Prof. Dr. Reinhard
Döhl lebt als Literatur- und Medienwissenschaftler und Künstler
in Botnang. Er wird der Stuttgarter Gruppe zugerechnet und ist sicher
jedem bekannt durch sein ‘Apfelgedicht’ als Beispiel der konkreten Poesie.
Döhl veröffentlichte vor allem zur Literatur und Kunst des 20.
Jahrhunderts und zur Mediengeschichte (Rundfunk) und jüngst auch
zur Netzliteratur, daneben literarische Veröffentlichungen und Ausstellungen.
Seit 1996 arbeitet er an Netzprojekten zusammen mit Johannes Auer (u.a.
H.H.H. – Hommage
à Helmut Heißenbüttel, Poemchess
und Pietistentango)
und Martina Kieninger ( TanGo-Projekt).
Eigene Projekte: das
buch gertrud, der
tod eines fauns, beides 1996; vorhang
für ernst jandl. ein feature, 2000.
Johannes Auer lebt und arbeitet
als Künstler in Stuttgart. Als Frieder
Rusmann war er Kopf der Stuttgarter Künstlergruppe Das deutsche
Handwerk. Verschiedene Off- und Online Projekte, u.a. Fabrikverkauf
[art-wear / walking exhibition] (Internet-Ausstellung, 1999), Für
den natürlichen Tod des Kunstwerks (2001); mit Reinhard Döhl
Als
Stuttgart Schule machte, mit Martina Kieninger TanGo
(dort Kill the
Poem und worm
applepie for doehl). Außerdem Das
Pferd am Handy (2000) sowie Texte zur Netzliteratur (u.a. Der
Leser als DJ oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet).
Im update Verlag Zürich erschien 2000 von Reinhard Döhl und
Johannes Auer die CD-Rom "Kill the Poem" ( www.dichtung-digital.de/buchtip/angaben/poem.htm).
Roberto Simanowski sprach mit beiden über ihre Projekte vor und in
dem Netz, über den " binären Idealismus" der
Textsourcefetischisten, über Zufallsdichtung, Begriffsroulett, kooperative
Autorschaft, den Anteil des Programmierers am Ruhm des Ideengebers und
die Ängste das Publikums vor den Experimenten der Künstler.
Stuttgarter Gruppe und Netzprojekte:
Interview mit Reinhard Döhl und Johannes Auer:
dd: Herr Döhl, Sie haben als Mitglied der Stuttgarter
Gruppe in den 60er Jahren an poetischen Experimenten teilgenommen, die
auf eine Verbindung von Literatur und Maschine zielten. Heute beteiligen
Sie sich an Projekten, die auf die Verbindung von Literatur und Internet
zielen. Lassen Sie uns mit den Experimenten der 60er Jahre beginnen, als
man in Stuttgart Guilleaume Apollinaires Forderung nach einer "unpersönlichen
Dichtung" folgte und in Zusammenarbeit mit Mathematikern gar eine ‚künstliche
Poesie’ projizierte. Worum ging es damals?
RD: Die Stuttgarter
Gruppe war eine im soziologischen Sinne offene (offen gehaltene) Gruppe.
Ich kann also nicht als Gruppensprecher, wohl aber aus meinem Verständnis
antworten. Nach unserer einzigen manifesten
Äußerung verstand sich die Stuttgarter Gruppe in einer
Tradition seit der Kunstrevolution, bemüht, die Grenzen zwischen
den einzelnen Kunstarten offen zu halten und das Produzieren von Kunst
mit dem Reden über Kunst zu verbinden. Dabei ging es uns (oder wenigstens
mir) zunächst um eine Verbindung von Tendenz und Experiment im Antagonismus
dessen, was Max Bense dann als "natürliche" und "künstliche
Poesie" unterschied, (in Umkehrung übrigens von Vorstellungen des
Novalis aus dem "Allgemeinen Brouillon"), was sich durch die Apollinairesche
Unterscheidung von "persönlicher" und "unpersönlicher Poesie"
ergänzte. Daß es dann seit 1959 in Stuttgart und bald auch
anderswo möglich wurde, mit Hilfe von Rechenmaschinen Texte auszugeben,
war uns neben unseren anderen Textexperimenten und nicht nur bei der Diskussion
des Autorbegriffs willkommen. Ich möchte das mit zwei Zitaten belegen:
"schließlich bin ich so etwas wie eine geschichte von etwas" versus
"ich bin eine maschine, die schreibt".
dd: Wenn die Experimente zur "künstlichen Poesie"
auf die literarische Produktion einer Maschine zielen, stellt sich freilich
die Frage, inwiefern auch die Rezeption an eine Maschine gebunden ist.
Quenaus berühmter Text Cent Mille Milliards de poèmes (1961)
ist Beispiel dafür, dass ein von einer virtuellen Maschine produzierter
Text nur noch von einer Maschine erschöpfend wahrgenommen werden
kann, denn kein Leser, auch nicht der Autor, kann all die Texte dieser
Sonettsammlung rezipieren. Der Sachverhalt verschärft sich, wenn
der Text völlig aus der Maschine stammt. Worin liegt der Reiz stochastischer
und aleatorischer Texte? Was macht man mit Texten, aus denen der Autor
und mit ihm der indiviudelle und gesellschaftliche Hintergrund ausgetrieben
wurde?
RD: Zunächst zu Raymond Queneaus Cent Mille Milliards
de poèmes, die uns bei Erscheinen in dem von Max Bense geleiteten
Arbeitskreis "Geistiges Frankreich"der damals noch Technischen Hochschule
Stuttgart heftig beschäftigt haben, ebenso wie ein Jahr später
Marc Saportas beliebig kombinierbarer Lose-Zettel-Roman "Composition no.
