Beispiele

Methodisch nahm die Recherche ihren Weg tatsächlich über die Medienkunst. Deutlicher noch als in der visuellen werden in der digitalen Poesie die traditionellen Grenzen zwischen Kunstgattungen durchlässig. Allerdings weist der jeweilige Werdegang der Künstler doch noch auf gewisse systemische Unterschiede hin, die sich auf die Projekte auswirken. Jedenfalls mögen die künstlerische Ausbildung und die technischen Möglichkeiten an den Kunstakademien dazu beitragen, dass die interessantesten Arbeiten digitaler Poesie – zumindest der Tendenz nach – bislang nicht literarisch sozialisiert sind. Das gilt für viele Arbeiten im bestehenden Netzwerk digitaler Poesie und es gilt für alle Beispiele aus Japan, die mir bekannt sind. Darüber hinaus sagen die Beispiele – mit einer Ausnahme – nicht aus, dass die Künstler sich auch sonst in ihrem Werk hauptsächlich mit Sprache (im engeren, verbalen Sinne) beschäftigen. Auch das ist für den Diskurs der digitalen Poesie nicht ungewöhnlich, werden hier doch auch häufig Prototypen oder Einzelprojekte gehandelt, ohne dass die Figur des Künstlers im Vordergrund steht.

Masaki Fujihata: „Beyond Pages“

Beginnen wir mit einer Arbeit, die bereits im Titel dieses Beitrag zitiert wurde: „Beyond Pages“, eine interaktive Installation vom Masaki Fujihata aus dem Jahr 1995. Diese Arbeit ist international, aber auch in Deutschland bestens bekannt, nicht zuletzt, weil sie im Medienkunstmuseum des ZKM in Karlsruhe dauerhaft ausgestellt ist.

„Beyond Pages“ wirft schon im Titel eine Leitunterscheidung auf, die für den Diskurs zur digitalen Poesie bislang bestimmend gewesen ist: die Unterscheidung zwischen den Medienkulturen von Computer und Buchdruck, analog von Buchseite oder Blatt und Bildschirm oder einfach kurz: print vs. digital. Digitale Poetik zeichnet sich also dadurch aus, dass sie sich deutlich von gedruckten und für die Papierfläche konzipierten Texten abgrenzt. Als Unterscheidungskriterien werden immer wieder genannt:

  • die Verknüpfung von Fragmenten und Dateien gleichen oder auch unterschiedlichen Medientyps, daraus abgeleitet die
  • Multi- oder gar Nonlinearität sowohl der Textstruktur als auch der individueller Lektüre und
  • die Multimedialität und Animation von Texten im weitesten Sinne,
  • die so genannte Interaktivität als Möglichkeit für den Nutzer, in den Bildschirm- oder Datenbanktext einzugreifen oder als Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren im Computernetzwerk,
  • daraus abgeleitet die Verschiebung oder gar Entdifferenzierung angestammter Handlungsrollen wie Autor, Leser, Herausgeber.

„Beyond Pages“ entspricht diesem Programm und geht noch darüber hinaus, indem es in der Installation einen ‚virtuellen’ von einem ‚realen’ Raum unterscheidet:

Genau genommen ist die Installation ein Environment, ein abgedunkelter Raum mit einem Tisch, einem Stuhl und einer Lampe. Auf dem Tisch liegt ein Stift. Sodann gibt es zwei rechnergesteuerte Projektionen; die eine wirft die Abbildung eines Buches auf den Tisch vor den auf dem Stuhl sitzenden Betrachter, die andere einen Film auf die Wand vor dem Betrachter, abhängig von dessen Aktion. Der Stift ist ein drahtloses elektronisches Gerät zur Eingabe von Information über ein Digitizer Tablet, das in den Tisch eingelassen ist und genau unter der Projektion liegt. Die Eingaben mit diesem Interface erscheinen nun dem Benutzer als ‚Blättern’ und ‚Lesen’ in dem Buch, wobei dieses ‚Lesen’ zugleich den im Buch dargestellten Inhalt verändert, wie auch unter bestimmten Umständen die Situation im Raum: Das Licht der Tischlampe oder die Filmprojektion werden dadurch gesteuert. Neben dem ‚Umblättern’, das von entsprechenden simulierten Geräuschen begleitet ist, erscheinen auf den ‚Seiten’ sich verändernde Inhalte: beispielsweise auf der rechten Seite der Begriff „Apfel“ auf Englisch mit lateinischen Buchstaben und auf Japanisch in Kanji-Zeichen, auf der linken die Abbildung eines Apfels, der mit fortschreitender ‚Lektüre’ sichtbar und hörbar an- und aufgegessen erscheint. Ähnlich können mit dem lesenden Schreibstift schleifende Steine oder raschelnde Blätter über das virtuelle Papier bewegt oder über die Abbildungen eines Lichtschalters die Tischlampe an- und ausgeschaltet, eines Türgriffs der Ablauf eines kleinen Films an der gegenüberliegenden Wand ausgelöst werden, der zeigt bzw. simuliert, wie sich eine Tür öffnet und ein kleines Mädchen erscheint.