1". Im Falle Queneaus handelt es sich um 10 reimidentische Sonette, die
übereinandergelegt und nach jeder Zeile geschnitten in den möglichen
Kombinationen eine in der Tat individuell nicht mehr mögliche Leseleistung
verlangen. Das war einmal ein bei Queneau nicht verwunderlicher mathematischer
Spaß, verwies zum anderen (wenn Sie an das Nachwort von F. Le Lionnais
denken) auf eine "Littérature Combinatoire", die Ars Combinatoria
des Barock (hier mit ausdrücklicher Namensnennung von Harsdörffer).
Es gibt also eine Tradition stochastischer und aleatorischer Dichtung
und Kunst, sogar Wissenschaft (wenn Sie z.B. an die, allerdings wissenschaftssatirisch
gedachte, Maschine der Akademie von Lagedo in Gullivers Reisen
denken).
Und wie im Barock diese aleatorischen Spiele einen weltanschaulichen
(religiösen) Hintergrund hatten, kann ich die stochastische und aleatorische
Dichtung und Kunst seit den 60er Jahren durchaus als Spiegel eines Weltverständnisses
lesen bzw. sehen, das menschliches Denken und Wissen auf 0 und 1 zurückzuführen
versucht (das Gödelsche Unentscheidbarkeitstheorem einmal außen
vor gelassen). Wobei die Maschine ja im doppelten Sinne nicht nur zur
Hervorbringung von Text und Grafik genutzt wurde, sondern auch zur Analyse
eingesetzt werden kann, spielerisch und überzeugend z.B. in Georg
Perecs "La Machine", einem von Eugen Helmlé für den Funk über-
und umgesetzten Hörspiel, in dem ein Computer "Wanderers Nachtlied"untersucht
bis zu dem Befehl, es zu verbessern, den auszuführen der Computer
verweigert. Notabene: Georg Perec war Computerfachmann. Natürlich
hat "La Machine" noch einen Autor, der die Maschine vorführt. Und
bei Theo Lutz'
"Stochastischen Texten" von 1959, den unwesentlich späteren "Autopoemen"
Gerhard Stickels gäbe es sogar - wenn man so will - zwei Autoren,
nämlich denjenigen, der jeweils das Wörterbuch bereit stellt
(Kafka, Matthias Claudius etc.) und denjenigen, der die Syntax und Grammatik
programmiert und den erzeugten Text selektiert: den Mathematiker und Programmierer.
dd: Die philosophische Dimension der Ars Combinatoria
des Barock drückt sich vielleicht am prägnantesten im Apendix
zu Quirinus Kuhlmanns Gedicht "Wechsel menschlicher Sachen" von 1671:
"Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur disem
nach wird denken / muß di Menschen Weißheit fassen".Die Botschaft
entsprach dem Lebensgefühl des kopernikanisch belehrten Barock, das
mit dem Mittelpunktstatus im Sternensystem auch die Verbindlichkeit des
Kanonischen verlor und so die unmissverständliche Bestimmtheit der
klassischen Renaissanceform durch Ambivalenz, Dynamik und Spiel ersetzte.
Die kombinatorische Dichtung war ein logischer Bestandteil dieser Ästhetik.
Im digitalen 0-1-Paradigma verkürpert sich hingegen die Idee der
absoluten Bestimmbarkeit, die den unbenennbaren Rest des analogen Wahrnehmungs-
und Beschreibungsmodells endgültig tilgt. Wäre insofern die
aleatorische Dichtung des Computerzeitalters eher die Reaktion auf einen
Erfolg als auf die Erfahrung eines Verlusts, ein Spiel also, dem der ernste
Hintergrund fehlt? Oder versteckt sich in den Spielen des Digitalen die
Sehnsucht nach dem Analogen als dem verdrängten Alter Ego?
RD: Man kann, muß hier (im Übergang von der
Renaissance zum Barock) nicht nur an Quirinus Kuhlmann denken. Aber da
gäbe es im Grunde wohl keine Verständigungsschwierigkeiten.
Mir lag lediglich am Hinweis, daß man selbst bei extremen künstlerischen
Hervorbringungen in den "Quelltext" schauen sollte. Aktuell gerade auch
bei den digitalen Hervorbringungen, um die es in diesem Gespräch
wohl vor allem geht. Hier gibt es sicherlich auch keinen Dissenz darüber,
daß sich im "digitalen 0-1-Paradigma [...] die Idee der absoluten
Bestimmbarkeit" verkörpere. Und: daß sie nicht ausreiche. Vielleicht
habe ich mich hier unklar ausgedrückt. Alles was in der mathematischen
Logik seit Frege, Russel, seit Wittgenstein und anderen diskutiert wurde,
und was uns in den 60er Jahren sehr beschäftigte, interessierte uns
vor allem an den Grenzen, dort nämlich, wo mit Kurt Gödels "Über
formal unentscheidbare Sätze [...]" so etwas wie eine Meta-Matematik
ins Spiel kam, wo - ich glaube es war in Princeton - eine Maschine diskutiuert
wurde, die sich selbst bauen konnte, aber wegen der einprogrammierten
Random-Elemente schon in der zweiten Generation nicht mehr vorstellbar
war. Ich würde deshalb gerne das wahr-falsch-unentscheidbar unserer
damaligen Dikussionen für die Computer- und Netzkunst mit einem 0-1-x
ersetzen und wäre an einer Diskussion über dieses x mehr interessiert
als an der in meinen Augen unfruchtbaren Diskussion über Sinn und/oder
Uninn einer Hyperliteratur.
dd: Was wären die Parameter einer solchen Diskussion
über das x?