Der Titel der Arbeit leuchtet unmittelbar ein: Inszeniert werden nicht nur das Buch und seine Kultur, sondern auch das, was über deren Möglichkeiten hinausgeht:[6] Die abgebildeten Schriftzeichen und Bilder ‚im Buch’ sind animiert und interaktiv, d.h. der Benutzer kann in die Gestalt des Textes eingreifen. Sie sind überdies intern verknüpft mit einem Film oder einer Lichtquelle, die sich über den Text bzw. diese Signifikanten des Buches steuern lassen. Natürlich geht über das Buch hinaus, dass es selbst nur das Bild oder der Film eines Buches ist, das aber weitaus mehr als nur betrachtet, sondern doch auch gelesen und quasi als Steuerinstrument benutzt werden kann.

Vorgeführt wird auf der medialen Ebene die Differenz zwischen Buch und Bildschirm und obendrein zwischen Buch und Eingabemedium. Überhaupt werden eine ganze Reihe von Unterscheidungen beobachtbar, indem das Unterschiedene sozusagen kurzgeschlossen oder paradoxiert wird, zum Beispiel:

• Zeichen und Objekt bzw. Signifikant und Signifikat: Die Abbildungen im Buch sind einerseits Abbildungen von Abbildungen, andererseits erscheinen sie aber auch wie Objekte, die durch die Aktivität des Betrachters veränderbar sind, in Korrespondenz zu Objekten ‚außerhalb’ des Buches bzw. wie das Buch als Objekt selbst.

• Lesen und Schreiben: Der Stift, der von der Buchkultur als Schreibgerät und im Gutenbergzeitalter für Schriftstücke neben oder vor dem Buch, allenfalls für Anmerkungen oder Notizen während der Lektüre im Buch bekannt ist, wird zur Lesehilfe, die nötig ist, um den vorhandenen Text und seine Zeichen vollständig ‚lesen’ zu können. Der Stift ist dennoch gleichzeitig Schreibwerkzeug zur elektronischen Informationsverarbeitung.

• Virtueller (simulierter) und realer Raum – und zwar sowohl als geometrisches als auch als semiotisches Gefüge: Die Aktionen im virtuellen Raum (des dargestellten Buches) sind mit denen des realen Raumes des Environments koordiniert, werfen dadurch die Frage nach Realitätskonzepts auf. Das betrifft auch den Benutzer, dessen geistige und körperliche Aktivität in beiden Räumen zugleich Konsequenzen hat. Diese Qualität teilt Fujihatas Arbeit mit anderen digitalen Sprachkunstarbeiten, die den Körper des Benutzers gekoppelt an die elektronische Apparatur mit konzipieren, wie stärker noch in Camille Utterbacks „Textrain“, Simon Biggs’ „Holo“, Frank Fietzeks „Bodybuilding“ oder Jeffrey Shaws „Legible City“.

Diesen Arbeiten ist gemein, dass ihre ästhetischen Facetten deutlich auf den Benutzer selbst im Umgang mit Information und Informationstechnik, auf sein individuelles Allgemeines, das sich mit den genannten, kulturell bedingten und an Erwartungen und Handlungsweisen geknüpften Unterscheidungen verbindet. Das Besondere an dergleichen interaktiven Arbeiten ist, und dies weist tatsächlich über Buchkultur, auch über visuelle Poesie hinaus, dass der Rezipient (Leser, Betrachter) nicht mehr nur kognitiv konzipiert wird und seine auch in der Poetik der visuellen Poesie viel berufene Aktivität nicht nur mehr oder weniger produktionsästhetisches Postulat oder Ideal bleibt. Vielmehr wird er empirischer, auch körperlich verwirklichter Bestandteil des Kunstwerks in Bewegung, in rekursiver Interaktivität mit den maschinellen Symbolprozessen, beobachtend und beobachtbar (durch andere wie auf einer Bühne) zugleich.[7]