RD: Wenn ich bei "dichtung digital" 0 1
für "digital" setze, stuende x für "dichtung". Anders
gesagt, mich interessiert brennend, was einen Netztext zu Dichtung, ein
Netzbild zu Netzkunst macht, oder beides zusammenfassend: was die Kunst
der Netzkunst ist. Dies herauszufinden, bedarf es zunaechst
gewissenhafter Analysen der bisherigen Experimente und ihrer Ergebnisse,
um zunaechst einmal
so etwas wie die 'poetologischen' Grundlagen einer Netzkunst oder -dichtung,
wenn Ihnen das lieber ist, zu bestimmen. Danach koennte man weiter sehen.
dd: Der WDR sendete 1970 Ihren Radio-Essay "Sprache
und Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur
zu erstellen und rezipieren". Was waren Ihre Hauptthesen? Welche neueren
technische Möglichkeiten sehen Sie heute, im Zeitalter von Heimcomputer
und Internet?
RD: In diesem später von Helmut Heißenbüttel
für SDR übernommenen Radio-Essay ging es mir vor allem um die
These, daß jedes neue Medium Literatur verändert, wenn sich
ihre Hersteller auf die Bedingungen des Mediums einlassen. Und ich habe
dies u.a. an ausgewählten Hörspielen, Stuttgarter Tonband-Experimenten
und stochastischen (computergenerierten) Textbeispielen zu zeigen versucht.
Der Personal Computer hat heute den Weg vom Autor zum
Leser (Autor-Lektor-Drucker-Buch-Handel) wesentlich vereinfacht und verkürzt,
das Internet den User/Leser, wenn der Autor dies zuläßt, zur
nachträglichen Mittäterschaft eingeladen. Ein Roman entstand
zum Beispiel am Schreibtisch und im Context des in der Regel belesenen
Autors (Bücher entstehen aus Büchern), aber er entstand (mit
anderem Context) im Kopf des Lesers neu und anders. Das Internet bietet
dem User/Leser jetzt die Möglichkeit, seinen Roman zur weiteren Lektüre
ebenfalls bereitzustellen, der im Kopf des nächsten User/Lesers ...
undsoweiter, was den Text offen hält. Mit der Konsequenz, daß
Internet-Texte oft nicht abgeschlossen sondern lediglich Textzustände
sind.
dd: Das Phänomene der kollaborativen Autorschaft
ist sicher das Ereignis des Internet für die Literatur. Ein
anderes, an die digitalen Medien allgemein gebundenes Phänomen ist
die Möglichkeit, nun Texte durch Programmierung zeitlich zu inszenieren,
was ja auf dem Papier nicht geht. Aber bevor wir auf diese Aspekte näher
eingehen, eine Frage an Johannes Auer, der ebenfalls vor und außerhalb
des Internet künstlerisch tätig war. Welcherart waren deine
Projekte und wie kamst du dann zum Netz?
JA: Ich war seit Anfang der 90er mit Thomas Raschke und
Sebastian Rogler unter dem Label "DAS DEUTSCHE HANDWERK" aktiv. Gemäß
Punkt 9 unseres Manifests "DAS DEUTSCHE HANDWERK reflektiert als Ausstellungsmacher
die Situation der Ausstellungsmachenden und wird so selbst Opfer" erarbeiteten
wir aufwändige Installationen. Innerhalb derer, genauer als Teil
dieser, stellten wir unserer Produkte aus: Raschke=Plastik, Rogler=Malerei,
Rusmann=Malerei&Text. So entstanden gewaltige Handwerksschauen wie
beispielsweise "Kalter Krieg" in der Stuttgarter Galerie Rainer Wehr,
definiert als "Regression zur Klarheit" und "Krieg gegen den Betrachter",
oder "3 Farben – beige, zitron, hellblau" auf der Wilhelmshöhe in
Ettlingen, bei der Raum und Objekte in 3 aufeinanderfolgenden Ausstellungen
je neu farblich komplett umgearbeitet wurden. Oder 1998 die Installation
"DAS DEUTSCHE HANDWERK zeigt Männer, Mädchen und Maschinen"
im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, mit erklärtem Ziel,
endlich die Frage zu beantworten, warum männliche Tauben gurren.
Mit dem DEUTSCHEN HANDWERK begann auch mein künstlerischer
Einstieg ins Internet. Anfang 1996 erarbeitete ich unsere erste Homepage
mit dem einzigen Ziel, dass wir nach einem halben Jahr sagen konnten:
"DAS DEUTSCHE HANDWERK verläßt zum 6.6.96 das Internet". Wir
machten das mit schön gedrucktem Ankündigungskärtchen und
sicherlich als erste Künstlergruppe – zumindest in Stuttgart.
Ungefähr zur gleichen Zeit, ab Frühjahr 1996,
begann meine Zusammenarbeit mit Reinhard Döhl. Wir hatten uns 1994
auf einem Symposium zu Max Bense kennengelernt und waren seither in Kontakt.
Reinhard interessierte sich wie ich für das Medium Internet und da
mit meinen Handwerkskumpeln außer der "Hinaus"-Aktion wenig mehr
möglich schien, schlug ich Reinhard vor "mal was gemeinsam zu machen".
Und daraus ist eine bis heute sehr produktive und fruchtbare Zusammenarbeit
entstanden.
dd: Eins deiner Projekte, das off- und online arbeitet,
ist Fabrikverkauf. Hier verbindest
du E-Commerce mit Net-Community, um im ganz realen Raum Kunst daraus zu
machen. Hier ist der Kauf nicht End-, sonder Anfangspunkt des Kunstwerks,
und als Bezugspersonen wären Duchamp, Benjamin, Beuys aufzählen.
Kannst du uns die Namen und das Projekt kurz erklären?
JA: Im E-Shop von Fabrikverkauf kann man per Internet
T-Shirts bestellen, die mit von mir entworfenen Kunstmotiven bedruckt
sind. Die T-Shirts werden in kleiner, limitierter Serie produziert.Bei
der zu klärenden namentlichen Bezugsgruppe beziehst du dich wohl
auf meinen "Familienbanden"-Beitrag
für das letztjährige Symposium "Ästhetik
Digitaler Literatur" in Kassel. Um gegenüber dem dortigen geballten
universitären Sachverstand nicht unbegründet im bloßen
Hemd (resp. T-Shirt) dazustehen, habe ich tiefgehend genealogisch geschürft.
Insofern ist der Verkauf von seriell gefertigten Produkten als Kunstwerk
natürlich auf immer mit Andy Warhols Namen verbunden und Fabrikverkauf
eine namentliche Verbeugung vor Andys Factory. Aber auch ein Andy arbeitet
nicht voraussetzungslos und wieder einmal überragt alles der übermächtige
Schlagschatten vom Ready-maker Marcel.
Der künstlerische Hauptteil am Projekt ist die [walking
exhibition], bei der die T-Shirt Käufer auf der Website von Fabrikverkauf
mitteilen können, wann und wo sie das T-Shirt, die [art wear]
tragen. Damit entsteht einerseits eine individuell-kollektive Ausstellung
und andererseits eine soziale Plastik im Beuys’schen Sinne. Ganz beiläufig
wird so auch das Auraverlustproblem des reproduzierten Kunstwerks, das
Benjamin erkannt hat, gelöst, indem sich das T-Shirt Kunstwerk einfach
die Aura des T-Shirt Trägers borgt, der ja ganz im Sinne von Andys
"15 Minuten" in der [walking exhibition] zum Star mutiert. Nicht zuletzt
wird so Marshall McLuhan Erkenntnis "the medium is the massage" durch
die angenehme Reibung des T-Shirts auf der Haut sinnlich erfahrbar.
Kommerziell war und ist Fabrikverkauf übrigens
nach Internetmaßstäben ein großartiger Erfolg und während
allenthalben und andauernd die Börsenwerte von Internetfirmen am
Boden liegen und "start up" mittlerweile als "and quickly come down" buchstabiert
wird, schrieb Fabrikverkauf im Geschäftsjahr 1999 und 2000
eine dicke schwarze 0,0001 nach dem Komma. Man könnte sich fragen,
ob Fabrikverkauf nicht als erstes Kunstprojekt im Internet der
New Economy die Hand zur Versöhnung reichen, ins Consulting-Geschäft
einsteigen und E-Commerce Firmen beraten sollte beim Farbwechsel von rot
zu schwarz - schon immer ein künstlerisches Kerngeschäft...
.
dd: Also ist der Börsengang schon geplant? Aber
zurück von der Wirtschaft zu Kunst und Literatur. Während "Fabrikverkauf"
eine medienübergreifende Performance ist, basieren deine anderen
Netzprojekte ganz auf dem digitalen Medium. Ich denke an "Das
Pferd am Handy" oder "worm
applepie for doehl". Ersteres erzählt als tiefsinnige Parodie
auf den Hypertext eine Geschichte und kann leicht zur digitalen Literatur
gezählt werden, letzteres ist eher eine Installation, die Reinhard
Döhls berühmtes Beispiel der konkreten Poesie um die Möglichkeiten
des digitalen Mediums erweitert, wo der Wurm den Apfel schließlich
auffrisst, und zwar gleich mehrmals hintereinander. So wie manche Bibliothekare
die konkrete Poesie gern unter Kunst statt unter Literatur einordnen,
kann man sich bei diesem Beispiel einer kinetischen konkreten Poesie fragen,
ob es zu digitalen Literatur oder zu digitalen Kunst gehört. Ich
stelle die Frage auch im Hinblick auf die Gesamtentwicklung der digitalen
Literatur, die bei zunehmender Multimedialisierung immer weniger mit dem
Wort arbeitet und so vielleicht bald nicht mehr klar von der digitalen
Kunst abzugrenzen ist.
JA: Ich bevorzuge, wie du es gerade
dargelegt hast, die Grenzüberschreitung, bin also als Grenzer kaum
geeignet. Dennoch denke auch ich, dass die bildlichen Elemente, bewegt
oder statisch, bei der digitalen Literatur zunehmen, zunehmen müssen,
allein weil sich das Medium entwickelt. Allerdings waren und sind die
gelungenen Beispiele im Netz schon immer "bildlich" gewesen. Bildlich
als gestaltet oder inszeniert verstanden. Ich meine beispielsweise Olia
Lialinas "My boyfriend came
back from the war" oder Susanne Berkenhegers "Hilfe!".
Beide erzählen ihre Geschichte und inszenieren sie optisch mit den
Mitteln der Browsersoftware. Im übrigen finde ich diese Arbeiten
interessanter als beispielsweise das jüngste Jodi-Projekt "%WRONG
Browser" [http://www.wrongbrowser.com/], bei dem es einmal mehr um Dekonstruktion
und zum wiederholten Mal um das Bewußtmachen davon geht, dass hinter
dem Computerbild, das man zu sehen bekommt, überraschenderweise etwas
ganz anderes steht, nämlich die Programmierung, der Code.
Und hier, ich will es mal vorläufig als "binären
Idealismus" labeln, sehe ich aktuell die brisantere Diskussion. Es gibt
eine starke Fraktion bei der digitalen Kunst ebenso wie bei der digitalen
Literatur, die versucht, das optische Ergebnis auf dem Bildschirm als
nur sekundär abzutun. Ich nenne stellvertretend dafür Tilmann
Baumgärtel, der kittlert, dass die Hacker die eigentlichen Künstler
seien, und ich nenne Florian Cramer, der rundweg verlangt, dass Netzliteraten
mit der Programmiersprache selbst dichten sollen. Nicht dass ich das uninteressant
oder gar falsch fände, was mich ein wenig stört ist der fast
messianische Rigorismus, mit dem hier das "Eigentliche", der Programmcode,
gegen das angeblich bloße Surrogat und Abfallprodukt, das Bildschirmereignis,
in Frontstellung gebracht wird. Ich habe da ein ganz visuelles und kräftiges
Déjà-vu. Holen wir mal den guten, alten Plato aus dem analogen
Buchregal und schlagen im "Staat" das 10. Buch (zehn = eins/null !) auf.