Mission Invisible

Was zu „Beyond Pages“ gesagt wurde, kann auch auf das zweite Beispiel bezogen werden, das drei Jahre früher, also 1992 entstanden ist und noch näher an Unterscheidungen heranführt, die auch in der visuellen Poesie bearbeitet worden sind: eine Installation, die von dem Duo „Mission Invisible“, das sind Chie Matsui und Tomoaki Ishihara, als „Artlab2“-Ausstellung für das Canon Artlab in Tokyo produziert wurde. Während „Beyond Pages“ mehr auf die Inszenierung verschiedener Datenräume abgestellt ist, auf die sich das Individuum des Benutzers simultan verteilen muss, konzentriert sich die Arbeit von „Mission Invisible“ auf Wahrnehmungsbedingungen zwischen Lesen und Betrachten unter Verwendung elektronischer ‚Prothesen’:

In der Mitte des Ausstellungsraumes stehen einander zwei große Textbilder gegenüber (jeweils 2,85m x 4,84m). Die Tafeln sind jeweils mit drei in einander geschriebenen Textschichten oder besser: Gittertexten unterschiedlicher Größe beschriftet, auf beiden Flächen horizontal in Englisch mit lateinischen Lettern, vertikal auf Japanisch mit Kanji-Zeichen. Das größte Textgitter (320p und entsprechend große Kanji-Zeichen) gibt auf beiden Tafeln jeweils ein Wahrnehmungsverfahren zu einem nicht näher bezeichneten Gemälde an, wobei das eine über eine horizontale, das gegenüber stehende über eine vertikale Perspektive orientiert: Der eine Text beginnt mit: „To see this painting you must walk“, der andere mit „... you must stop and look straight up“. Die nächsten Gittertexte, jeweils 1/8 kleiner (also in 40p) sind aus Fragmenten zur Theorie der beiden Wahrnehmungsweisen gebaut, die letzte Schicht (wiederum um 1/8 verkleinert, also in 5p und daher für das ‚bloße’ Auge nicht zu entziffern) verzeichnet Definitionen und historische Gebrauchsweisen zu verwendeten Begriffen. Vor den Tafeln läuft auf Schienen jeweils eine Kamera, die die gesamte Fläche abfährt und aufnimmt, und deren Linse das Bild ein- und auszoomen kann, gesteuert von einem Rechner. Die Rechnereinheit sieht jeweils einen Arbeitsplatz mit Monitor vor – man sitzt mit dem Rücken zu den Tafeln. Von hier aus können per Trackball die Kamerafahrt und der Zoom gesteuert werden. Der Zoom ermöglicht analog eine zehnfache Vergrößerung, digital, also ausschließlich durch elektronische Umrechnung des digitalisierten Kamerabildes zusätzlich eine achtfache Vergrößerung. Auf dem Monitor und darüber noch einmal auf einer Projektion, etwa in der Größe der Tafeln, kann das umgesetzte Bild betrachtet und gelesen werden.

Soweit in aller Kürze eine rein sachliche Beschreibung des recht komplexen Aufbaus der Installation, die eine differenziertere Beschäftigung lohnen würde. Doch hier müssen einige Überlegungen zum speziellen Verhältnis von Text und Bild bzw. Lesen und Betrachten ausreichen. Als Betrachter kann man zwischen den Texttafeln hindurch gehen, oder stehen bleiben, um sie von links nach rechts oder von oben nach unten, also entsprechend der beiden in den Texten benutzten Zeichensysteme und der beschriebenen und erörterten Perspektiven, zu betrachten und zu lesen. Die Unterscheidung zwischen Horizontale und Vertikale, basales Konzept physisch oder metaphorisch räumlicher Orientierung, bezieht sich hier nicht nur auf die Tradition des Tafelbildes (auch der religiösen Bildererzählung), sondern auch auf die Unterscheidung zwischen Bild (traditionell in der Vertikale) und Buchtext (in der Horizentale).

Sowohl das Konzept, Texte über Bilder als Bilder zu präsentieren oder auch die Überführung von Lesbarem in Unlesbares (aber doch Sichtbares) und umgekehrt, mithin das Umschalten zwischen Lesen und Betrachten durch intermediale bzw. „konzeptuelle Fusion“ der verschiedenen Medien[8] – das sind bekannte Verfahren der visuellen Poesie. Erweitert werden sie aber durch den Einbau digitaler Prozesse der Bildverarbeitung und -darstellung. Die Differenz zwischen analog und digital oder entsprechend: zwischen Drucktext (auch die Textbilder sind gedruckt) bzw. Leinwandbild einerseits und Bildschirmtext und -bild andererseits – diese Differenz ist auch für das Konzept von „Mission Invisible“ grundlegend. Der unmittelbaren Wahrnehmung des Betrachters wird eine zweite, technologische zur Seite gestellt bzw. werden zwei Kulturtechniken in Spannung versetzt. Denn erst mit Hilfe des Kamerazooms können bestimmte Teile der Textbilder, die zuvor nur sichtbar waren, nun auch gelesen werden (die 5p-Schrift).

Das System unterscheidet dann noch einmal zwischen digital und analog, sobald auf Digitalzoom umgeschaltet wird, also über das analoge Leistungsvermögen der Kameralinse hinaus rein rechnerintern erzeugte Informationen über die Textbilder wahrnehmbar werden. Das ermöglicht Rückschlüsse z.B. auf die Art und Weise des Drucks der Tafeln, etwa dass dieser durch einen Plotter erfolgte, mit dem gepixelte, also letztlich wiederum digitale Bilder auf der Leinwand aufgebracht wurden.

Die Resultate der Kamerafahrten und der Zooms sind nur auf den Monitoren – also als bereits digitalisierte Bilder – und auf den Projektionen zu sehen. Diese Projektionen setzen wiederum den Benutzer und seine Aktionen selbst noch einmal für das weitere Publikum in Szene, das ihn samt Projektion beobachten kann.

Auch diese Arbeit also bietet an, modellhaft Erfahrungen damit zu machen, wie Dana Friis Hansen richtig bemerkt, „how individuals frame the overwhelming information landscape in which we live“.[9] – Und es wird zudem sowohl anhand von „Beyond Pages“ als auch von „Mission Invisible“ deutlich, wie in Installationen digitaler Poesie das kognitive Framing mit sprachlichen Raummetaphern (z.B. „information landscape“) anschaulich und buchstäblich wieder in Wahrnehmbares übersetzt wird.

Kenji Komoto: „Life“

Der junge Künstler Kenji Komoto (Jahrgang 1975), bereits mit einer Anerkennung der Ars Electronica geehrt, ist der einzige in der hier vorgestellten Reihe, dessen Projekte kontinuierlich mit verbaler bzw. buchstäblicher Sprache arbeiten. Insofern ist er auch ad personam der digitalen Poesie zuzurechen, und es wird sich zeigen, wie weit er hier als Knoten im Netzwerk wirken wird. Anders als die beiden ersten Beispiele sind seine Arbeiten für eine reine Bildschirmrezeption, also nicht als raumgreifende Installationen konzipiert. Komotos Interesse liegt vor allem darin, bestimmte begriffliche Konzepte in der Spannung zwischen Schrift, Artikulation und der spezifischen Bildschirmsymbolik zu entfalten. Das interaktive Moment ist dabei im Vergleich zu den bisher besprochenen Arbeiten ausgesprochen reduziert, aber auch – wie sich zeigen wird – pointiert, betont also vor allem wie in der ‚klassischen’ visuellen Poesie den konzeptuellen Aspekt. Das gilt z.B. für den kleinen Text „Life“ aus dem Jahr 2002, der im HTML-Format geschrieben ist:[10]

Der Mausklick auf den Titel öffnet ein Fenster, das von einem einfachen Javaskript gesteuert wird: Das Programm lässt einen langsamen automatischen Scrollprozess in der Horizontalen des Fensters ablaufen. Die Fenstermaße sind genau definiert, wobei die Vertikale mit 32700 Pixeln extrem lang ausfällt, was den Bildschirm quasi „sprengt“ bzw. nur so dargestellt werden kann, dass am unteren Fensterrand ein Scrollbalken erscheint, über den man den Inhalt des Fensters nach rechts oder links schieben kann. Am linken Rand des Fensters und somit am Beginn des automatischen Scrollprozesses ist in Englisch das Wort „born“ geschrieben, am Ende bzw. am rechten Rand das japanische Kanji-Zeichen für „Tod“. Die längste Zeit des automatischen Scrollens, das immerhin knapp 20 min dauert, sieht man freilich nichts. Natürlich kann man – das ist die einzige ‚interaktive’ Option – in diesen Prozess eingreifen, indem man selbst nach vorn (oder auch zurück) scrollt.