Da lesen wir am Beispiel des Bettes, dass die Künstler nur ein Abbild
von einem Abbild produzieren. Während die Tischler immerhin noch
eine nutzbare Bettlade als Kopie der reinen Schlafstätten-Idee erschaffen,
malen die Künstler die vom Tischler verfertigte Reproduktion ab,
produzieren also nur die nutzlose Kopie einer Kopie, pinseln eine Wirklichkeit
3. Grades.
Ähnlich die Argumentation der "binären Idealisten"
beim Computer: gegeben ist die reine Idee, die 0 und die 1, der binäre
Code. Mit diesem Absoluten des Maschinencodes treten die (Kunst)Handwerker
des Computerzeitalters, die Programmierer in Kontakt. Alles weitere, nämlich
das, was wir auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, ist nur die Visualisierung
der Programmierung vom ausgeführten Maschinencode und daher, als
Abklatsch eines Abbildes, minderwertig und überflüssig wie das
ideenlose und verschlafene Kunstwerk in Platons idealem Staat.
dd: Eine interessante Analogie, die schon aus pragmatischen
Gründen meine Sympathie hat. Dem Dekonstruktivismus der von dir angesprochenen
Browserkunst mangelt das Eigenleben. Er geht so in seiner Aufgabe auf,
dass er in die Ästhetik der Agitationskunst zurückfällt
oder, mit Hegelscher Begrifflichkeit, in die der Allegorie. Hat man die
Message verstanden, hat sich das Werk auch schon erschöpft. Der Allegorie
mangelt das Eigenleben, das über die Enttarnung hinaus von Interesse
wäre, sie ist, wie Hegel formuliert, "frostig und kahl". Nichts gegen
die Botschaft und nichts gegen den Blick unter die Oberfläche des
Bildschirms, aber auch nichts dagegen, dass die Botschaft einen narrativen
Körper hat.
Du sprichst vom Bildlichen als Inszenierung, wie es
Susanne Berkenheger mit den JavaScripts in "Hilfe!" vorführt. Ein
Vorläufer der Inszenierung des Bildlichen ohne Bildeinsatz ist ja
die konkrete Poesie (in Absetzung eben von der visuellen Poesie) und ein
populäres Beipsiel dafür ist Reinhard Döhls ‘Apfelgedicht’.
Du hast in worm
applepie for doehl den Text, den Döhl in einer bestimmten Weise
im Raum anordnet, in einer bestimmten Weise in der Zeit angeordent und
dem Wurm gewissermaßen Leben eingehaucht. Welche Perspektiven siehst
du gerade in dieser spezifischen Dimension der Zeitlichkeit in den digitalen
Medien?
JA: Eine schwierige Frage, bei deren Beantwortung ich
mir in vielem noch im Unklaren bin. Vielleicht soviel: die Zeitlichkeit
bei digitaler Kunst ist nicht auf die Animation beschränkt. Auch
beispielsweise die Bewegungen, die ich bei der Erkundung einer Website
mit der Mouse ausführen muss, können eine zeitlich strukturierende
Bedeutung haben.
Bei der reinen Animation dagegen ist die Abgrenzung zum
Film problematisch. Das gilt schon für meinen "worm applepie", aber
noch vielmehr für Flash-"Filme" wie beispielsweise "The
Struggle Continues" von Young-Hae Chang, nebenbei eine Arbeit die
mir gut gefällt. Chang gelingt es u.a. durch den Bewegungsrhytmus
mit dem er die Wörter und Sätze, der Musik folgend, auf dem
Bildschirm anzeigen läßt, eine Emotionalisierung, d.h. die
Wortanimation ist nicht beliebig sondern entscheidend für das Textverständnis
(ganz anders wie bei den schlimmen Webseiten, wo zur Belebung ein paar
Wörter oder Kreise über den Screen gejagt werden). Dennoch fehlt
Changs Arbeit eine wichtige Dimension digitaler Kunst, nämlich die
Interaktion.
Insgesamt, glaube ich, wird Animation in der digitale
Kunst eine immer wichtigere Ausdrucksmöglichkeit werden. Und damit
wird sich das Problem der optischen Überinstrumentierung verschärfen.
Wenn ein Bild das andere jagt, bleibt leicht der Sinn auf der Strecke.
Ich denke in Zukunft sollte sich der Künstler am Computer immer öfter
fragen, warum dieses Bild, warum diese Sequenz. Denn eine wichtige Erkenntnis
haben wir dem schon einmal genannten Marcel Duchamp zu verdanken. Duchamp
hat immer das, wie er es nannte, "rein retinale", also das einzig dem
visuellen verpflichtete Kunstwerk abgelehnt und verlangt, dass das Bild
auf ein Konzept, eine Idee verweisen muss. Ich glaube diese Forderung
ist bei der digitalen Kunst aktueller denn je.
dd: Noch einmal zur Vorgeschichte und zur 1972er Wanderaustellung
der Staatsgalerie Stuttgart über "Grenzgebiete der bildenden Kunst",
in der es um poetische Mischformen ging wie "Konkrete Poesie", "Computerkunst"
und "Musikalische Graphik". Herr Döhl, wie sind diese Mischformen
konkret zu verstehen und wie werden sie im multimedialen Internet weitergeführt
bzw. um neue Mischformen ergänzt?
RD: Diese Ausstellung muß im Zusammenhang mit zwei
anderen, ebenfalls unter Stuttgarter Assistenz aufgebauten Ausstellungen
gesehen werden, der Zürcher Ausstellung "Text Buchstabe Bild" (1970)
und der Amsterdamer Wanderausstellung "Akustische Texte / ? Konkrete Poesie
/ Visuelle Texte" (1970/1971), die einerseits das Etikett "Konkrete Poesie"
bereits deutlich mit einem Fragezeichen versahen oder gar vermieden, andererseits
ihre Exponate schrittweise erweiterten von der Präsentation ausschließlich
visueller Erscheinungsformen des Textes über die Präsentation
visueller und akustischer Poesie zur Präsentation von "Bild Text
Text Bildern" (so der von mir verantwortete Ausstellungsteil) neben einer
"Computerkunst" (verantwortlich: Herbert W. Franke) und Exponaten, die
den "heutigen Zustand der Notenschrift" dokumentierten (verantwortlich:
Erhard Karkoschka).
Ging es im ersten Teil um die fließenden Grenzen
zwischen Literatur und bildender Kunst, konkret um Buchstabe-Bild, Schrift-Bild,
im dritten Teil um die fließenden Grenzen zwischen bildender Kunst
und Musik, konkret zwischen Partitur und Grafik, ging es beim Teil "Computerkunst"
/ computergenerierte Grafik um die doppelte Nutzungsmöglichkeit vom
programmgesteuerten Zeichenautomaten (sogenannten Plottern) als technische
Zeichengeräte und als Apparate zum spielerisch-experimentellen Hervorbringen
grafischer Gebilde, das "keinerlei manuelles Geschick erfordert und es
daher erlaubt, sich voll auf die formalen Inhalte zu konzentieren" (Franke).
Womit jetzt auch für das Zeichengerät geltend gemacht wurde,
was bereits für die Rechenmaschine galt: die Möglichkeit des
Autor/Künstlers nämlich, sich zwischen ihrer reproduktiven oder
produktiven Nutzung zu entscheiden, ein Alternative. die die Geschichte
nicht erst der elektronischen Medien begleitet.Dass sich das meiste der
in diesen Ausstellungen Gezeigte im Internet fortschreiben und -zeichnen
ließe, ist nicht nur einer der Ansatzpunkte unserer gemeinsamen
Arbeit, sondern inzwischen in Johannes Auers und meinen Internetexperimenten
hinreichend belegt.
dd: Die Frage einer "Literatur im Internet" beantworten
Sie mit der Unterscheidung in "Netztexte", "für das Netz geeignete
Texte" und "Texte im Netz". Was heisst das konkret?
RD: Am sympathischsten wäre mir wegen des sowohl
dem Netztext wie der Netzgrafik zugundeliegenden alphanumerischen Codes,
ein beides bündelnder Begriff wie Netzkunst. Für die Frage Netz
und Text habe ich unterschieden zwischen
- "Texten im Netz", bei denen das Netz und seine Schreibmaschine, der
Computer lediglich reproduktiv als Distributionsapparat genutzt werden,
- "für das Netz geeigneten Texten", also Texten, die sich zu den
Bedingungen des neuen Mediums aufbereiten lassen. In ihrem Fall ist
die Grenze zwischen Reproduktion und Produktion fließend, können
die Texte durch die mediale Umsetzung zu etwas ganz Neuem werden,
- sowie drittens "Netztexten", worunter ich Texte verstehe, die zu
den technischen Bedingungen von Computer und Netz - und damit meine
ich nicht nur copy paste and cut - entstehen.
Wenn ich für jedes ein Beispiel geben darf: als ich mich entschieden
hatte, mein bisheriges veröffentlichtes und unveröffentlichtes
literarisches Werk nicht mehr einem Verleger anzuvertrauen sondern auf einem
Rechner auf Abruf für jeden Interessierten bereit zu halten, habe ich
begonnen, Texte ins Netz zu stellen, wobei mir jetzt plötzlich eine
Aufgabe zufiel, die bisher Verleger und Verlagstypograf für mich gelöst
hatten: die Präsentation. Wenn ich bei der Permutation "der
tod eines fauns" nachträglich Computer und Netz nutze, geschieht
dies, weil mir beide zusammen eine Präsentation erlauben, die so in
Buchform nicht möglich wäre, weshalb ich hier von einem "für
das Netz geeigneten Text" sprechen würde. Im Falle des mit Johannes
Auer realisierten "Pietistentango"
gibt es zwar so etwas wie eine der Realisation vorausgehende Partitur in
Form von mail art, aber das Ergebnis ist in Buchform überhaupt nicht
mehr denkbar. Hier würde ich von einem "Netztext" sprechen, für
den die Spielregeln von Computer und Netz produktiv gemacht wurden und konstitutiv
waren. Daß dieser Text jetzt zusammen mit anderen auf einer CD-ROM
erschienen ist, spricht in meinem Verständnis genau so wenig dagegen,
das es sich hier um einen "Netztext", um "Netzkunst" handelt, wie ein auf
Bildträgern aufgezeichneter Film, ein auf Tonträgern aufgezeichnetes
Hörspiel.
dd: Gerade diese Analogien veranlassen mich allerdings
zu einem Widerspruch. Gewiss, ein Hörspiel bleibt Hörspiel,
egal ob es per Radio oder Tonträger vermittelt wird. Aber die Spezifizierung
im Bestimmungswort ist ja auch Hören und nicht Radio oder Kassette.
Bei Netzkunst wird auf das Netz als Spezifikum dieser Kunst verwiesen,
obwohl doch das Netz in vielen Fällen, wie ja auch beim "Pietistentango",
nur das Distributionsmedium ist und, wenn der Begriff ästhetische
Besonderheiten anzeigen soll, eigentlich nur Projekte Netzkunst heißen
dürften, die eben produktions- oder rezeptionsästhetisch auf
Vernetzung bzw. Mensch-zu-Mensch-Interaktivität aufbauen. Was den
Dachbegriff Kunst für Text wie Grafik betrifft: Fürchten Sie
nicht, dass der Begriff im Allgemeinverständnis eher an die bildende
Kunst denken lässt und Texte ausschließt?
RD: erstens heißt das Hörspiel (zu dem sich
neuerdings noch das Hörbuch gesellt) nur bei uns Hörspiel, im
angelsächsischen Sprachbereich findet sich stattdessen radiodrama,
neuerdings auch ear play. Auch der Begriff Radiokunst wäre mir vertraut.