Genau das ist aber die Pointe dieser Arbeit: Das Nutzerverhalten im Internet verzeichnet, wie empirische Studien zeigen, in der Regel eine Verweildauer von wenigen Sekunden pro Webseite. Das ist sicherlich auch hier der Fall, noch dazu, da die Seite zwar in ihrer raumzeitlichen Ausdehnung groß, ansonsten aber denkbar klein ist, da sie nur zwei Worte mit viel leerem Raum dazwischen aufweist. Zu erwarten ist, dass man  schnell eingreifen wird, um das Ganze, also das Ende bzw. das Wort „Tod“ zu erfassen.

Während also die Konstruktion des Textes zunächst nur mimetisch den mehr oder weniger langsamen, wie automatisch gesteuerten Ablauf eines (anderen, meines) Lebens als weitgehend unbeschriebenes Blatt darstellt, spielt das Kalkül mit dem Benutzer (mir) damit, in diese Automatik einzugreifen und den Prozess zielgerichtet rasch an sein Ende (das Wort „Tod“, den Tod) zu bringen. Man könnte noch über weitere Unterscheidungen spekulieren, etwa warum der Beginn auf Englisch, das Ende auf Japanisch verfasst ist. Hier soll aber diese inszenierte Differenz zwischen Maschinenzeit, dargestellter Zeit und Zeitmanagement des Nutzers – die übrigens einen guten Teil digitaler Poesie, besonders in Frankreich bereits schon seit den frühen 80er Jahren beschäftigt – auf zweierlei hinweisen:

Zum einen zeigt sich an diesem Beispiel noch einmal das Bestreben, einen Text zu entwerfen, der – wie Komoto selbst kommentiert[11] – auf dem Papier nicht zu realisieren ist. Zum anderen, und das führt zu einer weiteren und ‚jüngeren’ Leitunterscheidung digitaler Poesie, wird das Zusammenspiel des wahrnehmbaren Bildschirmtexts (hier: das ‚Fenster’ und die darin verzeichneten Worte) mit dem ‚dahinter’ liegenden Programmcode und Quelltext (geschrieben in HTML und Javascript) deutlich. Der Code erscheint hier nicht selbst auf dem Bildschirm, ist für das Konzept aber wichtig. Das gilt im Grunde auch für „Beyond Pages“, wo die Koordination der verschiedenen Medienformate und Datenräume und natürlich auch die Aktivität des Nutzers abhängig von der Programmierung ist. Es gilt ähnlich für die Installation von „Mission Invisible“, deren Invisibilität insbesondere auch auf die digitalen Symbolprozesse ‚hinter’ den wahrnehmbaren Projektionen zu beziehen ist.

Mit der Unterscheidung von code vs. screen, also zwischen wahrnehmbarem Bildschirmereignis und dem diesem Ereignis zugrunde liegenden oder mit ihm abhängig verbundenen Quellcodes und elektronischen Symbolprozessen, entfernt man sich von einer abgrenzenden Orientierung an der Gutenberggalaxis. Man operiert quasi ausschließlich im digitalen oder elektronischen Raum. ‚Codework’, wie sich das vielleicht radikalste Konzept der Poesie mit und als Programmierung nennt,[12] tendiert in einer fast ‚konkretistischen’ Weise dazu, selbst die Bildschirmrepräsentationen ästhetisch abzublenden. Das letzte Beispiel dagegen inszeniert genau die genannte Unterscheidung zwischen Bildschirm- und Quelltext:

Exonemo: „Discoder“

Der „Discoder“ des Duos Exonemo (Kensuke Sembo und Yae Akaiva), 1999 entstanden, ist ein Metabrowser, mit dem sich beliebige Websites aus dem Internet auf den Server von Exonemo laden und von dort auch navigieren lassen.[13] Man hat nun aber die Möglichkeit, per Tastatur in den HTML-Code des jeweiligen Bildschirmtextes einzugreifen, d.h. Zeichen in den Quelltext einzuschießen und diesen damit zusehens in seiner Funktion zu stören. Die Folge dieser Aktion des Benutzers ist, dass der Bildschirmtext dekomponiert wird, alsbald auch Teile des zuvor nicht sichtbaren Quelltextes, z.B. Steuerzeichen, auf dem Bildschirm erscheinen. Zusätzlich lässt sich – wie bei anderen Browsern auch – zum Quelltext schalten, in dem nun die jeweiligen Veränderungen hervorgehoben sind. In einer „öffentlichen“ Version des Discoder bleiben die Einschreibungen und Transformationen durch das Publikum gespeichert und können von diesem kollektiv weitergetrieben werden.

Die Arbeit verdichtet nicht nur die technologisch ermöglichte Annäherung von Lese-, Schreib- und Distributionsprozessen, sie macht insbesondere auch die maschinelle Architektur und wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Symbolschichten im digitalen Medium deutlich. Darüber hinaus lässt sie das eigentümliche Verhältnis von Text und Bild (sowie weiterer Medienformate) reflektieren: Jedes Bild des Computerbildschirmes und mithin jedes Betrachten hat hier eine sprachliche Basis, das Bild ‚ist’ Sprache, da die Quellcodes für Grafik oder auch Ton oder Film generell alphanumerisch organisiert sind – bis zur basalen Symbolisierung des Fließens oder Nichtfließens von Strom durch 1 und 0. Das macht die besondere Ästhetik der Inter- als Hypermedialität aus. Und ein Weiteres, das der „Discoder“ mit vielen Arbeiten digitaler Poesie und der Medienkunst teilt, ist das prekäre Verhältnis von elektronischen Symbolprozessen und ihrer mehr oder weniger begrenzten Erreichbarkeit und Steuerbarkeit durch den Benutzer.

III. Resümee

„Von der visuellen zur digitalen Poesie“: In ihrem Buch zur „Literatur im elektronischen Raum“ stellt Christiane Heibach zurecht noch einmal fest, dass Schlüsselkonzepte der (Selbst-) Beschreibung digitaler Medienkunst und -poesie wie „Interaktivität“, „Intermedialität“, „Prozessualität“ auf ästhetische Konzepte der 60er Jahre zurückgehen. Und sie vermutet ebenfalls zurecht „dass die Begrifflichkeiten im Laufe der Zeit einen Wandel durchgemacht haben, der an die jeweils verwendeten Medien geknüpft ist“.[14]

So lässt sich auch an den hier vorgestellten Beispielen darstellen, dass Konzepte digitaler Poesie und Medienkunst in einer gewissen programmatischen Kontinuität stehen, d.h. Interessen z.B. der visuellen als experimenteller Poesie und ihr verwandter Bestrebungen, aufgreifen und weiterentwickeln. Bewegung als Animation und Prozessualität, Intermedialität als Diabolisierung von Signifikant und Signifikat, Text und Bild, Lesbarem und Unlesbarem, Lesen und Betrachten, Interaktivität als Partizipation des Publikums und als Initial der Realisierung des Kunstwerkes in Bewegung bzw. als Prozess – all dies lässt Ansätze der experimentellen Kunst spätestens seit den 50er Jahren durchscheinen. Auch die sprachimmanente, konkretistische Position, wie Niikuni sie vertrat, wie sie aber nicht nur von der konkreten, sondern besonders auch von der kombinatorischen und algorithmischen Poesie etwa von Oulipo ausformuliert wurde, gewinnt mit dem gegenwärtigen Interesse an Codeästhetik (auch Thema der Ars Elektronica 2003) im Rückblick an Aktualität.

Natürlich haben sich diese Konzepte poetologisch drastisch verändert, ausdifferenziert und in der Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Weisen der Welterzeugung, den „Ausdrucksmitteln“ oder symbolischen und technologischen Medien neue künstlerische Interessenslagen geschaffen. Dies betrifft insbesondere die Komplexität der digitalen Symbol- bzw. Turingmaschine als Medium der Medienintegration und als quasi anthropologisches Pendant zu individueller und sozialer Intelligenz. So werden die genannten Konzepte Bewegung, Intermedialität und Interaktivität ja schon protoästhetisch als technologische Dimensionen, als Eigenschaften der Apparatur selbst konzipiert, denen sich die Kunst nun zu stellen hat. Das heißt, dass diese Konzepte neben ihrer Ausdifferenzierung obendrein ästhetisch von einer höheren und auch weitreichenderen Beobachtungsebene mit der Differenz von Kunst und Künstlichkeit entwickelt und realisiert werden. Der Akteur als Teil des Kunstprojekts erhält dabei die Möglichkeit, mit neuen kulturellen Konstruktionen seiner selbst Erfahrungen zu machen (buchstäblich zu experimentieren), insbesondere mit seiner Konzeption als Informationsverarbeitungssystem in prekärer Analogie zu und Abhängigkeit von seinen elektronischen Prothesen.