Historisch fände sich, jetzt wieder im deutschen Sprachbereich bis
mindestens 1930 das Sendespiel, gab es bei Brecht und Benjamin und dann
in den endsechziger/siebziger Jahren erneut die Vorstellung der Höreraktivierung,
die Forderung, den Hörer produktiv werden zu lassen einschließlich
der zugehörigen Experimente. Das ist alles recht komplex und im Rahmen
eines Gesprächs kaum auszufalten.
Um bei dem von Ihnen angesprochenen Beispiel zu bleiben,
so ist der "Pietistentango" in seiner Konzeption zwischen Text und Bild
angelegt, hat also an beidem teil. Auch gehörte er als Beitrag oder
Baustein zum umfassenden TanGo-Projekt, das zumindest bei seiner Realisation
des Internets bedurfte. Drittens wäre es wahrscheinlich nicht allzu
schwer, ihm Zugänge für einen aktiven Leser einzuprogrammieren,
womit er sich dann auch mit anderen Schritten tanzen ließe, als
Johannes Auer und ich vorgegeben haben. Wobei uns die Erfahrung - etwa
bei unseren interaktiven Gedichtseiten-
gelehrt hat, daß es hier schnell zu Qualitätsprüngen,
in der Regel nach unten, kommt.
Ich würde dennoch gerne - bis mir was Gescheiteres
eingefallen ist - bei meiner Unterscheidung von Text im Netz, netzgeeignetem
Text und Netztext bleiben, und letzteren wie das Netzbild, die Netzgrafik
bei den nun schon historischen Grenzverwischungen zwischen Text und Bild
gerne provisorisch unter Netzkunst subsumieren oder vielleicht unter net-art.
Wir haben im Deutschen leider kein den Bedeutungsvalenzen des lateinischen
ars annähernd entsprechendes Wort.
dd. Johannes Auer gibt in seinen "7
Thesen zur Netzliteratur" ebenfalls eine Phänomenbeschreibung
und Begriffsklärung. Wie verhalten sich Hyperlink und Vernetzung
zur Netzliteratur?
JA: Der Hyperlink ist ein konstruktives Gestaltungsmittel
der Hyperfiction. Sicherlich, und immerhin das ist ja mittlerweile Konsens,
ist er nicht der Todesclick für den Autor. Zwar kann sich der Leser
in einem Hypertext seine Lektüreabfolge selbst zusammenstellen, das
macht aber nur solange Spaß, wie er den Eindruck hat, dass seine
Mouseaktion nicht beliebig und damit sinnlos ist. Hyperfiction braucht
also weiterhin den waidwund geclickten Autor, auch wenn sich dieser, Schutzes
halber, zum Regisseur getarnt hat. Beim Streit, ob digitale Literatur,
um zur Netzliteratur geadelt zu werden, nur im Computernetzwerk funktionieren
dürfe oder ob es auch legitime offline Varianten gibt, holt man sich
schnell eine blutige Nase. Ich habe mich einmal leichtfertig dazu geäußert
und so fulminante Entgegnungen geerntet, dass ich seither kleinlaut verwirrt
versuche, die Benennungen von Hyperfiction bis digitale Literatur demokratisch
gerecht nebeneinander zu verwenden. Demnächst werde ich auch deine
neue Begriffswahl "Interfiction" in mein Benennungsroulett aufnehmen.
Sollte ich jedoch gezwungen werden, ein Parisurteil zu sprechen, würde
ich am ehesten "Netzliteratur" äpfeln, in dem Sinne, wie sie Beat
Suter in dem Interview mit dichtung-digital [http://www.dichtung-digital.de/Interviews/Suter-20-Maerz-01/index1.htm]
definiert hat.
dd: Noch einmal zur Autorrolle. Herr Döhl, Sie
betonen in einem neueren Beitrag, dass alle elektronischen Medien – Film,
Funk, Fernsehen und Computer/Internet – dadurch gekennzeichnet sind, dass
der Autor beim Zustandekommen eines Textes der Mitwirkung bedarf: des
Regisseurs, Kameramanns, des Mannes am Mischpult, womit immer auch die
ursprüngliche Autorintention verfehlt werden kann. Im Hinblick auf
das Internet scheint sich diese Kollaboration durch die oft notwendige
Hilfe eines Daten- und Screendesigners zu wiederholen und zu verschärfen.
Mark Amerika bezeichnet die Wandlung der Autorschaft als Wandlung zu einem
"kollaborativen Netzwerk-Ereignis". Ist das Netz das Aus des ‘Einzelkämpfers’?
RD: Das Problem, daß ein Regisseur die Autorintention
völlig verfehlen kann, gilt auch für ein Theaterstück.
Ich würde heute meine Kölner Thesen noch etwas differenzieren
und sagen: die Autorintention kann erstens verfehlt werden, wenn der Autor
vom Medium, für das er schreibt, keine (technische) Ahnung hat, wobei
dann die Schuld eher beim Autor läge. Die Autorintention kann zweitens
verfehlt werden, wenn die Realisatoren den Text, von dem sie ja ausgehen
müssen, nicht verstehen. Legt der Autor bereits ein offen gehaltenes
Manuskript, eine offen gehaltene Partitur vor, gesteht er den Realisatoren
eine Art Co-Autorschaft zu. Schließlich kann sich der Autor aber
auch bzw. sollte er sich mit den Bedingungen des Mediums, das er wählt,
vertraut machen und an der Realisation beteiligt bleiben. Das ist bei
einem Teil meiner Hörspielproduktionen der Fall und für Autor
und Regisseur ein wechselseitiger Lernprozeß gewesen. Ich würde
deshalb vom Netzautor oder -künstler verlangen, daß er die
Grundlagen des Mediums, für das er tätig wird, wenigstens in
Ansätzen kennt, wenn er nicht sogar die Arbeitsteilung aufhebt und
zum Autor/Realisator wird, wie dies z.B. Paul Pörtner bei seinen
späten Hörspielen beispielhaft vorgeführt hat. Kann er
dies nicht, ist der Internetautor in der Tat auf die Hilfe eines Programmierers,
eines "Daten- und Screendesigners" angewiesen – bei dennoch erstrebenswerter
cooperativer Realisierung. Bei Johannes Auers und meinen gemeinsamen Netzexperimenten
und -arbeiten, die zu verschiedenen Anlässen an verschiedensten Orten
gemacht wurden, habe ich es stets als angenehm empfunden, daß sich
unsere jeweiligen, auch unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorstellungen
wechselseitig ergänzt und potenziert haben. Ich würde dies als
dialogisches Arbeiten bezeichnen und habe für eine cooperative Autorschaft
auch bereits mehrfach plädiert.