Im ASA-Manifest von 1973 schreibt Niikuni in seiner letzten These: „Poesie muss sich unserer universalen Existenz im Weltraumzeitalter bewusst werden“ – die Poesie heute – als digitale Poesie – probiert zumindest, sich der Existenz in einem universalen Welt-Raum-Zeit-Gefüge aus Datenprozessen vielfältigster Formaten bewusst zu werden.



[1] Zit. nach: Kamimura, Hiroo 1986: Japanische und visuelle Poesie im internationalen Kontext. In: ders. (Hg.): Aktuelle visuelle und konkrete Poesie aus Japan. Siegen, S. 43-47,  hier: S. 46.

[2] Vgl. hierzu z.B. Block, Friedrich W. 1997: Auf hoher Seh in der Turingalaxis. Visuelle Poesie und Hypermedia. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Visuelle Poesie. Sonderband Text und Kritik IX/97, S. 185-202,  und ders. 1999: New Media Poetry. In: Schade, Sigrid & Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen zwischen Kunst und Medien. München, 198-208

[3] Vgl.: Kac, Eduardo (Hg.) 1996: New Media Poetry. Poetic Innovation and New Technologies. Visible Language 30.2.; Block, Friedrich W. (Hg.) 2000: p0es1s. Internationale digitale Poesie. Kassel (Katalog); Glazier, Loss Pequeño 2002: Digital Poetics. The Making of E-Poetries. Tuscaloosa.

[4] Vgl. z.B. die Aktivitäten des Electronic Poetry Centers an der University of Buffalo (http://epc.buffalo.edu), das mittlerweile zwei Festivals (2001, 2003) veranstaltet hat, die p0es1s-Plattform (www.p0es1s.net) mit Symposien und Ausstellungen seit dem Jahr 2000 oder auch das Online-Journal „dichtung digital“ (www.dichtung-digital.de, seit 1999).

[5] Bolter, J. David 1991: Writing space. The computer, hypertext, and the history of writing. Hillsday.

[6] „Über das Buch hinaus“: Allenfalls wäre die Nähe zu einem Daumenkino zu assoziieren, das, da mit einem Finger – Digitus – bewegt, ja auch eine gewisse begriffliche Verwandtschaft mit einem digitalen Objekt hat.

[7] Vgl. hierzu ausführlich: Block, Friedrich W. 2000: Diabolische Vermittlung. Zur Konzeption von Bewusstsein und Körperlichkeit in interaktiver Medienpoesie. In: Jahraus, Oliver / Ort, Nina (Hgg.): Beobachtung des Unbebachtbaren. Konzepte radikaler Theoriebildung in den Geisteswissenschaften. Weilerswist, S. 148-168.

[8] So hatte Dick Higgins Mitte der 60er Jahre das Programm ästhetischer Intermedialität eingeführt, vgl: Higgins, Dick: Horizons. The Poetic and Theory of the Intermedia. Carbondale, Edwardsville 1984.

[9] Hansen, Dana Friis 1992: Mission Invisible's Allegory of Art and Machine Vision. In: Artlab2. Tokyo (Katalog), o. S.

[10] Vgl. http://www.komo.to/life/index.html.

[11] Vgl. den Kommentar zur Arbeit „Rashomon“ (2002) unter http://www.komo.to/rashomon/index.html.

[12] Vgl. Arbeiten z.B. von Alan Sondheim, Ted Warnell oder Mary Anne Breeze (mez) und die Programmatik bei Sondheim, Alan 2001: Codework. In: American Book Review, Sep. / Oct. 2001, S. 1, 4.

[13] Vgl. http://www.exonemo.com/DISCODER/indexE.html.

[14] Heibach, Christiane 2003: Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt/M., S. 67. Vgl. hierzu auch Block, Friedrich W. 2001: Website: Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen. In: Simanowski, Roberto (Hg.): Digitale Literatur. Text und Kritik, Heft 152, X/01, S. 99-111.