dd: Du, Johannes Auer, konzipierst, schreibst, programmierst
und designst deine Projekte selbst und bist so vielleicht ein Beispiel
für das neue Universal- und Originalgenie. In deinen "7 Thesen zur
Netzliteratur" stehst du dieser Spezies als Zukunftsmodell allerdings
skeptisch gegenüber und sagst eher Kooperationen zwischen Programmierern,
Schriftstellern und Künstlern voraus. Bei Arbeitsteilung stellt sich
natürlich auch immer die Frage, wieviel der eine vom Spezialgebiet
des anderen wissen muss und wem schließlich der Ruhm gebührt:
dem Ideengeber oder dem, der die Idee in den digitalen Code überträgt.
Anders und mit den Worten von vorhin gefragt: Inwieweit darf der Künstler
es sich leisten, sein Material nicht zu kennen? Inwiefern ist die Programmierleistung
als moderne "artes mechanicae" Bestandteil des Kunstwerks?
JA: Das altersschwache Universalgenie übergehe ich
gerngehört. – Bei mir ist die Programmierung zur Zeit "Mittel zum
Zweck" wie die Acrylfarbe zum Malen eines Bildes oder AjaxTM
zum Putzen der Fensterscheibe. Die Programmierleistung hilft mir ein Konzept
umzusetzen. Aber natürlich muss ich bei der Entwicklung eines Konzeptes
die Mittel und ihre Leistungsfähigkeit kennen und ins Kalkül
ziehen, muss wissen, wie gut mein Glasreiniger ist. Insofern sollte der
Digikünstler also zumindest die Möglichkeiten seines Materials
"Programmierung" kennen. Ob er dann alles selbst codet oder mit Programmieren
kooperiert, ist, denke ich, sekundär.
Ich glaube die Leistung des Programmierers ist vergleichbar
der des Kameramanns beim Film oder der des Bühnenbildners beim Theater.
Er nimmt unzweifelhaft gestalterischen Anteil am künstlerischen Produkt.
Dennoch hat weiterhin die Idee oder das Konzept der Produktion das Primat,
auch wenn die Beschäftigung mit digitalen Techniken auf die Ideenentwicklung
Einfluß nehmen mag.Glasklar anders ist es, wenn die Programmierung
selbst zum Kunstwerk wird, wie bei Perl-Gedichten oder wenn man wie Florian
Cramer die kooperative Entwicklung von Software als kollaborative Autorenprojekte
definiert.
dd: Die letzte Frage zielt auf Vergangenheit und Zukunft.
Die Konzeptionen und Präsentationen der künstlichen Poesie stießen
in den 60er und frühen 70er Jahren in der Öffentlichkeit auf
erregte Einsprüche, in denen sich auch Ängste um die Zukunft
der Literatur äußerten. Wie sehen Sie, Herr Döhl, vor
diesem Hintergrund – und als Literaturwissenschaftler, Künstler und
Leser in einer Person – die Zukunft der digitalen Literatur?
RD: Den bis ins Heftige gesteigerten Ausdruck solcher
Ängste habe ich auf der ersten Ausstellung von Computergrafk in Stuttgart
(1965) und einer Podiumsdiskussion über Computertexte in Düsseldorf
(1968) selbst erlebt. Hier muß man nach meinen Beobachtungen differenzieren
nach den Gründen der Ängste. Der traditionelle Autor/Künstler
hat möglicherweise Angst davor, daß ihm seine Felle davon schwimmen,
der traditionelle Leser hat Angst vor einem neuen Umgang mit Literatur,
den er (noch) nicht beherrscht, beide können Angst haben vor einer
Kunst/Literatur, deren Regeln und Entstehungsprozeß sie nicht durchschauen,
überprüfen können, und schließlich artikulierte sich
wiederholt auch eine Angst vor einer globalen Vernetzung und Kontrolle
(der Big Brother Orwells ließ grüßen). Wobei es für
mich mehr als kurios ist, daß sich derartige Ängste bei Fotografie
oder (laufender) Bildberichterstattung, bei denen ja nun nachweislich
häufiger manipuliert wurde bzw. werden kann, offensichtlich nicht
einstellen.
Für die Zukunft wird es, denke ich, wie bisher ein
Nebeneinander von literarischen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten
und -formen geben, unter denen die aktuelle Netzliteratur und -kunst gerade
erst bei einem Beginnen ist. Und um deren Zukunft ist mir aus meiner Kenntnis
der Geschichte der Medien durchaus nicht bange, solange sich ihre Vertreter
klar darüber sind, daß sich aus vielen kleinen Schritten und
einem immer neuem Ansetzen (wobei ich die Rede-darüber mit einschließe)
erst ein Ganzes ergeben wird, das mehr ist als die Summe seiner Ansätze.
dd: In diesem Sinne hoffe ich auf weitere Projekte
und Reden und danke für das Gespräch.
Das Interview führte Roberto Simanowski, dichtung-digital
im Juli 2001
<http://www.dichtung-digital.com/2001/07/14-Auer-Doehl/>
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